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Podiumsdiskussion

Die Deutschen - ein Volk von Tätern?

Zur historisch-politischen Debatte um das Buch von Daniel Jonah Goldhagen


Ignatz Bubis

Jane Caplan

Hans Mommsen

Frank Schirrmacher

Raul Teitelbaum

Moderation: Freimut Duve

Freimut Duve

Ich möchte jetzt die Diskussion über die Goldhagen-Debatte als auch über deren Gegenstand eröffnen. Wir bilden hier auf dem Podium eine Runde, die hierzu Wesentliches beizutragen vermag: Frau Professor Dr. Caplan lehrt in Philadelphia. Herrn Bubis, der soeben bereits an der Diskussion teilgenommen hat, brauche ich nicht vorzustellen. Immer wieder greift er Themen auf, die für unser Land von Bedeutung sind. Herr Dr. Schirrmacher zählt zu denen, die die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" herausgeben, und er trägt die Verantwortung für deren Feuilleton. Herr Teitelbaum kommt aus Jerusalem, arbeitet jedoch zur Zeit als Korrespondent von „Jedioth Achronoth" in Bonn.

Mit einem kurzen Zitat möchte ich beginnen. Nur sehr wenige kennen diesen Text, obwohl er für uns alle verbindlich ist: „Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. erstens Mitglieder dieser Gruppe tötet, zweitens Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden zufügt, drittens die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, viertens Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen, fünftens Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." So lautet nicht nur Art. 220a des Deutschen Strafgesetzbuches, sondern auch die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948. Ohne den Gegenstand, den wir heute diskutieren, gäbe es sie nicht. An der Formulierung dieser Tatbestände kann man ablesen, was alles inzwischen in den Begriff Völkermord in rechtlicher Hinsicht einbezogen wird, lange vor der industriellen Massenvernichtung.

In den letzten Jahren habe ich mir immer wieder erlaubt, diesen Artikel auf Vorgänge in Bosnien anzuwenden, und ich habe gefordert, sie auch so zu sehen. Hierfür bin ich kritisiert worden. Man hat mir vorgeworfen, das eine mit dem anderen nicht vergleichen zu können. Ich sehe es jedoch als eine Aufgabe unserer Generation an, die Anfänge von Völkermord herauszustellen, gegen sie vorzugehen, indem wir kritische, wache Vergleiche anstellen. Nur so vermögen wir die Unterschiede festzustellen.Wer sich jedoch einem Vergleich widersetzt, wird auf die Unterschiede nicht zu weisen vermögen.

Herr Professor Mommsen hat seine These, aber auch seine Kritik an dem Buch, über das allgemein diskutiert wird, sehr eindrucksvoll vorgetragen. Am wichtigsten scheint mir an seiner These zu sein: Die Schwäche des zivilisatorischen Gewebes der Deutschen, um es mit meinen Worten zu sagen, hat es erlaubt, daß eines der Elemente des Hasses - der Antisemitismus - zum Terror geführt hat.

Wir müssen der Frage nachgehen, warum es diese drastische Schwäche gegeben hat, warum eine in ganz Europa verbreitete Stimmung, der Antisemitismus, in Deutschland eine solche Bedeutung erlangen konnte. Auschwitz I nenne ich die annähernd 980 Gesetze und Verordnungen zur Aussonderung der Juden, die von 1933 bis zum Beginn des Krieges erlassen wurden. Alle kannten diese Gesetze, direkt oder indirekt. Von 1934 an durften jüdische Händler in der Eifel Vieh nicht mehr verkaufen; jüdische Jugendgruppen erhielten von der Reichsbahn keine Fahrpreisermäßigungen mehr. Alle anderen hingegen bekamen solche, damit die nationalsozialistische Jugendbewegung bessere Transportchancen hatte. Niemand kann sagen, er habe von dieser Aussonderung nicht gewußt. Das Wort Verdrängung hat immer einen doppelten Charakter: Erst wird der Mensch verdrängt, dann wird aus dem Bewußtsein verdrängt, was mit ihm vielleicht geschehen könnte.

Jane Caplan

Zuerst sollten wir wohl in diesem Zusammenhang zwischen der akademischen Historikerschaft einerseits und dem breiten (oder lesenden) Publikum andererseits unterscheiden. Letzteres hat das Buch von Goldhagen mit einiger Begeisterung aufgenommen, was wir aus Talkshows, Berichten in der Presse und Rezensionen ableiten können. Die Kluft zwischen diesen beiden Gruppen trat vermutlich auf einem offenen Symposium im April im Washington Holocaust Museum am klarsten zutage, als Goldhagens Bemerkungen von seiten der Zuhörer mit freundlichem Beifall, die der ihn angreifenden Fachhistoriker indes mit Ablehnung oder Stillschweigen aufgenommen wurden.

Jedoch reagieren die amerikanischen Akademiker nicht nur empört oder ablehnend auf das Buch. Einige namhafte Historiker, unter ihnen der Doyen der alten Germanistengeneration, Gordon Craig, haben das Buch in ihren Rezensionen kritisch beurteilt, in ihm aber auch Wertvolles gesehen. Insbesondere haben sie gutgeheißen, daß Goldhagen die Handlungen der Deutschen als Täter und die Leiden der Juden als Opfer wieder herausgestellt hat, nachdem sich die Forschung in den zurückliegenden Jahren intensiv den politischen Entscheidungsprozessen des Nazi-Regimes und den Erlebnissen der verschiedenen Opfergruppen zugewandt hatte.

Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß die Mehrheit der NS-Experten in den USA das Buch sehr scharf kritisiert und verworfen hat. Unter anderem wurde hervorgehoben: Goldhagen diskutiert die Geschichte des deutschen Antisemitismus nur sehr oberflächlich; er stellt keine Vergleiche an, insbesondere mit dem französischen Antisemitismus; die Geschichte und die Bedeutung der Weimarer Republik stellt er sehr knapp dar; er weist die frühere Forschung zurück und stößt einzelne Autoren vor den Kopf, indem er deren Arbeiten wertlos nennt und deren Ideen bzw. Schlußfolgerungen nicht selten in grober Weise verzerrt. Im allgemeinen zeigt Goldhagen eine unannehmbare Ignoranz bzw. Verachtung historischer Gepflogenheiten, indem er die komplizierten Einzelheiten und Verwicklungen der geschichtlichen Wahrheit grotesk vereinfacht.

Die Schwäche seines Buches liegt meiner Ansicht nach in dem Mangel, historisch zu denken. Goldhagen versucht nämlich, Geschichte mit metaphysischen Methoden zu schreiben, was lediglich metaphysische, nicht jedoch historische Wahrheiten zur Folge haben kann. Das Wort Metaphysik, was für immanente, sinnbildliche Werte steht, möchte ich betonen. Es geht hier nicht um Moralität, die uns als Historiker auch nicht fremd ist. So hüllt er insbesondere seine Darstellung der Beziehung zwischen „Deutschen" und „Juden" in ein völlig antisemitisches Gewand: Er stellt sie als zwei Völker oder als zwei Prinzipien dar, die in einen ununterbrochenen Kampf verwickelt sind, in einen Kampf, an dessen Ende nur Sieg oder Untergang stehen kann. Dieses Bild entspricht seiner eigenen Festungsmentalität. Aus diesem Grunde könnte das Buch fast als eine Polemik gegen die deutschen Juden, im besonderen gegen deren (verfehlte) Assimilationsstrategie im 19. Jahrhundert, angesehen werden. Hierin sehe ich aber nicht eine geschichtliche Lehre, die uns dient, sondern lediglich eine Wiederholung von ideologischen Bildern oder den Versuch, Gespenster wiederzubeleben.

Es schmerzt mich, mit anzusehen, wie ein Buch, das viele von uns als völlig ahistorisch beurteilt haben, in Amerika als ein bahnbrechendes, beispielloses, unwiderlegbares Muster geschichtswissenschaftlicher Kunst gepriesen wird. Wie sollen wir diese Erscheinung erklären? Meiner Meinung nach wäre es zu einfach, diese Wertung lediglich auf die kaufmännische Geschicklichkeit des Verlages zurückzuführen, sie als einen Beweis für die wohlbekannte Kluft zwischen „akademischen" und „populären" Instinkten anzusehen oder sie von der wissenschaftlichen Schreibweise abzuleiten. Zwar dürfen wir die „Unlesbarkeit" akademischer Prosa ebensowenig unterschätzen wie die Unurchdringlichkeit mancher spitzfindigen akademischen Kontroversen. Ebensowenig sollten wir den stetigen Erfolg von „Holocaust-Produkten" in den USA übersehen, noch die Bereitschaft der Massenmedien, schon vereinfachte Ideen noch mehr zu vereinfachen. Gerade für Amerika gelten die Worte Yehuda Bauers: „Der Holocaust ist ein regierendes Symbol in unserer Kultur... Der Holocaust hat kein Ende. Wir leben noch in einer Welt, worin der Holocaust stattgefunden hat." Doch solche allgemeinen Erklärungen können nicht befriedigen, wenn wir auf das einzelne sehen. Wir müssen den Inhalt und die Rezeption dieses Buches ernster nehmen und näher erforschen.

Goldhagen stellt nicht nur eine verlockende Lehre vom breiten und tiefen deutschen Judenhaß und von einer entsprechend breiten und tiefen deutschen Schuld auf. Er bietet seinen Lesern auch das tröstliche Gegenbild der Amerikaner an. Er empfiehlt seinen Lesern, auf das deutsche Volk als Anthropologe zu sehen, weil die deutsche Gesellschaft keine „normale" Gesellschaft sei, wie wir es natürlich sind, sondern ein völlig fremdes Volk, das sich in seiner Vorstellungswelt, seinem „gesunden Menschenverstand" oder seinem „cognitive model" - wie Goldhagen es nennt - total von uns unterscheidet. Goldhagens Grundthese lautet: „Ganz normale Deutsche" konnten die Juden ausrotten, weil gerade in Deutschland „normal" etwas ganz anderes bedeutete als „bei uns". Dieser Topos durchzieht das Buch, wird jedoch nicht bewiesen. Auch dieses „wir" erklärt Goldhagen nicht näher. Dieses „wir" erscheint mir doch sehr durchsichtig, und es spielt in Goldhagens These eine wichtige Rolle. Es kommt einer Einladung an seine Leser gleich, sich von den Deutschen abzusetzen. Gleichzeitig fordert Goldhagen seine Leser auf, sich mit den Juden zu identifizieren. So können sich die Leser überzeugen, daß die USA nicht Deutschland sind und daß sich die Juden in den USA sicher fühlen können. Folglich bietet sich das Buch unter anderem als großartiges Identifizierungsmodell an, was gerade in den Vereinigten Staaten von heute unwiderstehlich wirkt. Nachdem mit dem Ende des Kalten Krieges vertraute ideologische Identitäten verschwunden sind, wirkt diese Art von nationaler Identifizierung heute noch verführerischer. Insofern sollten wir dieses Buch nicht nur als einen Beitrag zur Holocaust-Debatte begreifen. Wir müssen es auch in eine Reihe mit den Büchern von Paul Kennedy oder Francis Fukuyama stellen, die - breiter angelegt - auf den Platz der USA in der Welt abheben.

