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Gewerkschaften und soziale Demokratie im 20. Jahrhundert : Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 11. Dezember 1995 / Klaus Schönhoven. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1995. - 31 S. = 69 Kb, Text . - (Gesprächskreis Geschichte ; 12). - ISBN 3-86077-462-X
Electronic ed.: Bonn: FES-Library, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT






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Vorbemerkung des Herausgebers

Am 26. Dezember 1920 ist Carl Legien, einer der bedeutendsten Führer der deutschen Gewerkschaftsbewegung, gestorben. Die Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich nicht erst seit Übernahme des Archivs und der Bibliothek des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Frühjahr 1995 den Gewerkschaften besonders verbunden fühlt, hat aus diesem Anlaß am 11. Dezember zu einer Vortragsveranstaltung eingeladen, um dieses großen Mannes zu gedenken und gleichzeitig einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Gewerkschaften zu bieten.

Carl Legien, schon zur Zeit des Sozialistengesetzes zur Sozialdemokratie und zur Drechslergewerkschaft gestoßen, erwies sich bald als großer Organisator und Stratege. Er wirkte 1890 mit am Beginn der gewerkschaftlichen Zentralisierung in Form der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands und wurde deren langjähriger Vorsitzender, schließlich, nach dem Ersten Weltkrieg, auch erster Vorsitzender der organisatorisch strafferen Nachfolgeorganisation, des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes der Weimarer Zeit. Außerdem war er seit 1913 Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Über 30 Jahre lang gab er, wie Franz Osterroth formulierte, mit seiner Politik ein "Beispiel selbstlosen Wirkens für Freiheit und soziale Gerechtigkeit".

Der 75. Todestag Carl Legiens sollte uns Anlaß sein, einmal nachzudenken über die Ursachen der großen Erfolge der deutschen Gewerkschaften in diesem Jahrhundert, aber auch über die Ursachen ihrer Schwächen. Er sollte uns insbesondere fragen lassen, warum die deutschen Gewerkschaften - wie andere Großorganisationen - es heute so schwer haben, die Menschen anzusprechen und dauerhaft einzubinden, warum ihr Solidaritätsgedanke und die Idee der gerade von Legien als so notwendig erachteten Zentralisierung der Arbeiter- oder Arbeitnehmerinteressen zunehmend weniger attraktiv erscheinen.

Prof. Dr. Klaus Schönhoven, der Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim lehrt, hat diese historischen und politischen Probleme in überzeugender Weise miteinander verknüpft und zu einer intensiven Diskussion angeregt. Seinen Vortrag legen wir hiermit in erweiterter Form gedruckt vor, um ihn einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Es liegt auf der Hand, daß sich mit dem Wandel der gesellschaftlichen und technologischen Voraussetzungen gewerkschaftlicher Arbeit auch die Gewerkschaften ändern müssen, um den Anforderungen der Gegenwart und Zukunft gerecht zu werden. Daß Gewerkschaften als Vertreter der arbeitenden Menschen aber unverzichtbar bleiben, solange es Interessengegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt, dürfte schwer zu bestreiten sein.

Bonn, im Dezember 1995
Dr. Dieter Dowe
Leiter des Historischen Forschungszentrums

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Klaus Schönhoven:
Gewerkschaften und soziale Demokratie im 20. Jahrhundert


Neun Jahre nach dem Tod von Carl Legien - er war am 26. Dezember 1920 nur wenige Wochen nach seinem 59. Geburtstag gestorben - erschien ein Gedenkbuch, das Theodor Leipart, Legiens Nachfolger an der Spitze des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, verfaßt hatte. Der erste Satz dieses Buches lautet: "Männer, die so wie Carl Legien ihr ganzes Leben hindurch im Dienste des Volkes gestanden, haben einen wohlbegründeten Anspruch darauf, daß sie nicht nach der letzten Rede an ihrem Grabe vergessen werden." [ Theodor Leipart, Carl Legien. Ein Gedenkbuch, Berlin 1929, S. 7.] Mit diesem Satz leitete Leipart, der mit Legien seit dessen erstem Auftritt in einer Versammlung des Fachvereins für Drechsler 1886 in Hamburg mehr als drei Jahrzehnte lang eng befreundet gewesen war, seine sehr persönlichen Erinnerungen an den ersten Vorsitzenden der Freien Gewerkschaften ein. Eine wissenschaftliche Biographie Legiens, unter dessen Führung die deutschen Gewerkschaften zu einer Millionenbewegung wurden, ist seitdem nicht erschienen. Legien teilt damit das Schicksal der meisten prominenten Gewerkschaftsführer, deren persönlicher Werdegang und deren professionelle Leistungen nur selten biographisch gewürdigt werden. Ob das damit zusammenhängt, daß die Gewerkschaften - im Unterschied zur politischen Arbeiterbewegung - "keine Visionäre hervorgebracht" haben [ So Ulrich Borsdorf in seiner Studie über Hans Böckler, die am Beispiel eines Spit zenfunktionärs den Werdegang einer ganzen Generation von Gewerkschaftsführern sichtbar macht: Hans Böckler. Arbeit und Leben eines Gewerkschafters von 1875 bis 1945, Köln 1982, S. 23. Vgl. auch ders., Deutsche Gewerkschaftsführer - biografi sche Muster, in: Ulrich Borsdorf/Hans O. Hemmer/Gerhard Leminsky/Heinz Mark mann, Gewerkschaftliche Politik: Reform aus Solidarität. Zum 60. Geburtstag von Heinz O.Vetter, Köln 1977, S. 11-41.] , sei dahingestellt. Legien jedenfalls war kein farbloser Funktionär, der vollständig im Dienste an der Organisation aufging und seine Individualität im gewerkschaftlichen Kollektiv verbarg. Der von einem Zeitgenossen als "weißhaariger Feuerkopf" [ So Siegfried Aufhäuser, der von 1920 bis 1933 Vorsitzender der Arbeitsgemein schaft freier Angestelltenverbände war, zitiert nach: Gerhard Beier, Schulter an Schulter. Schritt für Schritt. Lebensläufe deutscher Gewerkschafter, Köln 1983, S. 122.] treffend charakterisierte Drechsler besaß nicht nur ein ausgeprägtes persönliches Profil, das Leipart in seinem Gedenkbuch übrigens ziemlich unretuschiert nachzeichnete, sondern er war auch ein Mann mit eigenen emanzipatorischen Leitvorstellungen für die Arbeiterbewegung. [ Vgl. als erste Studien zu diesem Thema John Anthony Moses, Carl Legiens Inter pretation des demokratischen Sozialismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Ideenge schichte, Phil. Diss. Erlangen-Nürnberg 1965; ders., Gewerkschaftliche Kultur- und Klassenkampfaufgabe bei Carl Legien, in: Imanuel Geiss/Bernd Jürgen Wendt (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 185-204.]

Da die Gewerkschaftsbewegung im Kaiserreich keine identitätsstiftenden Grundsatzdokumente verabschiedete, die sich in ihrem universalistischen Anspruch mit der Programmatik der politischen Arbeiterbewegung auf eine Stufe stellen lassen, wird oft etwas zu vorschnell behauptet, die Gewerkschaftsführer seien ausschließlich praxisorientierte Akteure gewesen, deren Hauptinteresse der organisatorischen Tagesarbeit in den Verbänden gegolten habe. Konzeptionelles Denken über die unmittelbare Gegenwart hinaus sei nicht ihre Sache gewesen. Dies hätten sie den Parteiintellektuellen überlassen und sich selbst völlig auf die vielfältigen alltäglichen Probleme bei der kollektiven Interessenvertretung auf dem Arbeitsmarkt konzentriert. Doch diese Aufteilung der in der Arbeiterbewegung vorhandenen Ressourcen auf programmatische Vordenker, die in der Parteipublizistik und in den Parteitagsdebatten die strategischen Weichen stellten, und auf an Theoriefragen desinteressierte Gewerkschaftsfunktionäre, die als bekennende "Praktizisten" über prinzipielle Probleme nicht nachdachten, wird weder dem komplizierten Wechselverhältnis von Theorie und Praxis noch der tatsächlichen Verzahnung von gewerkschaftlichen und politischen Emanzipationsbestrebungen gerecht. [ Paul Umbreit rühmte Legien in seinem Nachruf als einen "Alleskönner", der als "Redner großen Stils", als "Massenagitator" und "Organisator", als "Taktiker" und als "Schriftsteller" hervorgetreten sei. Er sei ein "Universalmensch" gewesen. Korre spondenzblatt des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, 31. Jg. 1921, Nr.1 vom 1.1.1921, S. 1-4, Zitate S. 2.]

