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[Seite der Druckausg.: 7 ]


2. Vor dem Verkehrskollaps?

Verkehrsprobleme sind keine Erscheinung der heutigen Zeit. Allerdings haben die Probleme mit der massenhaften Verbreitung des motorisierten Individualverkehrs drastisch zugenommen. Zur Erfüllung der Verkehrsaufgaben und zur Lösung der Verkehrsprobleme gibt es im städtischen Personenverkehr die vier Verkehrsarten: Fußgänger, Radfahrer, Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und den motorisierten Individualverkehr (MIV). Jedes dieser Verkehrsmittel bietet Vor- und Nachteile. Daher sind die Probleme ohne ein Miteinander nicht zu lösen.

Der Besitz eines eigenen Autos stand auf der Wunschliste der Bürger der ehemaligen DDR obenauf. Nach dem Erreichen der Volljährigkeit gab quasi jeder Bürger auf der Vertriebsstelle für Pkw seine Bestellung ab. Man hatte dann die Chance, nach 10 bis 15 Jahren ein Fahrzeug zu erhalten, manchmal mußte man sogar 20 Jahre warten. Nach der Wende hat sich die Situation völlig verändert. Inzwischen werden den Bürgern die Autos förmlich "aufgedrängt". Die ganze Entwicklung dokumentiert sich in einem Massenbestand an Pkw in Ost- und Westdeutschland, von 39 Mio. Fahrzeuge Ende 1993.

Wie sich die Probleme speziell in Dresden zugespitzt haben, zeigt die Veränderung des Modal Split. Die DDR-Motorisierungsprognose, die für das Jahr 2000 eine Verkehrsaufteilung von 50:50 bei einem Motorisierungsgrad von 288 Pkw pro 1000 Einwohner vorhergesagt hatte, wurde inzwischen deutlich von der Realität überholt: Von 1987 zu 1991 veränderte sich das Verhältnis ÖV:IV von 56:44 auf 36:64. Der erwartete Pkw-Bestand pro 1000 Einwohner lag bereits 1990 mit 290 Einheiten erheblich über dem DDR-Prognosewert und ist 1992 bereits auf einen Wert von 317 Pkw pro 1000 Einwohner hochgeschnellt.

Ein weiteres Problem, das sich mit dem Pkw verbindet, ist der sogenannte ruhende Verkehr. Unter der Annahme, daß ein Pkw pro Jahr 15.000 km zurücklegt, bewegt sich das Fahrzeug ganze 12,5 Tage pro Jahr, wenn man von einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 km/h ausgeht. Es muß daher eher von einem "Standzeug" als von einem "Fahrzeug" gesprochen werden.

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Mit den derzeit auf dem Markt angebotenen Fahrzeugen ist es energetisch und schadstoffmäßig außerordentlich ungünstig, wenn auf städtischen Hauptnetzstraßen in Verkehrsspitzenzeiten im Stop-and-Go-Verkehr gefahren werden muß. Ebenso negativ wirken sich hohe Geschwindigkeiten aus; dementsprechend erscheint die Einführung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen sinnvoll. Günstiger sind dagegen die Verkehrsabläufe in Tempo-30-Zonen bei geringen Verkehrsstärken; dies verdeutlichen z.B. Untersuchungen in Berlin und Buxtehude.

Ein ähnliches Bild zeigt sich an lichtsignalgesteuerten Knotenpunkten Im Straßennetz, wenn die Kapazitätsgrenze überschritten wird: Wartezeiten, Kraftstoffverbrauch und Schadstoffbelastung steigen überproportional an. Bei Übersättigung erhöhen sich die Verbrauchs- und Emissionswerte um ein Vielfaches, obwohl die Verkehrsstärke nicht im gleichen Maße steigt.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß der Verkehr unwirtschaftlich und umweltfeindlich wird, wenn er bestimmte Grenzwerte überschreitet. Die Überschreitung der Kapazitätsgrenzen gehört inzwischen aber zum Alltag. Daraus muß nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, den Autoverkehr ganz zu verbieten. Die Verkehrsmenge muß jedoch wieder unter die kritische Grenze gebracht werden.