Kurz möchte ich noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Sehr aufschlußreich fand ich eine Bemerkung von Thomas Disch, der in einer Rezension in „The Nation" am 6. Mai 1996 geschrieben hat: „Es wird manche Leser geben, die die Schlüsse, die Goldhagen gezogen hat, zurückweisen, so wie es manche gibt, die behaupten, der Holocaust habe gar nicht stattgefunden." Diese Gleichsetzung der Holocaust-Verleugnung mit jeder Kritik an Goldhagen finde ich beunruhigend und symptomatisch zugleich.

Mit einem Verweis auf Primo Levi, der mir besonders treffend erscheint, da Goldhagen auch Levi geradezu geschmacklos beiseite schiebt, möchte ich meinen Beitrag abschließen. Levi verwirft gerade diesen scharfen Dualismus zwischen Tätern und Opfern, den Goldhagen pflegt. Vielmehr spricht Levi über „die graue Zone", eine Zone der Zweideutigkeit zwischen diesen beiden Gruppen. Goldhagen schreibt Geschichte schwarz-weiß. Ihm fehlt es an Verständnis für diese graue Zone, die uns als Menschen, nicht nur als Historiker, das größte Unbehagen bereiten sollte.

Freimut Duve

Sie haben einen dramatischen Hinweis auf die aktuellen poltischen Wirkungen dieses Buches gegeben. Meiner Ansicht nach sind sie in der Diskussion, die bisher in Deutschland stattgefunden hat, noch nicht angesprochen worden. Insofern war es wirklich gut, daß Sie auf die Debatte in den USA eingegangen sind.

Frank Schirrmacher

Aus amerikanischer Sicht hat Frau Caplan bereits zwischen dem Buch von Goldhagen und dessen Rezeption unterschieden, was ich für notwendig erachte. Ebenso müssen wir natürlich auch in Deutschland verfahren.

In Hinsicht auf die Rezeption des Buches von Goldhagen bildete der Leitartikel in der „Zeit", der den Titel „Droht ein neuer Historikerstreit?" trug, die erste Klippe, noch bevor das Buch allgemein greifbar war. Unter diesem Titel sind Goldhagens Thesen zum erstenmal annonciert worden; mit ihm begann die erste Serie des Vorabdrucks in der „Zeit". Nachdem das Buch in den „Historikerstreit" eingeordnet worden war, hatte dieses Thema sofort eine politische Akzentuierung erfahren. Es war vorauszusehen, daß die Auseinandersetzung mit den Thesen Goldhagens - so war es gewollt oder gedacht - eine ähnliche Dimension bekommen könnte wie seinerzeit der „Historikerstreit". Soeben hat Frau Caplan auf die Leugnung von Auschwitz hingewiesen. In der Tat hatte der „Historikerstreit" irgendwann einen Punkt erreicht, an dem die These der Relativierung zwar nicht in eine Leugnung, jedoch mindestens in eine Verharmlosung des Holocausts mündete. Diejenigen, die das Buch von Goldhagen kritisierten, mußten sich zum mindesten mit der These konfrontiert fühlen, daß eine Auseinandersetzung mit ihm immer im Schatten aktueller Kontroversen, etwa der prinzipiellen Leugnung des Holocausts, stünde.

Für diese radikale Trennung gibt Goldhagen in seinem Buch leider selber Anlaß, indem er immer wieder einander entgegengerichtete Thesen aufstellt, die denjenigen, der ihnen widerspricht, sehr leicht ins Unrecht setzen. Hierfür möchte ich lediglich ein Beispiel anführen. Es wirft ein Licht auf die Schwierigkeiten, denen der Rezensent begegnet. Auf Seite 503 schreibt Goldhagen: „Wie viele deutsche Kirchenmänner waren in den dreißiger Jahren nicht der Meinung, daß die Juden eine Gefahr seien? Wo sind die Beweise für die Behauptung, daß eine beträchtliche Anzahl von ihnen den eliminatorischen Antisemitismus und das entsprechende Bild von den Juden zurückgewiesen hätte? Wie viele deutsche Generäle, die vorgeblichen Hüter von Tradition, Ehre und Rechtschaffenheit Deutschlands, wollten Deutschland nicht von Juden säubern? ... Wo sind die Beweise dafür, daß diese Männer und ihre Kameraden die Juden als gleichberechtigte deutsche Bürger betrachteten? ... Wie viele Juristen, wie viele Mediziner, wie viele Angehörige anderer akademischer Berufe hielten den allgegenwärtigen, öffentlichen Antisemitismus mit seinen wahnhaften Zügen für schieren Unsinn? Wo sind die Belege dafür?"

Goldhagen stellt Behauptungen auf, beweist jedoch seine grundsätzliche These einer durchgängigen, zumindest kollektiven antisemitischen Bereitschaft nicht. Vielmehr kehrt er das Argument um, indem er diejenigen, die diese These bestreiten, auffordert, Beweise zu liefern. Das ist selbstverständlich außerordentlich schwierig. Jeder, der sich mit diesem Gegenstand beschäftigt, stößt in einen Raum ungeheuer großen Schweigens, den die Dokumente - von den zahlreichen Ausnahmen abgesehen - hinterlassen haben.

Mit diesem strukturellen Problem, das wir bei Goldhagen finden, sahen sich die Kritiker und Rezensenten konfrontiert. Und sehr schnell hat sich herausgestellt, daß die politische Einordnung eben nicht stimmt. Man muß nur den Namen Hans Mommsen nennen. Auch Hannes Heer, der immerhin die Ausstellung über die Wehrmacht organisiert hat, kritisiert heute das Buch von Goldhagen, indem er es als ein Comic-Abziehbild historischer Verhältnisse bezeichnet. Ungleich dem „Historikerstreit" handelt es sich nicht um eine Debatte, die sich an politischen, auch aktuellen politischen Dimensionen festmacht. Vielmehr handelt es sich um eine davon losgelöste Debatte.

Im Unterschied zu Frau Caplan, die auf die Verhältnisse in den USA abhebt, würde ich diese Diskussion überhaupt nicht kritisieren, würde ihr dieser angeblich wissenschaftliche Unterbau genommen. Sie kommt dem Schock, den der Holocaust-Film seinerzeit ausgelöst hat, ein wenig gleich. Auch er hatte große Schwächen, auch er rief eine öffentliche Debatte hervor. Positiv gesehen, wird das wohl Goldhagens Schicksal werden. Seine These jedoch, daß es sich um eine weit größere Anzahl von Tätern handelte, als bisher angenommen wurde, daß der Antisemitismus der nationalsozialistischen Ideologie nur noch als Katalysator bedurfte, wird - so scheint mir - durch das Buch nicht belegt.

Freimut Duve

Die Kritik, die am Inhalt geübt wird, kann ich durchaus teilen. Andererseits halte ich die Diskussion, die das Buch hervorgerufen hat, für sehr wichtig. Mir erscheint es sinnvoll, eine ganze Reihe von Fragen zu stellen, womöglich auch solche, die Goldhagen nicht aufgeworfen hat. Die ehrliche, ernsthafte Arbeit dieses jungen Professors kann für uns von großer Wichtigkeit sein. Wir müssen aber sehr genau mit ihr umgehen.

Raul Teitelbaum

Auch ich habe einige Bemerkungen zu Goldhagens Buch zu machen. Der Stil ist etwas arrogant, und Goldhagen wiederholt sich in einigen Kapiteln. Aber ich teile in vollem Umfang dessen zentrale These. Sie lautet: Hätte es einen spezifischen deutschen Antisemitismus, hätte es das nationalsozialistische Regime nicht gegeben, wäre es nicht zum Holocaust gekommen. Der Zusammenhang, der zwischen diesen beiden Faktoren bestand, trat allein in Deutschland - nirgendwo anders - auf. Auf ihn ist der Holocaust zurückzuführen. Für mich ist diese These ganz selbstverständlich, banal, möchte ich fast sagen. Die Tatsache, daß man in Deutschland über diese These so heftig diskutiert, ruft in mir schlimme Gedanken wach.

Sind die Deutschen ein Volk von Tätern? Die Antwort ist gewiß nicht einfach. Sie lautet „nein", wenn wir über das Deutschland von heute sprechen. Sie lautet jedoch „ja", wenn wir über das nationalsozialistische Deutschland reden. So haben sich damals, vor 50 Jahren, die Völker der Anti-Nazi-Koalition geäußert. Damals gab es in Deutschland keine guten Deutschen. Die einzigen guten Deutschen waren emigriert oder befanden sich in den Konzentrationslagern. Ihre Anzahl belief sich nicht auf Millionen. Sie waren vielmehr eine ganz kleine Minderheit. So waren damals die öffentliche Meinung und die offizielle Politik gegenüber Deutschland. Auch England, Amerika und die Sowjetunion meinten, die Deutschen bildeten ein Volk von Tätern, die bestraft werden müßten. In diesem Sinne lauteten damals alle Beschlüsse der Gipfelkonferenzen der Anti-Nazi-Koalition: die Deutschen - ein Volk von Tätern, die bestraft werden sollen. Der einzige, der sich damals paradoxerweise differenzierter ausdrückte, war Stalin. Ich erinnere mich an einen Ausspruch Stalins, der Ende 1944 sagte: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk jedoch bleibt." Das Wort von den Deutschen als Volk der Täter spiegelte in den ersten Jahren nach dem Krieg die allgemeine Meinung, nicht in Deutschland, sondern im Ausland. Zu dieser Zeit mag die Antwort auf diese Frage richtig gewesen sein. Die Sache änderte sich aber etwas, nachdem der Kalte Krieg seinen Anfang genommen hatte. Nunmehr hatte jede Seite ihre guten Deutschen, auch unter den ehemaligen Nazis. Auf eine solche Frage kann es lediglich eine konkrete Antwort geben. Sie ist mit der jeweiligen konkreten historischen und politischen Situation verbunden.