Zwar ist unbestritten, daß Legien und seine Kollegen sich nicht in erster Linie als Theoretiker der Arbeiterbewegung einen Namen machten, denn sie orientierten sich an den konkreten Handlungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Gegebenheiten, waren weniger auf die Wahrheit der Weltanschauung als auf die Realität der Arbeits- und Lebenswelt fixiert. Doch ihre alltäglichen Erfahrungen wurden von ihnen immer wieder reflektiert und in Partizipationsforderungen artikuliert, die sich durchaus zu einer gesellschaftlichen und politischen Konzeption zusammenfügen lassen: Man kann die Gewerkschaften als die Wegbereiter der sozialen Demokratie in Deutschland bezeichnen, wenn man die historische Beweisführung auf ihren erfolgreich praktizierten Reformismus und ihre durchaus zielorientierten Strategien als solidarische Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft gründet und nicht nach programmatischen Glaubensbekenntnissen und gesellschaftlichen Zukunftsentwürfen sucht.

Fragt man nach den Prinzipien, die Denken und Handeln der deutschen Gewerkschaftsbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert prägten, so ist zunächst daran zu erinnern, daß sich während der Umbruchphase zur modernen Industriegesellschaft die gewerkschaftliche Interessenfindung in unterschiedlichen Organisationssystemen mit voneinander abweichenden weltanschaulichen Orientierungen vollzog. Zwar waren die der Sozialdemokratie nahestehenden und unter dem Dach der Freien Gewerkschaften vereinten Verbände nach Mitgliederzahl, beruflicher Ausdifferenzierung und regionaler Reichweite den Christlichen Gewerkschaften und den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen weit überlegen [ Vgl. dazu Klaus Schönhoven, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwick lung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Stutt gart 1980; Michael Schneider, Die Christlichen Gewerkschaften 1894-1933, Bonn 1982; Hans-Georg Fleck, Sozialliberalismus und Gewerkschaftsbewegung. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine 1868-1914, Köln 1994.] , doch diese organisatorische Dominanz der sozialdemokratischen Richtung ist noch kein hinreichender Grund, die theoretischen Konzepte der beiden anderen Dachverbände völlig zu ignorieren. Vielmehr muß man aus programmatischer Perspektive die spezifischen Beiträge des Sozialkatholizismus und Sozialliberalismus ebenso berücksichtigen wie auch diejenigen des sozialen Protestantismus, dessen gewerkschaftsformende Kraft allerdings nur sehr schwach entwickelt war. [ Vgl. neuerdings die Einzelbeiträge in Frank von Auer/Franz Segbers (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung. Kaiserreich, Weimarer Republik, Bun desrepublik Deutschland, Köln 1994.]

Gemeinsames Kennzeichen aller drei Richtungsgewerkschaften war ihr Funktionsverständnis als Arbeitsmarktpartei. Sie handelten seit ihrer Gründung als solidarische Zusammenschlüsse von abhängig Beschäftigten, deren Einkommenssituation sie verbessern, deren Arbeitsbedingungen sie menschenwürdiger gestalten und deren Lebensverhältnisse sie sicherer machen wollten. Als richtungsgewerkschaftliche Ausprägungen einer nicht nur beruflich, sondern auch weltanschaulich und politisch segmentierten Arbeiterschaft orientierten sich die drei Dachverbände zwar nicht an deckungsgleichen Emanzipationszielen - marxistisch gesprochen reichte deren Bandbreite von der "Hebung der Klassenlage" bis zur "Aufhebung der Klassengesellschaft" -, doch jenseits dieser unterschiedlichen ideologischen Zukunftsperspektiven dominierte das gemeinsame Selbstverständnis, daß Gewerkschaften die soziale Schutzmacht der abhängig arbeitenden Erwerbsbevölkerung waren. In der sozialistischen, liberalen und christlichen Gewerkschaftstheorie findet sich neben dem Postulat der genossenschaftlichen Selbsthilfe in gewerkschaftlichen Berufs- und Industrieverbänden aber immer auch die Vorstellung, in einem viel umfassenderen Sinn für soziale Gerechtigkeit und für gesellschaftliche Gleichberechtigung zu kämpfen. Man agierte als kollektive Interessenorganisation auf dem Arbeitsmarkt und setzte sich für eine Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen und des Arbeitsverhältnisses durch Tarifverträge, Schlichtungsordnungen und andere konfliktregulierende Rechtsformen ein. Zugleich verstand man sich jedoch auch als eine Emanzipationsbewegung, deren Blick über die unmittelbaren sozial- und wirtschaftspolitischen Tagesaufgaben hinausreichte und auf grundsätzliche Probleme des staatlichen Zusammenleben und der gesellschaftlichen Ordnung gerichtet war.

Schon im Wilhelminischen Kaiserreich entwickelten die Gewerkschaften ein eigenes Staatsverständnis. Sie stellten sich als soziale Reformbewegung auf den Boden der bestehenden Monarchie und erteilten einer revolutionären Systemüberwindung eine klare Absage. Diese für die christlichen und liberalen Organisationen geradezu selbstverständliche Feststellung gilt auch für die der SPD nahestehenden Freien Gewerkschaften, in deren Reihen man wenig mit der marxistischen Krisen- und Zusammenbruchstheorie anfangen konnte und für einen evolutionären Wandel von Obrigkeitsstaat und Privatkapitalismus eintrat. Noch vor der Jahrhundertwende formulierte Legien seine vom Erfurter Programm der Sozialdemokratie abweichende Position, als er die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung als "einen eminent staatserhaltenden Faktor" bezeichnete, sich klar vom "sogenannten Kladderadatsch" distanzierte und zugleich mit Nachdruck zu einem "ruhigen Gang der Entwickelung der Gesellschaft zu einer höheren Organisation" bekannte. [ So auf dem Kongreß der Freien Gewerkschaften in Frankfurt am Main; s. Protokoll der Ver handlungen des dritten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Frankfurt a.M.-Bockenheim vom 8. bis 13. Mai 1899, Hamburg o.J., Nachdruck Berlin/Bonn 1979, S. 103.] Diese höhere Organisation entstand in seiner Sicht durch die Verzahnung von politischer und wirtschaftlicher Demokratie. Auch wenn man Legiens antirevolutionäre Akzentuierung der Gewerkschaftsstrategie als zeitbedingtes Zugeständnis deuten kann - 1899 stand die sogenannte "Zuchthausvorlage" und damit eine neue Verfolgung der Gewerkschaften zur Diskussion -, dominierte dennoch bei ihm bereits ein Staatsverständnis, das während der Weimarer Republik zur gewerkschaftlichen Richtschnur werden sollte: Er sah den Staat als klassenneutralen Mittler zwischen Kapital und Arbeit mit der Verpflichtung zum sozialen Interessenausgleich. [ In einem Vortrag betonte Legien, "daß dem Staat die Verpflichtung zufällt, auf ge setzgeberischem Wege in die Arbeitsverhältnisse einzugreifen, die Arbeiterschaft durch eine ausreichende Schutzgesetzgebung vor übermäßiger Ausbeutung zu be wahren, das von den Gewerkschaften Erkämpfte gesetzlich festzulegen und so einer weiteren Verbesserung der Arbeitsverhältnisse den Weg zu ebnen". Zitiert nach: Carl Legien, Die deutsche Gewerkschaftsbewegung. Vortrag gehalten zu Berlin am 17. Mai 1900, Berlin 1901, S. 9. Zum Staatsverständnis der Gewerkschaften s. auch Detlev Brunner, Bürokratie und Politik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschafts bundes 1918/19 bis 1933, Köln 1992, S. 226 ff.]

Legiens Konzeption ging von einer Strategie der kleinen Schritte aus, die im monarchischen Obrigkeitsstaat wirksam werden sollte und letztlich dessen politische und gesellschaftliche Verfassung grundlegend verändern wollte. In diesem an kontinuierlichen Entwicklungsprozessen und nicht an abrupten Entwicklungsbrüchen orientierten Denken, das den Antagonismus zwischen sozialrevolutionärer Theorie und systemimmanenter Alltagsarbeit zu überbrücken suchte, kann man durchaus einen eigenständigen gewerkschaftlichen Beitrag zu den strategischen Grundsatzkontroversen der politischen Arbeiterbewegung sehen. Das Transformationskonzept der Gewerkschaften war im Wilhelminischen Kaiserreich realpolitisch auf die bestehende Staats- und Wirtschaftsordnung hin ausgerichtet, deren polizeistaatliche und klassengesellschaftliche Eigenschaften man scharf kritisierte und in einer von sozialer Gerechtigkeit und politischer Gleichheit getragenen Gesellschaftsverfassung überwinden wollte.