Mich überrascht natürlich, daß ein so schlechtes Buch, wie man meint, ein Buch, das nichts Neues zur historischen Forschung beiträgt, eine so heftige Diskussion in Deutschland hervorgerufen hat. Sie wirft ein Licht auf die Atmosphäre, auf die Einstellung der öffentlichen Meinung, auf empfindliche Punkte, auf die Goldhagen mit seinem Buch gedeutet hat. Aus der Diskussion über das Buch habe ich über die Situation in der deutschen Gesellschaft mehr gelernt als über den Holocaust.

Freimut Duve

Würden Sie bitte sagen, was Sie gelernt haben?

Raul Teitelbaum

Jede deutsche Generation, so scheint mir, hat ihre Antwort auf die große Frage: Wie konnte das in Deutschland, in Mitteleuropa, in einer zivilisatorischen Gesellschaft geschehen?

Ich möchte sechs Stufen herausstellen, die das Verhältnis der Deutschen zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust vielleicht charakterisieren. Die erste Stufe bildete die Teilnahme. Nach dem Krieg kamen das Schweigen, die Scham und die Enthüllungen hinzu. Und es gab auch eine Stufe der Relativierung, wie die Diskussion unter den Historikern zeigte. Nunmehr haben wir, fürchte ich, eine Stufe erreicht, die ich die Normalisierung des Zweiten Weltkrieges, des Holocausts nenne. Ich will Fakten nicht leugnen, sondern lediglich eine Analyse vornehmen. Alles beginnt mit dem Zweiten Weltkrieg. Aber wenn der Zweite Weltkrieg ein „normaler" Weltkrieg ist, dann ist auch der Holocaust eine „normale" Erscheinung? Das eine ist mit dem anderen verbunden. Der Vortrag von Professor Mommsen widerspiegelt, was ich Normalisierung nenne. Meiner Ansicht nach widerspiegelt er einen apologetischen Zugang zu den Prozessen, die zu diesen Ereignissen geführt haben. Manchmal habe ich den Eindruck, daß sich die Historiker zu sehr mit den Bäumen befassen und den Wald nicht mehr sehen. Unser Problem sind nicht nur die Einzelheiten, sondern der Wald.

Ignatz Bubis

Ich verstehe, warum dieses Buch in Deutschland ein solches Aufsehen erregt hat. Schließlich geht es in ihm um Deutschland. Wer soll sich denn sonst damit beschäftigen, wenn nicht die Deutschen? Einen „Historikerstreit" wird es jedoch nicht auslösen. Und nun sage ich etwas, was Goldhagen vielleicht als eine Beleidigung auffassen könnte: Es ist nicht das Buch eines Historikers. Es ist ein Buch, das die Ereignisse auf soziologische, psychologische Weise zu deuten sucht; die historischen Daten bilden lediglich dessen Grundlage.

Der deutschen Ausgabe hat Goldhagen 13 Seiten vorangestellt, was interessant ist. Sie sollen erklären, was er mit dem Buch sagen will. Er wolle, so schreibt er, die Handelnden als Individuen sehen. Deren Mentalität sei bisher nicht systematisch dargestellt worden; daher wolle er diesen Versuch unternehmen. Er wolle die Handlungen und Entscheidungen der einzelnen für ihre Taten, aber auch deren Beziehungen zur politischen Kultur darstellen. Er gedenke, die Motivation und die Bereitschaft der Täter zu erklären. Goldhagen unterscheidet zwischen den sadistischen Tätern, denen der Sadismus nicht befohlen worden war, und denen, die unbewegt den Befehlen folgten. Wahrscheinlich hätten dieselben nicht nur einem Befehl zum Töten Folge geleistet, sondern auch zum Lieben. So könnte man wohl Goldhagen interpretieren. Sehr stark geht er auf einen eliminatorischen Antisemitismus ein, der sicher zunächst nicht eliminatorisch angelegt war, wohin die geistigen Wegbereiter jedoch den Antisemitismus führten.

Der Ursprung des Holocausts, erläutert er, befinde sich unbestritten in Deutschland. Daher ist er in erster Linie ein deutsches Phänomen. Das stehe historisch fest. „Wer den Holocaust erklären will, muß ihn aus der deutschen Geschichte ableiten. Gleichwohl stellte er keinesfalls deren zwangsläufiges Resultat dar. Wären Hitler und die Nationalsozialisten nicht an die Macht gelangt, hätte es auch keinen Holocaust gegeben. Und sie hätten die Macht wahrscheinlich nicht erlangt, hätte es keine wirtschaftliche Depression gegeben. Mehrere Entwicklungen, von denen - für sich genommen - keine unausweichlich war, mußten zusammentreffen, damit der Holocaust verübt werden konnte."

Hierzu steht im Widerspruch, was Goldhagen später in seinem Buch schreibt. Widersprüche solcher Art gibt es eine Menge. Ganz richtig sagt Goldhagen, daß der Holocaust niemals möglich gewesen wäre, hätte es die Nationalsozialisten und Hitler nicht gegeben. Für wesentlich hält er aber die große Bereitschaft der meisten gewöhnlichen Deutschen, die rabiate Verfolgung in den dreißiger Jahren zunächst zu tolerieren, später zu unterstützen, was wenigstens für diejenigen gilt, die hierzu abkommandiert waren. Er trifft schon diese Unterschiede, wirft sie jedoch später in einen Topf. Der Antisemitismus eines Volkes allein, schreibt Goldhagen, führe nicht zum Massen- oder Völkermord, solange er nicht für eine staatliche Politik der Vernichtung nutzbar gemacht werde. Zwei Voraussetzungen hält er für notwendig: eine antisemitische Bevölkerung und ein Regime, das gewillt war, die Juden zu vernichten. In anderen Ländern konnte es nicht zum Holocaust kommen, da in ihnen nicht Regierungen an der Macht waren, die zum Völkermord entschlossen waren. Nur das Deutsche Reich, merkt Goldhagen an, hatte die militärische Stärke, den europäischen Kontinent zu erobern. Infolgedessen konnte auch nur die deutsche Führung ungestraft und ohne Furcht vor der Reaktion anderer Länder mit der Vernichtung der Juden beginnen. Hätte Goldhagen recht, könnte jedes starke Land im Innern Völkermord begehen.

Die Vorstellung von einer Kollektivschuld weist er entschieden ab. Da nicht Gruppen, sondern nur Individuen als schuldig angesehen werden können, sollte der Begriff Schuld, meint Goldhagen, nur dann benutzt werden, wenn eine Person tatsächlich ein Verbrechen begangen hat. Dieser Ansicht stimme ich ganz und gar zu. Aber gleich im Anschluß sagt Goldhagen genau das Gegenteil.: „und jedes Individuum ist Teil des Kollektivs." Daher halte ich es für sehr widersprüchlich. Er zieht nicht nur aus den historischen Tatsachen unterschiedliche Schlüsse, sondern widerspricht sich sogar hin und wieder in demselben Satz.

An einer Stelle nennt Goldhagen die antisemitischen Auffassungen der Deutschen die zentrale Triebkraft für den Holocaust, an anderer hingegen den Antisemitismus von zigtausend gewöhnlichen Deutschen. Da spricht er nicht mehr von den Deutschen, sondern von vielen Tausenden gewöhnlichen Deutschen. Er unterstellt, daß auch Millionen von anderen Deutschen sich ebenso verhalten hätten, wenn sie in die entsprechenden Positionen gelangt wären. Und immer wieder vermischt er die Deutschen und die Täter miteinander. Treffend spricht er an vielen Stellen von den Tätern, setzt sie jedoch sofort mit den Deutschen gleich. Aus diesem Grunde halte ich dieses Buch für ein schlechtes soziologisches und psychologisches Buch, dessen Interpretationen historische Tatsachen zugrunde liegen. Einerseits nennt Goldhagen die Deutschen ein Volk von Tätern; andererseits weist er die These von der Kollektivschuld zurück. Damit komme ich nicht klar.

Freimut Duve

Ihre präzise Analyse führt uns zu der Frage zurück, wie Historiker eigentlich mit diesem Gegenstand umgehen und wie sie mit ihm umgehen sollten. Herr Teitelbaum hat hier sehr scharf formuliert. Er hat die Begriffe Normalisierung, Relativierung und zum Schluß Apologie als letzte, sechste Stufe benutzt. Er hat es zurückgewiesen, daß sich Historiker mit einer bewußt kühlen Distanz dem Gegenstand nähern. Diese kühle analytische Betrachtung der Details könnte ich auch in Hinsicht auf mein Leben nicht akzeptieren. Sie haben, Herr Teitelbaum, von den Bäumen gesprochen, die den Blick auf den Wald verstellen. Sie haben ein gutes Bild gezeichnet, das zu Recht so viel Beifall erhalten hat. Es ist ein sehr problematisches Bild für hundertmillionen Menschen, die den Wald bildeten, und die zigtausende kleinen Taten, Untaten und Verbrechen, die ab 1933 zum Holocaust geführt haben.

Wie muß denn in diesem Fall die englisch-amerikanische Historikern, Frau Caplan, mit einem solchen Gegenstand umgehen, einem einmaligen Gegenstand, der es jedem, der sich ihm zuwendet, schwer macht, eine analytische Distanz zu wahren? Ist in dem Buch die Distanz verloren worden? Ist andererseits eine kühle Betrachtung der Primärquellen, zu der Herr Mommsen rät, erlaubt, wenn wir uns mit diesem Gegenstand auseinandersetzen? Herr Teitelbaum meint, dieser Gegenstand verbiete, auf eine solche Weise behandelt zu werden.

Jane Caplan

Von Distanz würde ich nicht sprechen. Die Ursachen der geschichtlichen Ereignisse liegen jedoch selten klar auf der Hand. Wenn Goldhagen recht hat, müßte ich als Historikerin in den Ruhestand treten. Dann gäbe es für mich keine Aufgabe mehr. Auf diese Frage gibt es nicht nur eine Antwort. Jede Generation muß ihre eigene Antwort geben, insofern folge ich Herrn Teitelbaum. Goldhagen gibt vor, der einzige zu sein, der diese Antwort gefunden hat. Er erweckt den Eindruck, als ob andere Historiker in den vergangenen 5o Jahren nichts getan hätten. Das ärgert mich am meisten, und das finde ich etwas schamlos. Gerade in dieser Zeit, in der die Generation der Deutschen und Juden ausstirbt, die den Krieg miterlebt hat, sollten die Tatsachen möglichst genau festgehalten werden. Ich glaube, Goldhagen trägt zu diesem Versuch bei. Aber er mißrät ihm. Ich halte ihn für ein Spiegelbild seiner Generation. Er will genau aufschreiben, weshalb sich die Details immer wiederholen. Das halte ich für wichtig, jedoch für nicht ganz neu.

Frank Schirrmacher

Sie erheben, Herr Teitelbaum, einen starken Vorwurf, indem Sie von Normalisierungstendenzen, von apologetischen Tendenzen, sprechen. Ich weiß nicht, ob Sie hiermit auch Herrn Mommsen gemeint haben. „Normalisierung" erweckt den Eindruck, als ob der Vorgang des Holocausts irgendwann als normal empfunden oder zumindest in der deutschen Geschichte eine weitaus geringere Rolle als heute spielen würde. Diese Debatte prägte auch den „Historikerstreit".

Ich glaube, es geht um Historisierung. Und die Argumente, die Sie zugunsten von Goldhagen anführen, stimmen mich sehr skeptisch. Frau Caplan sagte gerade den wohl entscheidenden Satz: Es tritt eine Generation ab. Die politische, die gesellschaftliche Frage lautet: Wie werden die Bedingungen der Jahre von 1945 bis 1951/52, unter denen die Bundesrepublik Deutschland - auf die die Erfahrungen des Dritten Reiches einwirkten - entstand, eigentlich tradiert? Wie werden sie weitergegeben? Wo finden wir hierfür, um mit Goldhagen zu sprechen, die Dokumente? Oft haben wir es doch mit emotionalen Dingen zu tun.

Unter denen, die verfolgt oder zurückgekehrt waren, unter denen, die ein schlechtes Gewissen hatten, bildete sich irgendein Bewußtsein heraus, das dann zu dieser Bundesrepublik führte und tradiert wurde. Wahrscheinlich wird es noch an die Generation weitergegeben werden, die auf diejenige Goldhagens folgt. Aber irgendwann wird es verlorengehen, weil es immateriell ist. Und dann stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis unseres Landes. Indem die Erinnerung derjenigen, die das erlebt haben, erlischt, wird sie historisiert. Goldhagen ist für mich ein Symptom für eine eher gefährliche Entwicklung, da er irgendeine kollektive Seele, irgendein kollektives Psychogramm konstruiert, das aus den Tiefen der Geschichte auftauchte und zum Holocaust führte.

Raul Teitelbaum

Ich habe eine Frage an die Fachhistoriker. Muß man sich den historischen Quellen gelassen zuwenden? Wir besitzen zwei historische Fakten: Millionen von Juden sind systematisch umgebracht worden. Und wir haben kein schriftliches Dokument, das den Befehl erließ, eine solche Aktion durchzuführen. Es scheint paradox: Alle haben Befehle gehorsam ausgeführt, ohne daß sie schriftlich gegeben wurden.

Ich hatte Gelegenheit, mit Hitlers letzter Sekretärin, Frau Junge, ein Interview zu führen. Sie habe nie gehört, daß in der Reichskanzlei über Juden gesprochen wurde. Sie sagte, daß der „Führer" viele wichtige Beschlüsse in informellen Besprechungen weitergegeben habe. Auch sie habe jedoch einige jüdische Bekannte gehabt, die verschwunden seien. Sie hätte sich jedoch nicht gefragt, wohin. Das ist das große Problem, nicht nur im Hinblick auf Nazideutschland: Die wichtigsten Entscheidungen wurden nicht in schriftlicher Form getroffen. Das ist charakteristisch für alle totalitären Regime.

Jane Caplan

Es würde auch nichts ändern, wenn eine entsprechende Verordnung Hitlers aufgefunden worden wäre.

Raul Teitelbaum

Das war nicht meine Frage. Sie betraf eigentlich eine These von Professor Mommsen. Ihr zufolge kann man in Zweifel ziehen, ob Hitler die Absicht hatte, die Juden auszurotten. Der Prozeß, der zum Holocaust führte, kann folglich beinahe als ein spontaner Prozeß verstanden werden, auf den die an der Spitze und die lokalen Aktivisten in irgendeiner Form eingewirkt haben. Hier haben wir es mit einer historischen Schlußfolgerung zu tun, mit einer Hypothese, die Professor Mommsen nicht bewiesen hat.

Jane Caplan

Ich halte die Frage für falsch gestellt. Herr Mommsens These lautet doch ungefähr so: Auch wenn es eine Verordnung Hitlers gegeben hätte, wäre das ganze bürokratische System notwendig gewesen, den Holocaust in die Tat umzusetzen. Wir verfügen lediglich über Hypothesen. Einige werden sagen, daß wir diese Verordnung bereits in „Mein Kampf" finden können. Wir können überall nach dieser vermißten Verordnung suchen, der eine oder andere wird sie schon finden. Gleichwohl müssen wir den Ereignislauf genau verfolgen, wofür viele Akten vorliegen.

Ignatz Bubis

Sicher ist in der Umgebung Hitlers nicht mit Befehlen oder mit Schriftstücken operiert worden. Vielleicht ist zum Beispiel die Rede Himmlers vom 6. Oktober 1943 auch ein Beweis dafür, daß die Bürokratie das Ganze ohne schriftlichen Befehl erledigte. Ihr habt Ungewöhnliches getan, ihr habt nie darüber gesprochen und seid sauber geblieben, heißt es in ihr. Und hier finden wir etwas vor, womit sich die Historiker vielleicht noch zu wenig auseinandergesetzt haben. Wie hat diese Bürokratie eigentlich funktioniert? Man mußte dazu Öfen bauen, Transporte bereitstellen. Die Reichsbahn war involviert, die Bewacher waren es. Das machte die Stärke der deutschen Bürokratie aus. Sie hat alles möglich gemacht; nichts lief schief. Zum richtigen Zeitpunkt standen die Waggons bereit, zum richtigen Zeitpunkt die Bewacher. Herr Mommsen, nehme ich an, ist womöglich falsch verstanden worden. Wir müssen zwischen der Gefühlsregung des Historikers und der Aufgabe, Geschichte aufzuarbeiten, unterscheiden. Nur wer sich der Geschichte unbefangen nähert, wird sie genau betrachten können. Das heißt jedoch nicht, seine Gefühle einfach abzulegen.

Freimut Duve

Auf die Frage des rumänischen Diktators Jon Antonescu, warum die Juden ausgesondert würden, soll Hitler geantwortet haben: Das brauchen wir, um jede innere Opposition für die Neugestaltung loszuwerden. Damit meinte er jedoch nicht, daß er die Juden als Opposition verstünde. Vielmehr war er auf ein antizivilisatorisches System, auf die Zerstörung der Zivilisation, aus. Die Ermordung der Juden und deren Aussonderung gerieten zum Instrument, um dieses Ziel mit Erfolg zu erreichen. Ich halte die Aussonderung, ebenso die Verdrängung für die wahren kollektiven Verbrechen. Es kommt einer psychologischen Form der Tötung gleich, wenn man wie diese Sekretärin, die Herr Teitelbaum interviewt hat, nicht mehr fragt, was aus denen, die man loswerden wollte, geworden ist.

Kurt Jüttner

Was die Euthanasie anbelangt, einen vergleichbaren Fall, liegt ein Satz Hitlers vor. Der eine Satz, in dem er seinem Leibarzt den Auftrag gibt, sie durchzusetzen, ist vorhanden. Verändert er jedoch die Dimension und die Folgen der Euthanasie? Auch hier wird die Bürokratie des Systems sogleich tätig. Sie geht von diesem Satz aus, funktioniert allem Anschein nach wie von selber, auch mit einer dämonischen oder banalen Logistik. Was würde also der Beweis erbringen, würde er aufgefunden werden?

Hans Mommsen

Es war das Problem der T4-Leute, die in der Kanzlei von Philipp Bouhler saßen, Hitler mitzuziehen. Die Auseinandersetzung betraf das Euthanasiegesetz. Hitler wußte, wie unpopulär es war. Daher wurde zunächst der Versuch unternommen, mit Dokumentarfilmen und mit dem berühmten Spielfilm „Ich klage an" Einfluß auf die öffentliche Meinung zu gewinnen. Man hoffte, über die öffentliche Meinung Hitler für das Euthanasiegesetz gewinnen zu können. Das war für die Entscheidungsfindung im Dritten Reich typisch. Wir wissen inzwischen ganz gut, Herr Bubis, auf welche Weise diese Bürokratien funktionieren. Wenn Bürokratien erst einmal entstanden sind, funktionieren sie ganz leicht und schnell. In dieser Beziehung wird viel zuviel hineingeheimnist. Wenn so ein Programm erst einmal in Gang gekommen ist, läuft es eben auch, unabhängig von den Motivationen.

Christopher Storck

Ich möchte auf das Unbehagen, das Sie, Herr Teitelbaum, empfinden, eingehen. Ich kann es sehr gut verstehen, denn in diesem Prozeß der Historisierung wird etwas verständlich gemacht. Es werden Begriffe zur Verfügung gestellt, und sie werden verwendet. Alles wird klein, paßt auf Papierseiten, läßt sich verarbeiten. In diesem Prozeß geht jedoch verloren, daß man eigentlich nicht begreifen kann, was dieser ungeheuerliche Holocaust gewesen ist. Wie Herr Dr. Schirrmacher denke ich jedoch: Dieser Prozeß läßt sich sowieso nicht verhindern. Wollen wir nun lieber auf Historiker wie Herrn Goldhagen hören, dessen Darstellung in die Irre führt, der ganz einfache Begriffe findet, die meines Erachtens aber zu einfach sind, um stimmen zu können? Oder sollten wir nicht vielmehr versuchen, uns so sachlich wie möglich mit diesem Problem auseinanderzusetzen?

Nerauf Blumental

Daniel Goldhagen hat keine historische, sondern eine soziologische und psychologische Debatte begonnen, in die natürlich auch spirituale Elemente eingehen. Denn der Mensch besteht nicht nur aus Fleisch und Blut. Er hat auch eine Seele. Und ich kann es wirklich nicht nachvollziehen, wenn es für gefährlich gehalten wird, die Metaphysik in die Diskussion einzubeziehen.