Bis zu diesem Punkt reichte übrigens schon vor 1918 der einheitsgewerkschaftliche Konsens der verschiedenen Gewerkschaftsrichtungen, die gemeinsam für eine gewaltfreie Bewältigung von Klassenspannungen in Staat und Gesellschaft eintraten und miteinander das Grundvertrauen in die Möglichkeit einer reformerischen Entschärfung von Sozialkonflikten teilten. Uneinig war man sich allerdings über die politischen und ökonomischen Systemmerkmale der anzustrebenden Gesellschaftsordnung. Während für die Freien Gewerkschaften die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus eine historische Notwendigkeit war, gingen die christlichen und liberalen Richtungsverbände von der Fortexistenz der Privatwirtschaft aus, in der Kapital und Arbeit allerdings partnerschaftlich zusammenwirken und ihre Interessendifferenzen rational ausgleichen sollten. Die christliche Gemeinschaftsidee war zudem an keine konkrete Staatsform gebunden. Noch in der Weimarer Republik blieb für viele christliche Gewerkschafter das "soziale Volkskaisertum" das von ihnen präferierte Verfassungsideal. [ Vgl. Schneider, Christliche Gewerkschaften (Anm.6), S. 497 ff.]

Der Prozeß der gewerkschaftlichen Identitätsfindung, in dessen Verlauf sich alle drei Richtungsgewerkschaften von der ideologischen Bevormundung durch parteipolitische oder kirchliche Strömungen befreiten und ihr Rollenverständnis als autonomer Typus von Arbeiterbewegung ausprägten, war am Vorabend des Ersten Weltkrieges bereits abgeschlossen. Während der Kriegsjahre verfestigte sich dann die eigenständige Position der Gewerkschaften und gewann ihr programmatisches Profil scharfe Konturen. Die Integration in den nationalen Staat, die enge Zusammenarbeit mit den Militärbehörden an der "Heimatfront" und das Streben nach koalitionsrechtlicher Ebenbürtigkeit mit den Arbeitgebern gehörten nun zum gemeinsamen Zielkatalog des Kriegskartells der Richtungsgewerkschaften. Der Staat honorierte ihr nationales Engagement als entschiedene Befürworter des Burgfriedens und als Ordnungsmacht in der Kriegswirtschaft mit der Anerkennung des Rechtscharakters der Gewerkschaftsverbände. Zugleich entstand noch im Krieg nach der Verabschiedung des Hilfsdienstgesetzes im Dezember 1916 das institutionelle Fundament für eine Kooperation von Kapital und Arbeit auf Betriebs- und Branchenebene. Sie wurde dann in den Wochen des Zusammenbruchs im Herbst 1918 unter der Regie von Carl Legien und Hugo Stinnes zur Zentralarbeitsgemeinschaft ausgebaut. [ Zu der hier nur stichwortartig thematisierten Kriegspolitik der Gewerkschaften s. ausführlich Hans-Joachim Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbei terbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, 2 Bde., Ham burg 1981; Klaus Schönhoven (Bearb.), Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolu tion 1914-1919, Köln 1985.] Am Beginn und am Ende des Ersten Weltkrieges fielen somit zwei Entscheidungen, die Marksteine für den weiteren gewerkschaftlichen Weg setzten: Die nationale Integration der deutschen Gewerkschaften im August 1914 und ihre sozialpartnerschaftliche Orientierung im November 1918 schufen neue Ausgangspunkte für die gewerkschaftliche Politik des Pragmatismus.

Die Revolution von 1918/19 und ihre Folgen stellten für die Gewerkschaften "nicht nur eine praktische, sondern auch eine theoretische Herausforderung" dar. [ So Heinrich Potthoff, Das Sozialismusproblem in der Programmatik der Freien Gewerkschaften, in: Horst Heimann/Thomas Meyer (Hg.), Reformsozialismus und So zialdemokratie. Zur Theoriediskussion des Demokratischen Sozialismus in der Weima rer Republik, Berlin/Bonn 1981, S. 317-335, Zitat S. 330; vgl. auch ders., Freie Ge werkschaften 1918-1933. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund in der Wei marer Republik, Düsseldorf 1987.] Denn in den Monaten der Republikgründung kamen die im Krieg unterdrückten innergewerkschaftlichen Spannungen massiv zum Vorschein; zugleich mußten auch die prinzipiellen Probleme gewerkschaftlicher Politik in der Demokratie geklärt werden. Diese Reflexion über die Rolle, die Strategien und die Ziele der Gewerkschaften mündete im Sommer 1919 bei der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung in der Verabschiedung von programmatischen Richtlinien, die man als erstes gewerkschaftliches Grundsatzprogramm charakterisieren kann. [ Die "Richtlinien über die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften" waren im April 1919 von einer Vorständekonferenz der Freien Gewerkschaften nach langer und kontroverser Diskussion als Beschlußvorlage für den zehnten Gewerkschaftskongreß verabschiedet worden; vgl. Schönhoven, Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolu tion (Anm.11), S. 706 ff. Zur vom Nürnberger Gewerkschaftskongreß verabschiede ten Fassung s. Protokoll der Verhandlungen des zehnten Kongresses der Gewerk schaften Deutschlands. Abgehalten zu Nürnberg vom 30. Juni bis 5. Juli 1919, Berlin o.J., Nachdruck Berlin/Bonn 1980, S. 57-62.]

Mit diesem Programm wurde ein gewerkschaftspolitisches Transformationskonzept entworfen, das einerseits den Betriebsrätegedanken aufgriff und damit tradierte zentralistische Organisationsprinzipien der Freien Gewerkschaften modifizierte und andererseits mit der Forderung nach "demokratischer Mitverwaltung der Arbeitnehmer" auf allen Ebenen der Volkswirtschaft ein neues Etappenziel auf dem Weg zur nach wie vor angestrebten sozialistischen Zukunftsgesellschaft definierte. Die politisch-parlamentarische Neuordnung des Staates wollte man ergänzen, erweitern und auch absichern durch die "Betriebsdemokratie" sowie durch Arbeitsgemeinschaften von Kapital und Arbeit, "in denen alle Fragen des Wirtschaftslebens und der Sozialpolitik in gleichberechtigter Vertretung von Unternehmern und Arbeitern gelöst werden sollen." [ Protokoll Nürnberg (Anm. 13), S. 58.] Die nachdrückliche Betonung des Zusammenhanges von parlamentarischer und industrieller Demokratie war eine innovative Leistung der Freien Gewerkschaften, mit der versucht wurde, eine begehbare Brücke von der bürgerlichen Republik zum sozialistischen Zukunftsstaat zu bauen. Man benannte Formen und Methoden eines gemeinwirtschaftlichen Systems, das man in den Reihen der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung unmittelbar nach der Revolution von 1918/19 noch als eine Zwischenetappe bei der Verwirklichung des demokratischen Sozialismus ansah.