Sylvia Griffin

Ich begreife nicht, warum die Deutschen immer völlig unbrauchbare Gegenstände für eine Diskussion, die sie eigentlich die ganze Zeit hätten führen müssen, heranziehen. Sowohl der Film über den Holocaust als auch dieses Buch haben die Sache eigentlich nur mit Emotionen angefüllt. Eine historische Debatte vermag dieses Buch jedoch nicht auszulösen. Es geht auf die Täter aus der Nähe ein; es erklärt jedoch nicht die fabrikmäßige Vernichtung der Juden, was wir für gewöhnlich Holocaust nennen. Hierzu bedarf es der historischen Betrachtung. Goldhagen läßt sich zu sehr vom Ergebnis leiten. Weil der Holocaust stattgefunden hat, meint er, müsse der deutsche Antisemitismus etwas Besonderes gewesen sein, denn er führte dahin. Ungeachtet dieser Bedenken bin ich dankbar dafür, daß es solche Anlässe immer wieder gibt. Sie stoßen die Deutschen an, die Diskussion, die nach wie vor notwendig ist, weiter zu führen.

Manuela Michler

Ich bin nur eine ganz durchschnittliche Leserin von Daniel Goldhagen. Ich finde, sein Buch bewegt Menschen. Und das macht es wertvoll. In meinem nichtjüdischen Freundeskreis konnten wir nicht mehr über den Holocaust reden, bis das Buch von Goldhagen erschienen ist. Es legt den Finger in die Wunde, stellen die Leute es doch so dar, als ob es die Nazielite gewesen wäre, die die Juden vernichtet hätte. So wurde es auch in meinem Freundeskreis gesehen. Goldhagen verweist jedoch auf den ganz normalen Deutschen, der am Holocaust beteiligt war. Dieses Buch ist insofern berechtigt, als es diese Auffassung in den Mittelpunkt gerückt hat.

Ursula Steinbrecher

Welche Rolle, Herr Mommsen, spielt der Sozialismus im deutschen Antisemitismus, vor allem zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, als der jüdische Bolschewismus als eine Vokabel verwendet worden ist?

Hans Mommsen

Der Antisemitismus wurde gegen den Sozialismus ausgespielt. Die Rechte setzte den Sozialismus und die Juden einander gleich, indem sie herausstellte, wie prozentual relativ stark die Juden in den Führungsgremien der mitteleuropäischen Sozialdemokratie vertreten waren. Probleme solcher Art sind charakteristisch für den Antisemitismus, der in jede Richtung ausschlägt und insofern überhaupt nicht eindeutig ist. Das spielt in der antisemitischen Agitation in Deutschland seit 1917, auch in der Zeit bis 1923, eine gewisse Rolle. Es gibt jedoch eine noch etwas andere Spielart. Wir finden einen Antisemitismus, der überhaupt nicht spezifisch ist, einen Antisemitismus, der die Juden als Vertreter des Kapitalismus kritisiert.

Freimut Duve

Auf diese äußerst brutale Weise wurde den Juden vorgeworfen, sie hätten sowohl den Kapitalismus als auch den Kommunismus organisiert.

Harry Kley

Ich bin zwar kein Historiker, habe aber in der Zeit gelebt, in der diese Sache passiert ist. 1938 kam es zur „Kristallnacht". Ich habe gesehen, mit welcher Begeisterung die Geschäfte zerstört und die Synagogen verbrannt wurden. Da gab es nur Täter. Keiner hat sich ihnen in den Weg gestellt. 1939 habe ich in Bonn die Fahnen und die SA-Uniformen gesehen, 1945, als Soldat, jedoch nicht mehr. Es gab keine Nazis mehr. Wo sind die Täter geblieben?

Raul Teitelbaum

Ich will hier einen Mann anführen, der die These stützt, daß damals die Deutschen die Täter gewesen seien. Ich meine Kanzler Kohl, der den berühmten Satz von der Gnade der späten Geburt geprägt hat.

Freimut Duve

Das Copyright besitzt jedoch Günter Gaus, nicht Helmut Kohl.

Raul Teitelbaum

Dieser Satz enthält die Antwort. Alle, die nicht das Glück hatten, spät geboren worden zu sein, konnten Täter sein. Diesen Satz halte ich für interessant und charakteristisch.

Susanne Miller

Mit Recht hat Herr Bubis hervorgehoben: Wen sollte dieses Buch interessieren, wenn nicht die Deutschen? Herr Teitelbaum fürchtet, daß der Holocaust heute kein Thema ist. Diese Sorge wird schon dadurch widerlegt, daß Goldhagens Buch in Deutschland eine gewaltige Resonanz gefunden hat. Herrn Teitelbaums Befürchtung widerspricht auch die Tatsache, daß der Film „Schindlers Liste" Millionen von Menschen - gerade auch junge Menschen - angezogen, beeindruckt und zum Nachdenken angeregt hat. Folglich kann von einer „Normalisierung" nicht die Rede sein, ganz im Gegenteil. Die Besinnung auf die Vergangenheit scheint mir heute lebhafter denn je.

Was Herr Teitelbaum über die ersten Stadien gesagt hat, halte ich für richtig. Man schwieg, aus welchem Grunde auch immer, man wollte nichts von der Vergangenheit wissen, man verdrängte sie. Aber diese Haltung ist überwunden worden. Die Kunst des Beschweigens der Vergangenheit gilt heute ganz bestimmt nicht mehr.

Die Thesen von Hans Mommsen entlasten die Deutschen nicht; sie belasten sie vielmehr auf außerordentliche Weise. Denn auch bei anderen Völkern kommen Dinge vor, die von fehlgeleiteten Gefühlen herrühren. Wenn sich jedoch die Funktionseliten, die Universitätsprofessoren, die Ärzte, die Rechtsanwälte, alle, die unter die Gebildeten, unter die Elite eines Volkes zu rechnen sind, direkt oder indirekt an der Vernichtung von Menschen beteiligen, muß ein Volk auf das äußerste verurteilt und belastet werden. Daher vermag ich nicht zu verstehen, wie man die Thesen von Mommsen Apologetik nennen kann. Ich finde, sie stellen eine massive, sehr ernst zu nehmende Anklage dar.

Frau Caplan hat in einer Weise, die mir sehr einleuchtet, die Rolle, die Funktion und auch die Popularität von Goldhagens Buch damit erklärt, daß es die Identifizierung der Amerikaner mit Amerika, von Juden als Juden und als amerikanische Juden gestärkt hat. Ich möchte sie jedoch fragen, ob nicht noch andere Elemente, andere psychologische Vorgänge in Amerika und gerade auch unter den amerikanischen Juden eine Rolle spielen. Manche meiner Verwandten, die in Auschwitz umgebracht worden sind, hätten überleben können, hätten sie die Möglichkeit gehabt, nach Amerika zu kommen. Das trifft auch auf viele meiner Freunde zu. Und es gilt nicht nur für Amerika, sondern auch für die anderen peace loving nations. Haben sie wirklich alles getan, um Menschen zu retten? Läuft es nicht auch auf die Erforschung des Gewissens hinaus, wenn sich Amerikaner, wenn sich amerikanische Juden mit den Thesen von Goldhagen nicht nur auseinandersetzen, sondern sie auch billigen? Spielt dabei nicht auch die Verdrängung eines Schuldgefühls eine Rolle? Und wir haben nichts dagegen getan. Ich habe im englischen Exil gelebt, und ich erinnere mich an unsere Bedrückung, Enttäuschung und Verzweiflung über die Gleichgültigkeit der Deutschen und auch über die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem, was in Deutschland geschah. Meine deutschen Kolleginnen und Kollegen scheuen sich, es in dieser Klarheit auszusprechen, wie ich es soeben getan habe.

Ich möchte noch einmal auf Hans Mommsens These von der Gleichgültigkeit zurückkommen. Sie war in Deutschland besonders stark; sie gab es aber auch auf der ganzen Welt. Auf die Frage, warum es gerade in Deutschland, nicht jedoch in Frankreich, wo der Antisemitismus ebensosehr ausgeprägt war wie jenseits des Rheins, zum Holocaust gekommen ist, würde ich diese Antwort geben: In Frankreich war die Gleichgültigkeit der Eliten, der geistigen Welt, Ungerechtigkeit und solchen Schandtaten wie Antisemitismus gegenüber nicht so groß wie in Deutschland, weil das französische Bürgertum ein stärkeres Gefühl für Recht und Unrecht hatte als das deutsche. Daher kam es auch in Frankreich zu einer Affäre Dreyfus, in deren Verlauf sich die halbe Nation der Ungerechtigkeit entgegenstellte. In Deutschland hingegen haben die Eliten geschwiegen, als Heinrich von Treitschke die Juden unser Unglück nannte. Hierin sehe ich einen Grund, warum es in Deutschland zum Holocaust kommen konnte. Hier haben die Eliten geschwiegen. In anderen Ländern gab es mehr Wachsamkeit gegenüber Ungerechtigkeiten als in Deutschland.

Jane Caplan

Ja, die Amerikaner und andere Völker haben nicht genug unternommen. Das wissen wir heute, das wußte man auch damals. Dieses Gefühl, nicht genug getan zu haben, stellt - womit Sie recht haben mögen - das Bild, das die Amerikaner von sich gezeichnet haben, ein besonders gerechtes Volk zu sein, in Frage. Vielleicht ist auch die Rezeption dieses Buches damit zu erklären. Und Goldhagen versucht auch so zu schreiben, daß seine Leser diese furchtbaren Leiden förmlich miterleben. Womöglich brauchen wir solche Bücher. Diese Fragen müssen immer aufs neue gestellt und diskutiert werden. Ich bedaure jedoch, daß dieses Buch im Grunde so schlecht ist. Aber wir können diese Debatte nicht lenken. Leider hat das Buch von Christopher Browning „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die 'Endlösung' in Polen" eine Debatte solcher Art nicht ausgelöst, obgleich ich es für besser halte.

Ignatz Bubis

Das beste Beispiel für Amerika stellt vermutlich die „Saint Louis" dar. Sie befand sich schon vor den Toren Amerikas, wurde aber nicht hineingelassen. Viele vermögen ihr schlechtes Gewissen zu kompensieren, wenn sie mit dem Finger auf andere zeigen können.

Ich finde das Buch von Goldhagen genauso schlecht; aber die Debatte, die es hervorgerufen hat, ist nicht so schlecht. Ich finde es positiv, daß diese Debatte in einer Zeit der Normalität stattfindet. Noch zehn Jahre früher hätte dieses Buch ganz andere Emotionen ausgelöst als heute. Wahrscheinlich werden wir jedoch eine wirkliche Normalität, die frei von Emotionen ist, erst in der nächsten Generation erreichen, wenn es die Generation der Opfer und der Täter nicht mehr geben wird. Wenn wir diesen Abstand erreicht haben, wird die Normalität stärker als die Emotionen sein. Eine normale Situation halte ich für eine ganz wichtige Voraussetzung, um mit dem Holocaust umzugehen.

Frank Schirrmacher

So ganz, Herr Bubis, vermag ich Ihnen in diesem Punkt nicht recht zu geben. Mir scheint, man müßte die Debatte, wie seinerzeit die Debatte über den Holocaustfilm, einige Monate später überprüfen, ob nicht bei dem einen oder anderen, der die Diskussion aus der Ferne verfolgt hat, das Folgende hängengeblieben ist: Da hat ein Historiker die These vertreten, daß die Deutschen willige Vollstrecker waren. Bedeutende Wissenschaftler haben ihm widersprochen und ihn als unseriös abqualifiziert. Es ist nicht sicher, ob diese Botschaft aufgenommen wird oder ob die Debatte an der Öffentlichkeit vorbeigeht und sogar kontraproduktiv wirkt. Eine Dame sagte vorhin, in ihrem Freundeskreis habe das Buch Bewegung ausgelöst. Das ist gut, denn dann wird darüber diskutiert, und die Leute lesen auch andere Sachen. Aber dürfen wir so optimistisch sein? Zum Beispiel ist bei Rowohlt das Kalendarium des Konzentrationslagers Auschwitz/Birkenau erschienen, das für einen Verleger eine gewaltige Leistung darstellt. Es ist ein ungewöhnliches Buch, das unendlich mehr Informationen enthält als das Werk von Goldhagen. Dieses Buch hat den Verlag, weil es nur wenig gekauft wurde, in große Schwierigkeiten gebracht. Man kann Primo Levi, noch mehr Jean Amery erwähnen, weil Goldhagen auch als Literat gilt. Das waren Leute, die Thesen, wie sie Goldhagen formuliert hat, aus ihrer eigenen Erfahrung abgeleitet haben. Die Debatte, die sie ausgelöst haben, beschränkte sich auch auf einen kleinen, intellektuellen Kreis. Ich weiß nicht, Herr Bubis, ob die Brisanz, die Goldhagens Buch erhalten hat, nicht auf die unangemessene Sensationslust einer auf Katharsis zielenden Welt der Talkshows zurückzuführen ist. Und ich bin mir nicht sicher, ob es die positive Wirkung haben wird, die man sich von ihm verspricht. Das muß man später noch einmal überprüfen.

Gunhild Klöckner

Meine beste Freundin hat Goldhagen gelesen, sie weiß jedoch nicht, was ein Jude ist. Daher hat sie sich jetzt für ein Seminar in der Volkshochschule angemeldet, in dem es um Christen, Juden und den Islam, um einen Vergleich der Religionen, geht. Sie will wissen, worüber wir reden. Wenn Goldhagen bei ihr eine solche Reaktion ausgelöst hat, bewirkt er sie vielleicht auch bei anderen Menschen. Das allein macht dieses Buch in meinen Augen wertvoll, auch wenn es aus der Sicht des Historikers vielleicht nichts taugt.

Hans Mommsen

In literarischer Hinsicht ist das Buch selbstverständlich überhaupt nicht schlecht, sondern vorzüglich. Nur halten es alle Fachhistoriker, die davon etwas verstehen, fachlich für miserabel. Wir haben hier eine ganz neue Erscheinung: Die öffentliche Meinung in den Ländern, die beteiligt sind, goutiert das Buch. Die Fachhistoriker hingegen sagen: Was ist aus der Geschichtswissenschaft geworden? Ein holländischer Kollege rief mich an und fragte: „Wozu sind wir überhaupt da?" Es gibt in dem Buch überhaupt nichts, was in lesbaren historischen Darstellungen nicht mehr oder minder beschrieben worden ist. Es liegt das Buch von Christopher Browning vor, der von Daniel Goldhagen so heftig attackiert wird. Der „Spiegel" hat es zum Teil wiedergegeben, und es liegt eine Ausgabe in deutscher Sprache vor. Dieses Buch schont die Deutschen ebensowenig, urteilt jedoch differenzierter. Goldhagen gefällt, weil er die berühmte einfache Antwort auf schwerwiegende existentielle Fragen gibt. Verantwortlich ist die deutsche Spielart des Antisemitismus. Das Buch von Goldhagen spiegelt die Flucht der nächsten Generation aus einer vierzigjährigen Debatte. Sie hält das berühmte Wort von Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen", das auf die vielfältigen Triebkräfte abhebt, die eine moderne Zivilisation in die Barbarei geführt haben, für zu kompliziert, und sie greift beim Individuum an.

Ein Apologet bin ich gewiß nicht. Wenn diese Strukturen erst einmal entstanden, wenn die Institutionen, zum Beispiel die unabhängige Gerichtsbarkeit, und die öffentliche Meinung abgeschafft worden sind, laufen die Prozesse unter deutschen Bedingungen etwas effektiver als in vergleichbaren Ländern ab. Diese Erscheinung hängt mit der deutschen politischen Kultur, mit dem „Dienst im Gliede", zusammen. Das haben wir erfahren müssen. Ich habe die Faktoren genannt; sie sind hier angesprochen worden. Sie können jedoch nicht einfach darauf zurückgeführt werden, daß der Antisemitismus und der deutsche Nationalcharakter eine Verbindung eingegangen sind.

Wie kommt es denn zum Genozid in Bosnien? Gewiß hat der Holocaust dort eine ganz andere Größenordnung. Er lehrt mich aber, auf welche Weise politische Systeme von Leuten pervertiert werden, die auch noch behaupten, Idealisten zu sein. Wären es immer nur Antisemiten gewesen, die aus wildem Antisemitismus die Leute umgebracht hätten, wäre es ja noch einsichtig. Aber es sind Leute, die in einem Rausch und aus Lust Gewalt ausüben und töten, eine klare Motivation häufig indes nicht haben. Sie geben sich überhaupt keine Rechenschaft mehr, was sie tun. Das ist doch alles weit schlimmer, und diese Faktoren möchte ich herausstellen. Die Banalität des Bösen ist lästig. Selbstverständlich ist es sehr viel einfacher, zu sagen: Die Deutschen waren ja ohnehin immer ein ungewöhnliches Volk.

In dieser Angelegenheit sind die Historiker, ob das die israelischen, die amerikanischen, die englischen, die niederländischen oder die deutschen sind, eigentlich eines Sinnes. Sie sind insofern tief enttäuscht, als ihnen klargemacht wird: Auch wenn ihr die besten Bücher produziert, funktioniert es nicht. Da kommt so ein junger Mann daher, der hat eine verrückte Idee, die er bis ins letzte durchzieht. Er sieht nur einen einzigen Zusammenhang, an dem er starr festhält, und er mißachtet die Ergebnisse der Sekundärliteratur. Ihm gegenüber stehen die, die sich mehr als 40 Jahre bemüht haben, der Struktur des Systems auf den Grund zu gehen.

An zwei Beispielen möchte ich das deutlich machen: Raul Hilberg, der bekannte Holocaustforscher, dessen Ergebnisse Hannah Arendt beeinflußt, ihm jedoch schweren Schaden zugefügt haben, da er keinen richtigen Lehrstuhl in Amerika bekommen hat, war in den siebziger Jahren noch fest davon überzeugt, daß alle Deutschen Verantwortung trügen, alle von der Vernichtung der Juden gewußt hätten. Dann hat er seine grundlegende Studie über die Eisenbahner, die die Züge nach Auschwitz abfertigten, erarbeitet. Ihm ist dabei klargeworden: Die Leute gingen ihrer Arbeit nach, dachten jedoch nicht darüber nach, und es kam ihnen nicht in den Sinn, daß Auschwitz indessen eine Großstadt sein müßte.

Christoph Browning ist einen ähnlichen Weg gegangen. Als er sich mit dem Polizeibataillon 101 in Hamburg befaßte, wurde ihm bewußt: Die Leute, die das machten, waren unter normalen Bedingungen Polizisten wie alle anderen auch, angenehme Familienväter und gewiß keine Sadisten. Unter den spezifischen Bedingungen des Rassenvernichtungskrieges wurde dann diese Gruppe, nicht der normalen Deutschen, sondern der normalen Männer, plötzlich zu einer Bande von Mördern. Das ist das Problem, das uns interessiert, das wir begreifen müssen. Es ist sehr schwer zu erklären, warum in unserer Zivilisation in ganz kurzer Zeit aus Individuen Leute werden, die sich letzten Endes nicht mehr scheuen, Kinder zu erschießen und Frauen umzubringen. Es ist sehr schwer zu erklären, warum wir unter ihnen auf einige stoßen, die sadistische Akte vollbringen.

Darauf läuft die Kritik der Fachleute an dem Buch von Goldhagen hinaus. Mit der Gewalt dürfen wir so nicht umgehen. Im Zweiten Weltkrieg ist die Gewalt so ungeheuerlich, daß zwei Dinge eintreten könnten, wenn die Historiker sie wirklich schilderten: Entweder würde aus Abscheu niemand mehr ihre Bücher lesen wollen, worin der Sinn der historischen Arbeit nicht bestehen kann. Oder dies liefe darauf hinaus, bei den Lesern lediglich Betroffenheit und Schocks auszulösen, ohne zu einem Verständnis der zugrundeliegenden politischen Ursachen zu gelangen.

In der nächsten Zeit werden zwei grundlegende Bücher von Jörg Sandkühler und Dieter Pohl, die die „Aktion Reinhard" behandeln, herauskommen. Sie halte ich für weit wichtiger als den Beitrag von Goldhagen. Ich bin gespannt, was die öffentliche Meinung in Deutschland dazu sagen wird. Verbrechen können Sie in beiden Darstellungen in großer Zahl finden; sie sind nur nicht so ausgeschmückt und aufgemacht. Wir würden uns scheuen, für die Studien zum Holocaust eine Marketingmaschinerie in Gang zu setzen. Jede Manipulation muß vermieden werden. Das Buch von Goldhagen tendiert hingegen zur Manipulation, und es läßt die Frage außer acht, wie der Holocaust in die Wege geleitet worden ist. Das ist aber untentbehrlich, wenn man herausfinden will, unter welchen Bedingungen sich Vorgänge solcher Art wiederholen können.