Zugleich entstand im Frühjahr 1919 unter dem Eindruck der radikalen Aufstandsbewegungen in den Freien Gewerkschaften ein Sozialismusverständnis, das sich deutlich von kommunistischen Vorstellungen abgrenzte und die sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in ein pluralistisches Gesellschaftsbild einfügte, in dem keine Partei immer recht hatte. Auch in einem sozialistischen Staat war nach Auffassung der Gewerkschaftsprogrammatiker das Spannungsverhältnis zwischen individuellem Egoismus und solidarischem Kollektivverhalten noch genauso vorhanden wie im Kapitalismus. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel sah man nämlich noch keineswegs als ausreichende Garantie für eine am Volkswohl orientierte Politik an. Der sozialistische Zukunftsstaat sollte, wie das Grundsatzreferat zum Gewerkschaftsprogramm betonte, zu keinem "Zuchthausstaat" werden, in dem sich die Arbeiter widerspruchslos unterzuordnen hätten. [ So Paul Umbreit in seinem Grundsatzreferat zur Sozialisierungsproble matik auf dem Nürnberger Gewerkschaftskongreß; Protokoll Nürnberg (Anm. 13), S. 550.] Deshalb sollte auch in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung die unabhängige Existenz von Gewerkschaften garantiert sowie das Streikrecht der Lohnabhängigen gesichert bleiben. Dieses Festhalten an der gewerkschaftlichen Autonomie auch im Zeitalter des Sozialismus und die Hervorhebung des Prinzips, daß der Sozialismus "nur durch die Demokratie" und nicht "durch die sogenannte Diktatur des Proletariats" verwirklicht werden könne [ Dies hob Umbreit ebenfalls hervor, s. Protokoll Nürnberg (Anm. 13), S. 536. Ähn lich äußerte sich auch Theodor Leipart, der in Nürnberg feststellte: "Der ruhige und stille Kampf der Gewerkschaften, die zähe und geschlossene Durchsetzung unserer gewerkschaftlicher Forderungen und Ziele, das ist die richtige, die fruchtbare revolu tionäre Sozialistentätigkeit". Nach seiner Ansicht war das Streikrecht "im Zeitalter des Sozialismus" unentbehrlich. Ebd., S. 432 f.] , waren zwei zentrale Aussagen in der gewerkschaftlichen Grundsatzdiskussion von 1919. Sie wurden von der großen Mehrheit der Delegierten des Nürnberger Gewerkschaftskongresses mitgetragen und können durchaus als ein originärer Beitrag zur sozialdemokratischen Theorieentwicklung am Beginn der Zwischenkriegszeit bezeichnet werden.

In der Gründungsphase der Weimarer Republik kam es trotz der nach wie vor bestehenden weltanschaulichen Kluft zwischen Sozialismus, Sozialkatholizismus und Sozialliberalismus auch zu einer deutlichen Annäherung der drei Richtungsgewerkschaften. Diese war in den zwischengewerkschaftlichen Kriegskoalitionen bereits angebahnt worden und fand nun in der praktischen Interessenvertretung und Betriebsrätearbeit ihre Fortsetzung. Hatte 1918/19 zunächst das antirevolutionäre Selbstverständnis aller Gewerkschaftsrichtungen den engeren Schulterschluß erleichtert, so erzwangen ab 1920 die gegen Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung gerichteten Attacken des wiedererstarkten Arbeitgeberlagers eine gemeinsame Gegenwehr und kontinuierliche Zusammenarbeit über richtungsgewerkschaftliche Zäune hinweg. Die Weimarer Koalition der Gewerkschaften war stabiler gefügt als diejenige ihrer Partnerparteien, ohne daß deswegen zwischen ihnen eine "Seelengemeinschaft" entstand, wie das Jahrbuch der Christlichen Gewerkschaften 1923 treffend bemerkte [ Zitiert nach Michael Schneider, Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1918 bis 1933, in: Klaus Tenfelde/Klaus Schönhoven/Michael Schneider/Detlev J.K. Peukert, Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945, Köln 1987, S. 279-446, Zitat S. 375; s. ausführlich zu den welt anschaulichen Positionen der christlichen Richtung auch ders., Christliche Gewerk schaften (Anm. 6), S. 543 ff.] . Doch die Ansätze zum einheitsgewerkschaftlichen Handeln waren unübersehbar, zumal die Orientierung am Prinzip der praktischen Sozialreform eine Grundkonstante der gewerkschaftlichen Politik in der Weimarer Republik blieb.

Der von allen Gewerkschaftsrichtungen angestrebte Sozialstaatskompromiß mit den Unternehmern erwies sich in der nachrevolutionären Normalität allerdings als brüchig. Aus der im November 1918 gegründeten Zentralarbeitsgemeinschaft entwickelte sich kein dauerhaft funktionierendes Vermittlungssystem, um Konflikte zwischen Kapital und Arbeit zu kanalisieren. Vielmehr gingen die großindustriellen Meinungsführer des Arbeitgeberlagers nach dem Abebben des sozialistischen Veränderungsdruckes und nach dem Wiedererstarken der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung dazu über, die Belastbarkeit der Beziehungen zu den Gewerkschaften einem Härtetest zu unterziehen. Man attackierte den Achtstundentag, mit dem man sich im November 1918 hatte abfinden müssen, und man distanzierte sich vom Modell einer sozialpartnerschaftlichen Parität zwischen Kapital und Arbeit, auf das namentlich die Reformer in den drei Richtungsgewerkschaften ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten. [ Vgl. dazu das Referat von Adolf Cohen auf dem Kongreß der Freien Gewerkschaf ten im Juni 1919, der die Gründung der Zentralarbeitsge meinschaft mit der Verwirkli chung der Parität von Kapital und Arbeit rechtfertigte. Diese sei die "conditio sine qua non" für die Gewerkschaf ten. Protokoll Nürnberg (Anm. 13), S. 453 ff., Zitat S. 464.] Die als antirevolutionäres Zweckbündnis gegründete Zentralarbeitsgemeinschaft wurde somit zu einem folgenreichen Fehlschlag, weil die Gewerkschaften die situationsbedingte Kompromißbereitschaft der Unternehmer in den Tagen des Staatsumsturzes falsch interpretiert hatten. Eine auf Dauer institutionalisierte Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit stand vor allem für die Schwerindustriellen an Rhein und Ruhr nicht mehr zur Debatte, nachdem die revolutionäre Unruhe abgeflaut und die Gefahr der Sozialisierung gebannt war. Ihr Kompaß war nun auf die Restauration der Vorkriegsverhältnisse und nicht auf einen korporativen Schulterschluß mit den Gewerkschaften ausgerichtet. [ Zur Geschichte der ZAG, die Anfang 1924 endgültig scheiterte, s. die von Gerald D. Feld man und Irmgard Steinisch verfaßte Studie: Industrie und Gewerkschaften 1918-1924. Die über forderte Zentralarbeitsgemeinschaft, Stuttgart 1985.] Damit scheiterte ein Projekt, auf das Gewerkschaftsführer wie Legien oder Leipart im Herbst 1918 große Hoffnungen gesetzt hatten: das Projekt der autonomen und bilateralen Regelung der Arbeitsmarktbeziehungen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer ohne direkte Staatsintervention.

Der Niedergang der Gewerkschaftsmacht offenbarte sich in aller Deutlichkeit erstmals nach dem Kapp-Putsch im März 1920. An seinem Ende stand ein Pyrrhussieg der Gewerkschaften über die antirepublikanische Reaktion, gegen die man sich mit einem Generalstreik erfolgreich zur Wehr gesetzt hatte. Doch der Rechtsputsch provozierte eine neue Welle des Arbeiterradikalismus von links und mündete in einem regionalen Bürgerkrieg im Ruhrgebiet, dessen blutige Niederwerfung die Spaltung der Arbeiterbewegung noch mehr vertiefte. [ Vgl. dazu ausführlich Klaus Schönhoven, Reformismus und Radikalis mus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989, S. 9 ff.; Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabili sierung. Arbei ter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 1984, S. 295 ff.] Gleichzeitig distanzierten sich die Unternehmer, wie ihr Schlagwort vom "Gewerkschaftsstaat" verdeutlichte, vom prorepublikanischen Massenstreik der Gewerkschaften und von der von diesen verteidigten Weimarer Demokratie, während die im Ruhraufstand zur Kapitulation gezwungenen Arbeiter aus Enttäuschung über ihre nichterfüllten Forderungen zum Massenexodus aus den Gewerkschaften schritten. In der Folgezeit blieben die Gewerkschaften zwar auch weiterhin Hauptstützen der Republik, doch sie warfen sich nie mehr mit ihrer ganzen Kraft in die Bresche, um die Demokratie zu verteidigen. Die Angst vor einer wechselseitigen Eskalation des antirepublikanischen Radikalismus von rechts und links lähmte fortan den kämpferischen Elan der Gewerkschaften, deren entschlossenes Einschreiten gegen den reaktionären und gegen den proletarischen Putschismus ihnen im Frühjahr 1920 letztlich einen Platz zwischen allen Stühlen eingebracht hatte.

Nach dem Kapp-Putsch fehlte den Beziehungen von Kapital und Arbeit "das Fundament eines elementaren politischen Konsenses" [ So Feldman/Steinisch (Anm. 18), S. 55.] , ohne den die Zentralarbeitsgemeinschaft weder institutionell noch programmatisch überleben konnte. Das Scheitern dieses bilateralen Bündnisses bahnte sich schließlich in der Inflationskrise an, als die Arbeitgeber mit Massenaussperrungen untermauerten, daß für sie die Phase der Kooperation endgültig beendet war. Auch die während der Ruhrbesetzung von 1923 gebildete nationale Widerstandsfront von Gewerkschaften, Unternehmern und Staat [ Vgl. dazu grundlegend Michael Ruck, Die Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf, Köln 1986.] bedeutete keine Rückkehr zum Burgfrieden zwischen Kapital und Arbeit. Die Hoffnungen der Führungsgremien der Richtungsgewerkschaften, für ihren demonstrativen Patriotismus mit sozialpolitischen Gegenleistungen entlohnt zu werden, wurden nämlich bitter enttäuscht.