Raul Teitelbaum

Da einige Fachhistoriker, so scheint mir, tief beleidigt sind, reagieren sie so scharf auf das Buch von Goldhagen.

Hans Mommsen

Wir sind nicht beleidigt, das ist nicht wahr!

Raul Teitelbaum

Neidisch auf den Erfolg wohl schon. Ich denke, die Deutschen reagieren so sehr auf das Buch von Goldhagen, weil sie sich beleidigt fühlen. Wie kann man den Deutschen vorhalten, sie hätten Millionen umgebracht, weil sie Antisemiten waren! Der Holocaust war die Folge von Gleichgültigkeit, von bürokratischem Perfektionismus, insbesondere von psychologischen Dingen, nicht jedoch die Folge einer Ideologie?!

Hans Mommsen

Auch!

Raul Teitelbaum

Meiner Ansicht nach wird in der historischen Forschung die Bedeutung von Ideologien in unserer modernen Gesellschaft unterschätzt. Nicht die Klassen sind es, wie Marx gesagt hat, die die moderne Gesellschaft in dramatischen Situationen lenken, sondern verschiedene Ideologien. Sie nehmen die Massen für sich ein und leiten sie. Nein, zum Holocaust trieb nicht ein wilder, deutscher Antisemitismus, sondern ein quasi wissenschaftlicher, rassistischer Antisemitismus. Mit den Pogromen in Rußland oder in der Ukraine hat er nichts gemein. Wir haben es mit einem wissenschaftlichen, biologisch auf die Rasse ausgerichteten Antisemitismus zu tun, dessen Wurzeln sich nicht nur in Nazideutschland, sondern auch im Kaiserreich befinden. Hitler hatte gute Lehrer, wenn man an sein Vokabular über die Juden denkt. Wir können es in verschiedenen Büchern von berühmten und populären Professoren, die an den deutschen Universitäten gelehrt haben, finden. Die zentrale Parole der Nazis lautete: Die Juden sind unser Unglück. Das ist ein Plagiat. Heinrich von Treitschke hat es bereits im 19. Jahrhundert ausgesprochen. Hier liegt der Unterschied. Wenn Sie sagen, es handelte sich um eine spezifische, neue Form des Antisemitismus, haben Sie recht. Für weit schrecklicher halte ich die Ansicht, daß fünf oder sechs Millionen Juden vernichtet wurden, weil die Bürokratie perfekt arbeitete oder vorherrschte. Die Eigenschaften, perfekt zu sein, sich benehmen zu können oder gehorsam zu sein, schreibt man insbesondere den Deutschen zu. Heute ist Deutschland nicht antisemitisch, aber diese Eigenschaften können die Deutschen immer noch haben. Aus diesem Grunde verstehe ich nicht, warum man sich so beleidigt fühlt. Und ich verstehe nicht, warum man es für Unsinn hält, daß der Antisemitismus zum Holocaust getrieben hat. Das ist nicht eine genetische Eigenschaft, sondern ein ideologisches Motiv.

Freimut Duve

Ich finde, das Wort Beleidigung ist der Form der Debatte in Deutschland unangemessen. Diejenigen, die die letzten 30, 40 Jahre ihres Lebens in der einen oder anderen Form damit konfrontiert worden sind, über den Holocaust zu diskutieren, sind auch nicht gekränkt.

Ich werfe Goldhagen die Nachlässigkeit vor, mit der er mit der Kategorie „genetische oder völkische Veranlagung" umgeht. Das ist eine Kategorie, die die Nazis, mithin die, die er entlarven möchte, biologistisch in dieses Land hineingetragen, aber auch aufgegriffen haben, da haben Sie völlig recht, Herr Teitelbaum. Ich werfe diesem Buch diese Unklarheit, diese Leichtfertigkeit im Umgang mit dieser Kategorie der kollektiven Veranlagung vor. Zu Recht haben es Herr Mommsen und Frau Miller entschieden zurückgewiesen, solche Überlegungen in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken.

Sie haben nicht gefragt, wie sich die Briten verhalten haben, ob sie die Erben eines zivilisatorischen Auftrags aus dem 19. Jahrhundert sind oder ob auch sie gesagt haben, wir Deutschen seien so, und die Juden seien unser Unglück. Ich halte es für wichtig, diese Debatte in diese Richtung zu lenken.

Peter Andersch

Wir müssen Daniel Goldhagen für dieses Buch dankbar sein. Er zwingt uns Deutsche, den Finger, mit dem wir inzwischen auf alle anderen zeigen, zu senken und nachzudenken, wie aus dem Volk der Dichter und Denker ein Volk der Richter und Henker werden konnte. So lautet die Frage, der wir uns immer wieder stellen müssen.

Hans Mommsen

Aber wir brauchen doch Goldhagen nicht, um diese Frage zu stellen!

Peter Andersch

Ja, Herr Mommsen, wir ersticken im Moment im historischen Detail, wenn wir den Ursachen nachgehen.

Hans Mommsen

Das ist unhaltbar!

Peter Andersch

Nein, ich will nur ein Beispiel nennen: Was Sie heute ausgeführt haben, konnte die „Endlösung" fast wie einen Betriebsunfall erscheinen lassen.

Hans Mommsen

Nein, es verhält sich genau umgekehrt.

Peter Andersch

Da die Krim nicht mehr frei war, haben Sie gesagt, mußten die Deutschen aus Bessarabien plötzlich nach Polen geschickt werden. Aber auch die Polen mußten ja irgendwohin. Was sollte jetzt mit den armen Juden geschehen? Ehe wir sie verhungern lassen, ist die Vernichtung vielleicht doch noch am menschlichsten. Wir ersticken im Detail. Die Vernichtung des jüdischen Volkes von 1933 an beginnt mit der systematischen Ausgrenzung, mit der gesellschaftlichen Vernichtung der Juden. Daher wußte der Eisenbahnschaffner natürlich: Das sind doch die mit dem gelben Stern, der Abschaum der Menschheit. Da drücke ich auf den Knopf, und dann fährt der Zug los. Das entsprach der Grundströmung in Deutschland; sie hat auch vor den Eliten nicht halt gemacht. Auch auf seiten der Christen, der Konservativen finden wir eine klammheimliche Sympathie. Treitschke wurde bereits angesprochen. Daß ein Mann wie Heidegger glaubte, sich an die Spitze dieser nationalen Bewegung setzen zu können, zeigt, wie weltfremd dieser Professor, der als der größte Philosoph der Gegenwart, dieses Jahrhunderts, gilt, gewesen ist. Was ich angeführt habe, war typisch für das, was hier abgelaufen ist. Wir müssen uns wieder fragen: Warum war das in Deutschland möglich, warum hießen die Täter nicht nur Himmler oder Eichmann, was die Kinder heute in der Schule lernen? Warum hat die große Mehrheit der Deutschen geschwiegen? In Zukunft müssen wir ein solches Verhalten aus den Deutschen herausbekommen. Das halte ich für wichtig. Und deshalb hat dieses Buch, das wie ein Donnerschlag aufgerüttelt hat, Gewicht.

Hans Mommsen

Was Sie zu Anfang ausgeführt haben, entspricht einer breiten Subströmung in Deutschland: Wir brauchen keine historische Erkenntnis, wir brauchen einfache Wahrheiten, mit denen wir leben können. Wenn wir diesem Ansatz folgen, benötigen wir die Historiker nicht mehr. Wir müssen die Ursachen, ebenso die einzelnen Fakten untersuchen. Sie wollen die Wahrheit, die historische Wahrheit nicht hören. Sie wollen die Trivialität dieser Prozesse nicht akzeptieren, Sie sind vielmehr auf Mythen aus, die die Historiker jedoch nicht liefern. Das ist der Streitpunkt. Die Historiker sind nicht beleidigt. In diesem Lande stellt der Ausdruck „die Historiker" bereits ein Pejorativ dar. Wenn die Historiker urteilen, jenes Buch ist ein schlechtes Buch, wird nicht etwa gefragt, ob die Historiker womöglich recht haben. Vielmehr wird gesagt: Die Historiker sind beleidigt! Die Reaktion derjenigen, die keine Historiker sind, auf diejenige der Fachleute weist auf das hohe Maß an Feindschaft gegenüber der Intelligenz. Es bestimmt diese Gesellschaft seit den Tagen Hitlers.

Jane Caplan

Allmählich fürchte ich, daß nur noch schlechte und vereinfachende Bücher gelesen werden und Erfolg finden können. Vor drei Jahren kam das vortreffliche Buch von Christopher Browning, das auch eine weite Verbreitung fand, heraus. Da es jedoch nicht sensationell geschrieben worden war, zog es keine Debatte nach sich.

Heinz Kluncker

Ich spreche als heranwachsender Zeitzeuge. Ich bin 1925 geboren und 1931 in die Schule gekommen. Im Unterschied zu Herrn Tunsdorf wußten wir in unserer Klasse alle, wo die Juden saßen. Einer saß neben mir. Wenn ein neuer Schüler in die Klasse kam, hat der Lehrer nämlich jedesmal die Religion in das Klassenbuch eingetragen.

Vor kurzem war ich in den Vereinigten Staaten. In den sechs Universitäten, die ich besucht habe, wurde sehr kontrovers über Goldhagen diskutiert. Ich bin ihm dankbar. Ich will auch sagen, warum. Ich erinnere mich an den Soziologenstreit in den achtziger Jahren, an den Historikerstreit - ich bezeichne ihn einmal so - zwischen Soziologen, Philosophen und Historikern, dessen Protokolle ich nachgelesen habe. Da hatte nur der die Erkenntnis, der die richtige Fachdisziplin hinter sich hatte. Manche Geschichtsbetrachtung, dessen bin ich mir sicher, hat nicht gerade dazu beigetragen, daß breite Bevölkerungsgruppen einen Zugang zu manchen Antworten fanden. Insofern hat das Buch von Goldhagen etwas bewirkt, auch wenn es methodische Schwächen aufweist.