Auf dem Höhepunkt der Währungskatastrophe im Herbst 1923 mußten die finanziell und organisatorisch am Rande des Ruins stehenden Gewerkschaften die Hilfe des Staates in Anspruch nehmen, um die völlige Demontage des Achtstundentages abzuwehren. Diese Staatsintervention verhinderte den totalen Sieg der Unternehmer über ihre Tarifkontrahenten, beschnitt aber zugleich die Autonomie der beiden Arbeitsmarktparteien als soziale und ökonomische Regulierungsinstanzen sehr drastisch. An der Jahreswende 1923/24 war die Zentralarbeitsgemeinschaft als bilaterales sozialpartnerschaftliches Experiment und als unabhängiges Interessenkartell von Kapital und Gewerkschaften gescheitert; der Staat kehrte als dritter korporativer Akteur in die Arena der Arbeitsmarktpolitik zurück.

Die in der Phase der relativen Stabilisierung der Republik ab 1924 unternommenen staatlichen Anstrengungen, durch wirtschafts- und sozialpolitische Lenkungsmaßnahmen einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu bewerkstelligen, wurden von den drei Gewerkschaftsrichtungen mitgetragen, auch wenn sie nicht jeder Einzelentscheidung bei der Suche nach einem gesamtgesellschaftlichen Lastenausgleich zustimmten. Ihre volle Unterstützung fand allerdings das 1927 verabschiedete Gesetz zur Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenvermittlung [ Vgl. dazu zuletzt Peter Lewek, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversi cherung in der Weimarer Republik 1918-1927, Stuttgart 1992; Karl Führer, Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Ar beitslosenversicherung in Deutschland 1902-1927, Berlin 1990.] , bei dessen Ausarbeitung die politischen Querverbindungen der Gewerkschaften eine Annäherung des regierenden Bürgerblocks und der sozialdemokratischen Opposition möglich gemacht hatten. Mit diesem Gesetz wurde bekanntlich ein weiterer entscheidender Reformschritt bei der Verwirklichung des modernen Sozialstaates getan, der ohne die parteienübergreifende Brückenfunktion der drei Richtungsgewerkschaften kaum realisierbar gewesen wäre. Knapp drei Jahre später entlud sich dann allerdings die politische Sprengkraft, die in diesem Gesetz wegen der ungelösten Finanzierungsprobleme steckte, als im Frühjahr 1930 die Große Koalition an der Haushaltssanierung scheiterte und eine außerparlamentarische Fronde die immer weiter um sich greifende Wirtschaftskrise für einen politischen Systemwandel instrumentalisierte.

Vor diesem Durchbruchserfolg der reaktionären Republikgegner hatten die sozialdemokratischen Gewerkschaften mit dem Programm der Wirtschaftsdemokratie nochmals ihre politischen und ökonomischen Transformationsvorstellungen theoretisch gebündelt. Konzeptionell knüpfte das 1928 vom Hamburger Gewerkschaftskongreß verabschiedete Programm [ Vgl. Protokoll der Verhandlungen des 13. Kongresses der Gewerkschaf ten Deutschlands (3. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerk schaftsbundes). Ab gehalten in Hamburg vom 3. bis 7. September 1928, Berlin 1928, S. 20 ff., 170 ff., 206 ff.; ausführlicher dazu Potthoff, All gemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund (Anm. 12), S. 178 ff.; Klaus Schönhoven, Die Vision der Wirtschaftsdemokratie. Pro grammatische Perspektiven der Freien Gewerkschaften in der Weima rer Republik, in: Hermann Weber (Hg.), Gewerkschaftsbewegung und Mitbestimmung in Ge schichte und Gegenwart, Düsseldorf 1989, S. 33-53.] an staatssozialistische Überlegungen aus der Kriegs- und revolutionären Umbruchszeit an, organisationspolitisch wollte es der mutlos gewordenen Gewerkschaftsbewegung neuen Auftrieb geben, strategisch skizzierte es eine graduell zu erreichende Gesellschaftsverfassung, bei deren Verwirklichung der private Konkurrenzkapitalismus durch gesellschaftliche Kontrolle und gewerkschaftliche Mitbestimmung in eine wirtschaftsdemokratische Ordnung überführt werden sollte. Auch wenn nicht alle Strukturmerkmale des Programms auf eine fundamentale Demokratisierung der Wirtschaft hinzielten - die Betriebsebene blieb weitgehend ausgeklammert und die Transformation der Gesellschaft sollte etatistisch gesteuert werden - , formulierte es doch eine Alternative zum existierenden privatkapitalistischen System. Es war ein Konzept, das die reformerische Gegenwartsarbeit der Gewerkschaften mit ihren sozialistischen Zielvorstellungen verknüpfte und zugleich den Weg dahin als einen Prozeß charakterisierte, in dessen Verlauf die unternehmerische Verfügungsgewalt über Produktion und Investition schrittweise vergesellschaftet werden sollte. Am Ende der zwanziger Jahre stellte das vom ADGB entwickelte und verabschiedete Konzept der Wirtschaftsdemokratie fraglos "das modernste europäische Gewerkschaftsprogramm" dar [ So Hans Mommsen, Klassenkampf oder Mitbestimmung. Zum Problem der Kon trolle wirt schaftlicher Macht in der Weimarer Republik, Köln 1978, S. 25.] , denn es vermittelte den Gewerkschaften eine richtungweisende Zukunftsorientierung, die über die Nahziele der täglichen Gewerkschaftspolitik hinauswies. [ Schon auf dem Gewerkschaftskongreß von 1925 forderte der Vorsitzende des Holzarbeiterver bandes, Fritz Tarnow, ein zukunftsweisendes Pro gramm, das über die die alltägliche Routinear beit hinauswies: "Wir brauchen in der Gewerkschaftsbewe gung nicht eine Sonne am Firmament, sondern ein Ziel, das auf Erden zu verwirkli chen ist, dessen Verwirkli chung wir uns immer mehr nähern, so daß jeder sehen kann: Es kommt einmal die Zeit, wo es anders wird, wir schreiten immer vorwärts dem Ziel entgegen." Zitiert nach Protokoll der Verhandlungen des 12. Kongres ses der Gewerkschaften Deutschlands (2. Bundestag des ADGB), abgehalten in Breslau vom 31. August bis 4. September 1925, Berlin 1925, S. 231.]

Versuche zur Realisierung dieses Programms konnten in der Weimarer Republik bekanntlich nicht mehr unternommen werden, weil die Rettung der gefährdeten Demokratie und die Verteidigung des erschütterten Sozialstaates ab 1930 alle Energien der Gewerkschaften banden. Ihr Aktionsradius wurde unter dem Druck von Massenarbeitslosigkeit und Lohnabbau immer kleiner. Nach der autoritären Wende hin zu antiparlamentarischen Präsidialkabinetten fehlte es auch an staatlichem Rückhalt für die nun völlig in die Defensive geratenen Arbeitnehmerorganisationen, die den konzertierten Angriffen von Kapital und Notverordnungspolitik auf Tarifverträge und Sozialgesetze jetzt mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert waren. Für wirtschaftsdemokratischen Zukunftsoptimismus gab es in der Phase der sich immer dramatischer zuspitzenden Staatskrise keinen Raum mehr, zumal sich zu Beginn der dreißiger Jahre das Problem der Systemüberwindung nicht in einer sozialistischen, sondern in einer reaktionären Konstellation stellte.

Zieht man am Ende der Weimarer Republik eine Zwischenbilanz, um die gewerkschaftlichen Beiträge zur konzeptionellen Ausdifferenzierung der Inhalte von sozialer Demokratie zusammenzufassen, so wird man folgende Aspekte hervorheben müssen: Die Gewerkschaftstheoretiker haben das abstrakte Sozialismuspostulat der politischen Arbeiterbewegung präzisiert und in eine evolutionäre Strategie integriert, die Methoden einer Demokratisierung der Wirtschaft beschrieb und konkrete Vorschläge für die Umformung des Kapitalismus mit den Mitteln der Mitbestimmung machte. Man ging nicht mehr davon aus, daß die Privatwirtschaft aufgrund ihrer anarchischen Produktionsstruktur naturnotwendig zusammenbrechen werde, sondern suchte nach Mitteln der Planung und Lenkung, um einen gleitenden Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu ermöglichen. Darüber hinaus verdeutlichten die Gewerkschaftsvertreter, warum ihr Ziel Wirtschaftsdemokratie und nicht Diktatur des Proletariats hieß. Sie orientierten sich nämlich an einem Menschenbild, das Egoismus und Individualismus ebenso als Antriebskräfte des persönlichen Handelns einkalkulierte wie Solidarität und Idealismus. Ob eine Gesellschaft der Gleichheit und Gerechtigkeit überhaupt erreichbar sei, beantworteten die gewerkschaftlichen Programmatiker nicht endgültig. Sie waren skeptisch genug, um den sozialistischen Zukunftsstaat nicht als paradiesischen Endzustand zu beschreiben, und sie waren pragmatisch genug, sich nicht auf einen revolutionären Sprung, sondern auf einen langen Marsch vom Kapitalismus zum Sozialismus vorzubereiten.

Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kann man als die zweite formative Phase der deutschen Gewerkschaften bezeichnen: Aus den Richtungsgewerkschaften, die sich organisatorisch und programmatisch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten, entstand nun eine weltanschaulich pluralistische und parteipolitisch unabhängige Einheitsgewerkschaft. [ Damit war übrigens ein Postulat von Carl Legien verwirklicht, der schon unmittel bar nach der Jahrhundertwende gefordert hatte, "daß von den der Gewerkschaft Bei tretenden ein politisches und religiöses Glaubensbe kenntnis nicht verlangt und auf die Mitglieder kein Druck ausgeübt wird, einer bestimmten politischen oder religiösen Anschauung sich anzu schließen"; zitiert nach: Carl Legien, Die Stellung der Gewerk schaften zur sozialpolitischen Gesetzgebung, in: Sozialisti sche Monats hefte 7, 1903, S. 319-326, S. 323 f. Vgl dazu Ulrich Borsdorf/Hans Otto Hem mer/Martin Martiny (Hg.), Grundlagen der Einheitsgewerkschaft. Historische Doku mente und Materialien, Köln/Frankfurt 1977.] In der erfolgreichen Überwindung der richtungsgewerkschaftlichen Zersplitterung spiegelten sich die Lektionen der Zwischenkriegszeit wider, vor allem die bittere Erfahrung der kollektiven Ohnmacht und kampflosen Kapitulation aller Flügel der Arbeiterbewegung vor dem Nationalsozialismus im Frühjahr 1933. Hinzu kam das einheitsstiftende Vermächtnis der im Widerstand gegen das braune Terror-Regime umgekommenen christlichen, liberalen und sozialistischen Gewerkschafter. Zugleich war die Entscheidung für die Einheitsgewerkschaft eine Option für die Zukunft, denn den Gründern des Deutschen Gewerkschaftsbundes stand klar vor Augen, daß nur durch die organisatorische Bündelung der eigenen Kräfte eine gewerkschaftlich gesicherte Machtposition der Erwerbstätigen gegen den national wie international verflochtenen Privatkapitalismus aufgebaut werden konnte. [ Zur Gewerkschaftsgeschichte nach 1945 liegen mehrere Überblicksdar stellungen vor, auf die im folgenden immer wieder zurückgegriffen wird: Klaus Schönhoven, Die deutschen Gewerk schaften, Frankfurt am Main 1987, S. 197 ff.; Michael Schneider, Kleine Geschichte der Gewerk schaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den An fängen bis heute, Bonn 1989, S.236 ff.; Hans-Otto Hemmer/Kurt Thomas Schmitz (Hg.), Geschichte der Gewerkschaften in der Bundes republik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990.]

Weniger erfolgreich als bei ihrer organisatorischen Wiedergründung waren die Gewerkschaften bei der Verwirklichung ihrer programmatischen Vorstellungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ihre Grundsätze zur Neugestaltung der Wirtschaft, die an die wirtschaftsdemokratischen Konzepte der zwanziger Jahre anknüpften und weitgehende Mitbestimmung der Arbeitnehmer in allen personellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen der Wirtschaftsführung und Wirtschaftsgestaltung, eine volkswirtschaftliche Rahmenplanung und die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum forderten [ Vgl. dazu die vom Münchener Gründungskongreß des DGB verabschie deten "Wirtschaftspolitischen Grundsätze", in: Protokoll des Grün dungskongresses des Deutschen Ge werkschaftsbundes, München, 12.-14. Oktober 1949, Köln 1950, S.318-330.] , waren zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung im Herbst 1949 schon gewerkschaftliche Wunschvorstellungen, über die die Nachkriegsentwicklung politisch und ökonomisch bereits hinweggegangen war. Zwar hatte unmittelbar nach Kriegsende in der Bevölkerung eine sozialistische Grundstimmung vorgeherrscht, als bis in die Reihen der neugegründeten christdemokratischen Sammlungspartei hinein die Auffassung vertreten wurde, mit dem Ende des Nationalsozialismus sei auch das Ende des Kapitalismus gekommen. Doch der beginnende kalte Krieg, die politischen und wirtschaftlichen Interventionen der amerikanischen Besatzungsmacht zur Restabilisierung des Privatkapitalismus und schließlich die Wiederbelebung der Marktwirtschaft durch die Währungsreform in den Westzonen ließen die gewerkschaftlichen Neuordnungspläne zu Makulatur werden. Planwirtschaft und Sozialisierung galten nach dem Aufbrechen des Ost-West-Konflikts zudem in den Augen vieler Westdeutscher als die typischen Steuerungsinstrumente des Sowjetkommunismus, während man für sich selbst in der engen Verbindung von amerikanischer Marshallplan-Hilfe und wirtschaftlichem Wiederaufbau unter privatkapitalistischen Vorzeichen einen Ausweg aus der Not- und Mangellage der Nachkriegsjahre geöffnet sah. [ Ausführlicher dazu: Lutz Niethammer, Entscheidung für den Westen. Die Gewerk schaften im Nachkriegsdeutschland, in: Heinz Oskar Vetter (Hg.), Aus der Geschichte lernen - die Zukunft gestalten. Dreißig Jahre DGB, Köln 1980, S. 224-234; ders., Re konstruktion und Desintegration. Zum Verständnis der deutschen Arbeiterbewegung zwischen Krieg und Kaltem Krieg, in: Hein rich August Winkler (Hg.), Politische Wei chenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945-1953, Göttingen 1979, S. 26-43; s. auch den ausführlichen Beitrag von Horst Lademacher und Walter Mühlhausen in dem von ihnen gemeinsam mit Hermann J. Langeveld und Gjalt R. Zondergeld verfaß ten Sammelband: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die belgischen, niederländi schen und westzonalen Gewerkschaften in der Phase des Wiederaufbaus 1945-1951, Münster 1994, S. 431-550.]

Festzuhalten bleibt, daß sich die Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Rahmenbedingungen der westalliierten Rekonstruktionspolitik erstaunlich schnell organisatorisch konsolidierten und ihre angestammten Tätigkeitsfelder als Tarifpartei wieder besetzten. Ihre weitergesteckten ordnungspolitischen Ziele, die über die klassischen gewerkschaftlichen Schutz- und Fürsorgefunktionen hinausreichten und Gestaltungsaufgaben in einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft thematisierten [ Die Gewerkschaften wollten, wie ihr Münchener Gründungskongreß be tonte, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Werk tätigen wahrnehmen und selbst zu einem "der stärksten Grundpfeiler einer lebendigen deutschen Demo kratie werden", vgl. Protokoll Gründungs kongreß (Anm. 29), S. 318 ff.; s.auch Ger hard Beier, Volksstaat und So zialstaat. Der Gründungskongreß des DGB in München 1949 und Hans Böcklers Beitrag zur Stellung der Gewerk schaften in Gesellschaft und Staat, in: Heinz Oskar Vetter (Hg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbe stimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 359-397.] , waren angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse und der bereits vorgenommenen ökonomischen Weichenstellungen in der jungen Bundesrepublik jedoch nicht zu verwirklichen. Lediglich die mit Hilfe der britischen Regierung unter Besatzungsrecht an Rhein und Ruhr institutionalisierte Montanmitbestimmung konnte zu Beginn der fünfziger Jahre erfolgreich verteidigt werden. Ohne den Basisdruck der Bergbau- und Metallgewerkschaften und ohne das Verhandlungsgeschick des DGB-Vorsitzenden Böckler, dessen Autorität als Arbeiterführer selbst Adenauer beeindruckte, wäre auch diese wirtschaftsdemokratische Bastion geschleift worden, die fortan aus gewerkschaftlicher Sicht ein in anderen Branchen nachahmenswertes und im Montanbereich weiter auszubauendes Modell der demokratischen Machtkontrolle in der Marktwirtschaft darstellte. [ Vgl. dazu Horst Thum, Mitbestimmung in der Montanindustrie. Der My thos vom Sieg der Gewerkschaften, Stuttgart 1982.] Allerdings wußte man auch, daß Mitbestimmung kein Allheilmittel war, sondern durch tarif- und sozialpolitische Maßnahmen ergänzt werden mußte.