Je mehr ich mich mit ihm beschäftige, um so mehr werde ich an meine Vergangenheit erinnert. In der Schule hatten wir samstags keinen Unterricht mehr, sondern mußten in Marschformation antreten. Und jeden Samstag sangen wir mit unseren Lehrern: „Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann ist mir gar so wohl." Ich habe das Lied leider mitgegrölt, wofür ich mich heute noch schäme. Ich habe zwei Kinder, meine Tochter ist 1953 geboren, mein Sohn 1964. Von beiden, auch von ihren Mitschülern, habe ich etwas über die Aufarbeitung des Dritten Reiches erfahren wollen. Hier liegt die eigentliche Schuld. Es bedurfte immer erst eines bestimmten Anlasses, wie zum Beispiel der Befreiung der Konzentrationslager, daß Fragen an die Eltern gestellt wurden. Meine Schulbücher, meine Fibeln aus der Zeit des Dritten Reiches habe ich noch. Was in ihnen über die Juden steht, ist für mich genauso aufschlußreich wie die Originalausgabe des Buches über den Nürnberger Parteitag der NSDAP im Jahre 1933, das in unserer Schule verteilt wurde. Was in ihm über die Judenfrage geschrieben wurde, hat mich ebenso angekotzt wie die Tatsache, daß die Welt geschwiegen hat, als Hitler die Olympiade in Berlin eröffnete. Und die Jugend der Welt mußte sich diesen Quatsch, dieses Umfeld ansehen. Ich hoffe, der folgenden Generation werden moderne, lesbare Bücher vorgelegt, die sie anzuregen vermögen, Kritik zu üben.

Wiesner

Ich habe das Buch nicht gelesen, halte es aber für wunderbar. Es bringt doch nur zum Ausdruck, was eigentlich jeder sagen könnte, daß er nämlich ein wenig mitbeteiligt war, indem er die Vernichtung von Existenzen, die Zerstörung von Synagogen duldete. Jeder Mensch ist also auch ein bißchen schlecht. Wenn wir heutzutage in die Medien sehen, stoßen wir auf sehr viele Menschen, die ein bißchen schlecht sind. Vorhin erwähnten Sie, Herr Duve, Bosnien und die Konventionen, die der Verhütung und der Bestrafung von Völkermord gelten. In ihnen steht auch, daß sich kein Täter, folglich auch kein Staatschef, davor drücken kann, vor Gericht gestellt zu werden. Tun Sie das bitte! Und tun Sie es nicht nur in Bosnien, sondern auf der ganzen Welt! Hierzu möchte ich Sie auffordern. Schaffen Sie ein richtiges Weltgericht, woraufhin sich kein Staatschef - weder in der Türkei noch anderswo - erlauben kann, Menschen umzubringen und zu foltern.

Barbara Söhngen

Goldhagen meint, die Deutschen seien ein Volk von Tätern. Herr Teitelbaum sprach von Indifferenz, von Gleichgültigkeit. Ich habe das Buch von Goldhagen nicht gelesen, möchte jedoch auf eines hinweisen, das ich im „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" gefunden habe. Es stammt von Stefan Weiden, der eigentlich Stefan Weidenreich hieß und das Glück hatte, noch 1937 aus Berlin auswandern zu können. Später hat er den Namen Weiden angenommen. Später ist er vor allem der Lebensgeschichte einer Klassenkameradin, deren grauenvollem Schicksal, dessen er sich zu Anfang nicht bewußt war, nachgegangen. Sie hieß Stella. Den meisten ist sie aber wohl als Stella, die Greiferin von Berlin, bekannt. Mit Grauen hat er festgestellt, daß diese Stella 300 bis 1200 Juden, Mitschüler mosaischen Glaubens, Freunde, Verwandte und Unbekannte den Nazis ausgeliefert hat. Ich will mir kein Urteil erlauben. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte, wäre ich vorher tagelang gefoltert worden und hätte man mir gedroht, meine Familie zu deportieren. Dieses Buch beschreibt sehr gut, was in der damaligen Zeit in Berlin geschehen ist. Es hat mir einen Schock versetzt, wie gleichgültig sich meine Familie, die Deutschen, die ganze Welt verhalten haben. Aus diesem Buch habe ich auch erfahren, daß in Evian in Frankreich 1938 eine internationale Konferenz stattgefunden hat, in deren Verlauf die politische Elite von 32 Nationen darüber verhandeln wollte, welches Land wie viele Juden aufnehmen könne. Die Teilnehmer der Konferenz haben Golf, sie haben Tennis gespielt. Die Jüdische Weltkonferenz hatte lediglich fünf Minuten Zeit, um ihr Anliegen vorzutragen. Es hat niemanden interessiert, obwohl alle wußten, was in Deutschland vorging. Nachdem ich das gelesen hatte, habe ich das Buch angewidert weggelegt.

Ich bin Jahrgang 1952. Ich habe das nicht miterlebt, mich jedoch gefragt, wie so etwas möglich sein konnte. Ich habe mich gefragt, wie sich Präsident Roosevelt, der immer in einem guten Licht erscheint, so verhalten konnte. Die Amerikaner haben noch nicht einmal zehn Prozent der Quote, die sie zugesagt hatten, aufgenommen.

Hans Mommsen

Eine internationale Konferenz, die die Auswanderung von Juden betraf, fand tatsächlich in Evian statt. In ihrem Verlauf bemühten sich die Amerikaner, die die Einwanderung immer einschränken wollten, das Problem auf die internationale Ebene zu schieben. Bevor Sie nun den Mächten vorwerfen, in Evian nicht gehandelt zu haben, müssen Sie sich die Situation vor Augen führen: Zu dieser Zeit konnte man noch nicht klar erkennen, was die Deutschen in der Judenfrage tun würden. Und im übrigen hatte das Rublee-Komitee mit Göring über die Finanzierung der Auswanderung verhandelt. Darüber hinaus übte die Drohung Hitlers, im Falle eines Krieges das Judentum auszurotten, einen starken Druck auf die Westmächte aus, die deutschen Juden aufzunehmen. Mehr noch zögerten sie jedoch, weil sie damit rechneten, auch die polnischen Juden aufnehmen zu müssen, wenn man sich einmal bereit erklärt hatte, den deutschen Juden Aufnahme zu gewähren. Im Hinblick auf den polnischen Antisemitismus in derselben Zeit und auf die Unlösbarkeit des Problems, handelte es sich doch nunmehr um mehrere Millionen, ist man dann nicht weitergekommen.

Sie können selbstverständlich moralische Vorwürfe erheben, sollten jedoch die Dinge im Zusammenhang begreifen. Roosevelt hat in der Judenfrage eine sehr progressive Haltung eingenommen. Es stellte wirklich ein riesiges Problem dar, wollten doch die Deutschen 400.000, die Polen sogar 1,8 Millionen Juden abschieben. Welche Lösung hätte es denn geben sollen, in einer Zeit, in der die Wirtschaftskrise noch nicht vollständig überwunden worden war. Diese Fakten muß der Historiker anführen. Natürlich hat man in gewisser Weise versagt. Aber wo in Südamerika oder in Kanada hätte denn das jüdische Territorium, das damals in Evian beschlossen worden ist, liegen sollen? Wollen Sie im nachhinein ein solches jüdisches Gebiet, um die internationale Judenfrage zu lösen? Solche Probleme sind viel zu komplex, um sie einzig unter moralischen Gesichtspunkten anzugehen.

Raul Teitelbaum

Vor mehr als 51 Jahren bin ich aus Bergen-Belsen befreit worden. Indessen bin ich der Antwort auf die Frage, wie so etwas geschehen konnte, nicht näher gekommen. Und zum Schluß möchte ich einen Satz von Professor Eberhard Jäckel anführen: „Die Deutschen sind von Hitler befreit worden, werden ihn jedoch niemals los."

Jane Caplan

Im „Haus der Geschichte" habe ich eine kleine Broschüre aus dem Jahre 1945 gefunden, die die amerikanische Militärregierung für ihre Soldaten bestimmt hatte. Sie enthält ganz einfache Worte über die Deutschen. Goldhagen hat uns, das hat mich diese Broschüre gelehrt, in die vierziger Jahre zurückgeworfen. Vielleicht war das seine Absicht. Wir brauchen jedoch eine nüchterne Aufarbeitung der Geschichte, an die wir durchaus mit Emotionen herangehen können. Hierin sehe ich keinen Gegensatz. Auf Sensationen sollten wir jedoch nicht aus sein, denn sie helfen der Debatte nicht.

Ignatz Bubis

Manchmal bedarf es der Sensation, um etwas in Gang zu bringen, wie schlecht das Buch auch ist. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß Befehle mehr oder minder nicht bekannt gewesen sind. Jedoch haben sich Tausende von Angeklagten auf Befehle berufen, was zu mildernden Umständen führte. Offensichtlich hat es diese Befehle, die es nicht gab, für die Täter doch gegeben.

Frank Schirrmacher

Ich kann den Dank, der Goldhagen hier ausgesprochen worden ist, nicht teilen. Ich habe diese geölte Medienmaschine von Anfang an mitbekommen. Jenseits der Debatte wirft der Erfolg dieses Buches ernste Fragen auf. Es geht nicht nur um methodische Fragen. Das Buch enthält auch eklatante Fehler, die Geschichtsfälschungen zum Teil nahekommen. Goldhagen stellt zum Beispiel die Behauptung auf, die Wehrmacht habe sich geweigert, Politkommissare umzubringen, weil sie keine Juden seien. Da die Medienmaschine so gut funktioniert, könnte mit demselben Impetus ein Buch annonciert werden, das uns alle Mörder nennt. Die Medienmaschine würde von neuem funktionieren, wenn uns alle ein Buch in fünf Jahren für unschuldig erklärte. Ich glaube, das Buch von Goldhagen stellt ein Medienphänomen auf dem Gebiet der Wissenschaft dar. Darin sehe ich etwas Neues.

Freimut Duve

Ich möchte allen, die an der Diskussion teilgenommen haben, danken. Wir haben eine spannende Debatte erlebt, die wir auch Herrn Goldhagen zu verdanken haben.

In den letzten vier Jahren habe ich aber auch erfahren müssen, wie viele Historiker und Publizisten, die mir immer von der Vernunft geleitet schienen, auf einmal bereit waren, ethnische und völkische Behauptungen zu akzeptieren, um den Massenmord und die Massaker in Bosnien zu begründen. Gleichermaßen irritiert habe ich deren Forderung aufgenommen, ihnen „einzugestehen", getrennt zu leben, wenn sie nicht zusammenleben wollen. Die Akzeptanz von „ethnischen Behauptungen" entsetzt mich, wenn ich an die 1,5 Millionen Mischehen und die Kinder, die aus ihnen hervorgegangen sind, denke. Es entsetzt mich, wenn Leute, die bisher gegen Rassismus und Apartheit eingetreten sind, nunmehr die Apartheid als Trennungsterror in Bosnien akzeptieren. Hierin sehe ich einen Zusammenhang mit dem Thema, über das wir heute diskutiert haben.


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