Nach dem Scheitern der Gewerkschaften im Kampf gegen das Betriebsverfassungsgesetz, das im Sommer 1952 trotz massiver Proteste des DGB vom Bundestag verabschiedet wurde, und nach dem Wahlsieg der Adenauer-Regierung im Herbst 1953 war an eine schnelle Verwirklichung der gewerkschaftlichen Neuordnungskonzepte überhaupt nicht mehr zu denken. Auch wenn eine Preisgabe der gemeinwirtschaftlichen Ideale innergewerkschaftlich nicht zur Diskussion stand, mußte man jetzt doch unabhängig von der Orientierung auf langfristige Strukturreformen auch über Mittel und Wege einer aktiven Interessenvertretung im System der Marktwirtschaft nachdenken. Die Dynamik der westdeutschen Wirtschaftsentwicklung ließ neue Prioritäten in den Vordergrund treten, wobei es neben der Durchsetzung von handfesten materiellen Forderungen bei Lohn, Arbeitszeit und Urlaub auch darum ging, die im Grundgesetz garantierte Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Realität werden zu lassen. Ihre hier konkret angepeilten Ziele formulierten die Gewerkschaften in Aktionsprogrammen, die von 1955 bis heute vier Neuauflagen erlebten und als "eine neue Generation von Programmatik" [ So Helga Grebing, Gewerkschaften: Bewegung oder Dienstlei stungsorganisation 1955 bis 1965, in: Hemmer/Schmitz (Anm. 28), S. 151-182, Zitat S. 182. Das Akti onsprogramm von 1955 forderte die Ein führung der 40-Stunden-Woche, 1965 stand die Urlaubs- und Ren tenregelung im Mittelpunkt, 1972 ging es um den Rationalisierungs schutz und die Erweiterung der Mitbestimmung, 1979 wurden das Ver bot der Aussperrung und die Einführung der 35-Stunden-Woche ver langt, 1988 wurden Probleme des qualitativen Wirtschaftswachstums und der Chan cengleichheit beleuchtet. Generell zur gewerkschaftli chen Programmge schichte nach 1945 s. Hans Otto Hemmer, Stationen gewerkschaftlicher Programmatik. Zu den Grundsatzpro grammen des DGB und ihrer Vor geschichte, in: Erich Matthias/Klaus Schönhoven (Hg.), Solidarität und Menschenwürde. Etappen der deutschen Ge werkschaftsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 1984, S.349-367; Helga Grebing, Zur Kontinuität programmatischer Debatten in den Gewerkschaf ten, in: Heinz-Werner Meyer (Hg.), Auf brüche-Anstöße. Beiträge zur Reformdiskus sion im Deutschen Gewerk schaftsbund und seinen Ge werkschaften, Köln 1994, S. 71-87.] charakterisiert wurden. Sie verzichteten auf die visionäre Beschwörung einer besseren Gesellschaft jenseits des Kapitalismus und forderten für die Arbeitnehmer die Teilnahme an der Wachstumsdynamik der Marktwirtschaft ein. Mit ihrer produktivitätsorientierten Lohnpolitik und mit ihren auf eine stärkere sozialstaatliche Absicherung der Arbeitnehmer ausgerichteten Verhandlungsstrategien präsentierten sich die Gewerkschaften während der wirtschaftlichen Prosperitätsphase in den fünfziger und sechziger Jahren als eine marktwirtschaftlich agierende Verkaufsagentur, die den günstigsten Preis für die Ware Arbeitskraft einlösen wollte.

Die Akzentverlagerung der gewerkschaftlichen Programmatik hin zu erreichbaren Nahzielen läßt sich auch im Düsseldorfer Grundsatzprogramm von 1963 nachweisen, das darauf verzichtete, eine grundlegende Umgestaltung der existierenden Wirtschaftsordnung zu fordern. Man verlangte Systemkorrekturen und votierte für eine Zähmung und nicht für die Zerschlagung des Kapitalismus. Diese Betonung eines durchaus traditionsreichen gewerkschaftlichen Reformismus, der die bestehende Privatwirtschaft sozial gestalten wollte, korrespondierte mit dem Godesberger Programm der Sozialdemokratie, dessen ökonomische Ordnungsvorstellungen den Vorrang von Wettbewerb vor Planung hervorhoben und im stetigen Wirtschaftsaufschwung den Motor des allgemeinen Wohlstands sahen. Als wissenschaftlicher Kronzeuge für die Machbarkeit eines krisenfesten Kapitalismus diente der Sozialdemokratie wie den Gewerkschaften der englische Nationalökonom John Maynard Keynes. Seine Ideen zur antizyklischen Konjunkturpolitik griff auch das Düsseldorfer DGB-Programm auf, das trotz aller prinzipiellen Kapitalismuskritik in seiner Präambel auf den korporatistischen Interessenausgleich zwischen Staat, Gewerkschaften und Unternehmern setzte.

Damit war ein Leitmotiv der sozialliberalen Ära angeschlagen, in der die Gewerkschaften erstmals in ihrer Geschichte mehr als eine Dekade lang direkten Einfluß auf die politischen Entscheidungszentren besaßen. Die Bilanz dieser dreizehn Jahre war aus gewerkschaftlicher Sicht zugleich ermutigend und ernüchternd. Einerseits nutzten die Gewerkschaften die Gelegenheit, resolut und entschlossen als Anwalt von Arbeitnehmerinteressen für die Vollbeschäftigung, die Ausweitung sozialstaatlicher Leistungen und die Verbesserung der betrieblichen Partizipationsrechte von Arbeitern und Angestellten einzutreten und im tripartistischen Kartell der "Konzertierten Aktion" mit Staat und Unternehmern gleichberechtigt am Verhandlungstisch zu sitzen; andererseits wurden sie in den Regulierungsprozessen dieses Dreibundes ein korporatistischer Akteur, der auch Mitverantwortung für Wirtschaftswachstum, Exportsicherung und Geldwertstabilität übernehmen mußte. Ihre Doppelfunktion als makroökonomischer Ordnungsfaktor und als kapitalismuskritische Gegenmacht brachte den Gewerkschaften seit dem Ende der sechziger Jahre innerorganisatorische Legitimationsprobleme ein, wobei der Verlust an Autonomie als Interessenverband und das Erlahmen der gewerkschaftlichen Emanzipationsenergien im Zentrum der Debatten standen. [ Zu den hier nur knapp skizzierten Problemen liegt eine Fülle von über wiegend poli tik- und sozialwissenschaftlich orientierten Spezialstudien vor. Vgl. etwa Gerhard Brandt/Otto Jacobi/Walther Müller-Jentsch, An passung an die Krise. Gewerkschaften in den siebziger Jahren, Frankfurt 1982; Joachim Bergmann (Hg.), Beiträge zur So ziologie der Gewerk schaften, Frankfurt 1979; Ullrich Biller beck, Korporatismus und ge werkschaftliche Interessenvertretung, Frankfurt 1982; Ulrich Teichmann (Hg.), Gewerkschaften. Analysen, Theorie und Politik, Darmstadt 1981.] Diese Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften als Träger der sozialen Demokratie ist nach der wirtschaftlichen Trendwende in der Mitte der siebziger Jahre weitgehend abgeebbt, weil plötzlich das für die gewerkschaftliche Tarif- und Gesellschaftspolitik jahrzehntelang Orientierung gebende Paradigma, man müsse wirtschaftliches Wachstum in sozialen Fortschritt ummünzen, seine Schwung- und Überzeugungskraft einbüßte. Die Auswirkungen des strukturellen und intellektuellen Umbruchs, der alle westlichen Industriestaaten erfaßte, ließen die Gewerkschaften unter einen bis dahin unbekannten Anpassungs- und Veränderungsdruck geraten. Mit der Krise der industriellen Arbeitsgesellschaft und des wachstumsorientierten Wohlfahrtsstaates, mit dem Scheitern von Keynesianismus und Korporatismus, der Thematisierung ökologischer Risiken und dem Vordringen von postmaterialistischen Einstellungen, mit der Individualisierung von Soziallagen und dem Abbau von Milieubindungen in der Arbeitnehmerschaft, aber auch mit der Rückkehr des Neokonservativismus und des Neoliberalismus an die Regierungsmacht begann eine Phase der gewerkschaftlichen Verunsicherung und Orientierungssuche. In ihr ging es nicht mehr um die Durchsetzung von Demokratisierungskonzepten in der Wirtschaft, sondern um die Erhaltung der institutionellen Systeme und individuellen Sicherungen des Sozialstaates.

Hinzu kamen seit dem Ende der achtziger Jahre der rapide Zerfall der kommunistischen Systemkonkurrenz, die Auflösung der ideologischen Koordinaten des Ost-West-Konflikts sowie die immensen politisch-sozialen Folgeprobleme der deutschen Vereinigung. Seit dieser welthistorischen Wende hat sich der äußere Legitimationsdruck auf die wohlfahrtsstaatliche Ausgestaltung der westlichen Welt verringert, die sich nun nicht mehr als auch sozial starkes antikommunistisches Magnetfeld präsentieren mußte. Zugleich gewann vor dem Hintergrund der im ehemaligen Ostblock überall mit Händen zu greifenden stalinistischen und nachstalinistischen Staatsverbrechen die prinzipielle Frage nach der humanen Gestaltungskraft des Sozialismus an Brisanz. Seine ideelle Substanz wurde nun vielfach angezweifelt, und die von ihm ausgehenden gesellschaftsverändernden Impulse verloren an Attraktivität und Plausibilität.

Seitdem wird nicht nur über "das Elend der Sozialdemokratie" [ So der Titel eines Essays von Ralf Dahrendorf (in: Merkur 41, 1987, S. 1021-1038), dessen Kernthese, das Ende des sozialdemokra tischen Jahrhunderts sei er reicht, weil die Reformkraft der Sozi aldemokratie nach ihrem umfassenden Sieg in den europäischen Wohl fahrtsstaaten nun not wendigerweise ihre Peripetie erlebe, mittler weile zu einem Leitmotiv vieler Publikationen geworden ist.] viel geschrieben und das Ende der Arbeiterbewegung prophezeit, sondern es wird auch über die Erneuerung der Gewerkschaften nachgedacht. Die Beiträge zu dieser Zukunftsdebatte sind mittlerweile ebenso zahlreich wie vielfältig und kontrovers, wobei theoretisch-konzeptionelle Überlegungen über die Funktion der Gewerkschaften und empirische Befunde zum derzeitigen Zustand der Gewerkschaften den unbestrittenen institutionellen und programmatischen Reformbedarf dokumentieren. [ Diese seit dem Ende der achtziger Jahre auch innerhalb der Ge werkschaften ge führte Debatte ist in vielen Artikeln der Gewerk schaftlichen Monatshefte widerge spiegelt. Wichtige Anstöße gab die im Umfeld der Hans-Böckler-Stiftung entstandene und von Jürgen Hoff mann u.a. hrsg. Publikation: Jenseits der Beschlußlage. Gewerk schaft als Zukunftswerkstatt, Köln 1990; s. ferner Thomas Leif/Ansgar Klein/Hans-Josef Legrand (Hg.), Reform des DGB. Her ausforderungen, Aufbruch pläne und Mo dernisierungskonzepte, Köln 1993; Helmut Martens, Ge werkschaftspolitik und Gewerkschaftssozio logie, Dortmund 1992. Die in den letzten Jahren von Wissenschaft lern und Gewerkschaftern entwickel ten Vorschläge sind in der 1994/95 von den DGB-Vorsitzenden Heinz-Werner Meyer und Dieter Schulte hrsg. Buchreihe "Beiträge zur Re formdiskussion im Deutschen Gewerkschaftsbund und seinen Ge werkschaften" dokumentiert, in der bislang fünf Einzelbände erschienen sind.] Übereinstimmung besteht darüber, daß mit der Pluralisierung und Individualisierung der Arbeitsgesellschaft und der Sozialmilieus neue Interessen- und Konfliktlinien entstanden sind, die sich mit traditionellen Notlagen und Abhängigkeiten überlappen. Die Gewerkschaften können sich nicht mehr nur auf ihre industriegesellschaftliche Kernklientel konzentrieren, sondern müssen auch die Gruppen der Modernisierungsverlierer und Modernisierungsgewinner in ihre Organisationsarbeit einbeziehen. Dies erfordert eine Wandlung des Rollenverständnisses, eine andere Definition der Handlungsstrategien und die Suche nach neuen Schnittstellen für Solidarität außerhalb von ausschließlich branchen- oder belegschaftsbezogenen Denk- und Organisationsmustern. Die Gewerkschaften hatten immer eine Doppelaufgabe als Interessenverband auf dem Arbeitsmarkt und als soziale Reformbewegung im Staat, die sich nie in ein Entweder-Oder auflösen ließ, sondern stets die intermediäre Position der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung zwischen Politik und Ökonomie widerspiegelte.

Außerdem müssen sich die Gewerkschaften neue Kompetenzen erarbeiten, die über ihre klassischen Themenfelder hinausgreifen und ihren Anspruch als gesellschaftsgestaltende Kraft stärker in den Mittelpunkt rücken. Sie werden allerdings keine programmatische oder politische Omnipotenz für alle Bereiche des menschlichen Lebens beanspruchen können, weil dieser universalistische Anspruch sie überfordern würde. Vielmehr sollten sie sich an ihren bewährten Grundwerten orientieren, die auf ein solidarisches Zusammenwirken der Erwerbstätigen in den Gewerkschaften, deren subsidiäres Selbstbestimmen in gesellschaftlichen Einrichtungen und ein am Gemeinwohl orientiertes Mitbestimmen im System der industriellen Beziehungen hinzielen. Inwieweit zu den historisch gewachsenen Kompetenzen als Arbeitsmarktpartei neue Aufgaben im demokratischen Staat hinzukommen müssen, wenn man den gewerkschaftlichen Interessenbegriff weiter faßt, und inwiefern die Gewerkschaften auch andere Formen der Meinungsbildung und Aktion entwickeln müssen, die ihren überkommenen Disziplinbegriff und seine satzungskonforme Exekution durch Verbandsbürokratien in Frage stellen, sind weitere wichtige Aspekte der derzeit gewerkschaftsintern geführten Reformdiskussion.

Mit der kritischen Analyse des eigenen Zustands und der intensiven Debatte über die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften hat der DGB signalisiert, daß er den apokalyptischen Prophezeiungen entgegentreten und die Überlebensfähigkeit von Idee und Praxis gewerkschaftlicher Politik beweisen will. Auf diesem Weg wollen ihm, wie der letzte IG Metall-Kongreß im November 1995 zeigte, wichtige Großorganisationen folgen. Das Mit- und Gegeneinander von intellektueller Kreativität und organisatorischer Kollektivität, von emanzipatorischer Ungeduld und gesellschaftlicher Beharrungskraft, von äußerem Veränderungsdruck und innerer Reformbereitschaft begleitet die deutschen Gewerkschaften seit ihrer Gründung. Deswegen sollte man ihnen heute auch nicht vorschnell das Totenglöcklein läuten, sondern sich vielleicht an ein Wort Carl Legiens erinnern, der vor hundert Jahren dem sozialdemokratischen Patriarchen August Bebel widersprach, als dieser das baldige Ende der Gewerkschaften prognostizierte: "Die gewerkschaftliche Organisation wird in ihrer heutigen Form so lange dauern, als die kapitalistische Produktionsweise bestehen bleibt. Ihr Bestehen wird so lange eine Notwendigkeit sein, als es einen Streit um den Anteil am Produkt zwischen Arbeitern und Unternehmern gibt." [ So auf dem Kölner Parteitag der Sozialdemokratie, der 1893 über die Zukunft der Gewerkschaften dabattierte; zitiert nach Leipart (Anm. 1), S. 140. ] Man ist kein Prophet, wenn man behauptet, daß diese Konstellation noch länger existieren wird.


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