Ein kurzer Ost/West-Verkehrsvergleich macht deutlich, daß sich die Bürger aus den alten Bundesländern oft (noch) nicht über die volle Tragweite der Verkehrsprobleme im klaren sind, u.a. deshalb, weil ihnen im Vergleich zu den neuen Ländern ausgezeichnete Verkehrsanlagen zur Verfügung stehen. Dagegen sind die Verkehrsanlagen in den Beitrittsländern teilweise genauso marode wie viele andere Bereiche. Besonders auffällig ist, daß der Fahrradverkehr in den alten Bundesländern vielerorts stark gefördert wird. Dagegen besteht in den fünf neuen Ländern auf diesem Gebiet ein großer Nachholbedarf.

Beim motorisierten Individualverkehr sind die Kapazitäten in den alten Ländern ausgeschöpft. Dagegen kann man für die ehemalige DDR im nachhinein feststellen, daß auf schlechten Verkehrswegen im Prinzip ganz ausgezeichnete Verkehrsflußbedingungen bestanden. So schön oder so ruhig das Autofahren zu DDR-Zeiten war, so wird es nie wieder sein.

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Die Versorgung der alten Bundesländer mit ÖPNV-Angeboten hat einen hohen Qualitätsstandard. In der ehemaligen DDR wurde sehr großer Wert auf den ÖPNV gelegt und sich bemüht, die bestehenden Netze zu erhalten. Zwar waren Verkehrswege und -mittel häufig heruntergewirtschaftet, aber im Prinzip war die Netzstruktur ausgezeichnet. Die Tarife des ÖPNV waren in der ehemaligen DDR sehr niedrig, sie wurden aber inzwischen denen der alten Länder angepaßt. Auch diese drastischen Tariferhöhungen dürften mit zum verstärkten Umstieg auf den motorisierten Individualverkehr beigetragen haben.

Betrachtet man das Beziehungsgeflecht Wohnen-Arbeiten/Ausbildung-Einkaufen, so zeigt sich, daß der Drang aus der Stadt in den alten Bundesländern zu höheren Verkehrsbelastungen geführt hat. Dagegen kann für Ostdeutschland festgestellt werden, daß der Bau von Trabantenstädten - trotz der verpönten Plattenbauweise - wegen der damit verbundenen Bündelung der Verkehrsströme ökologisch und verkehrspolitisch besser als eine völlige Zersiedelung war.

Beim Güterverkehr wurde in der ehemaligen DDR per Gesetz die Benutzung der Eisenbahn als Verkehrsmittel vorgeschrieben. Zur Lösung von Transportaufgaben existierte eine spezielle Abteilung beim Zentralen Forschungsinstitut des Verkehrswesens, die sich nur mit Fragen des Güterverkehrs beschäftigte.

Zu den ersten Empfehlungen, die nach der Wende den neuen Bundesländern gegeben wurden, gehörte der Ratschlag: Ihr dürft unsere Fehler nicht wiederholen. Die Antworten auf die Frage, welche Fehler vermieden werde sollen und wie dies bewerkstelligt werden könne, fielen zum Teil ganz trivial aus: Ihr dürft eure Straßenbäume nicht fällen. Oder: Ihr dürft die Bereiche Wohnen und Arbeiten nicht trennen. Vielfach können diese Ratschläge allerdings nur als zynisch aufgefaßt werden. Bei der derzeit extrem hohen Arbeitslosigkeit und bei weiter schrumpfender Arbeitsplatzanzahl kann die enge Zuordnung von Wohnen und Arbeiten nicht die Maxime des individuellen Handelns sein. Vielmehr erscheinen in dieser Situation auch lange Wege zur Arbeit akzeptabel und zumutbar.

Bis heute ist der "Kollaps" im Verkehr noch nicht eingetreten. Es gibt zwar immer wieder kritische, oft zeitabhängige Zustände, die bedenklich sind. Unter der realistischen Annahme, daß der motorisierte Individualverkehr von einem

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großen Teil der Bevölkerung gewollt ist, müssen deshalb Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse getroffen werden. Solche Maßnahmen sind u.a.:

  • Verkehrsverlagerung

  • Qualitätsverbesserung des ÖPNV (z.B. getrennte Fahrspuren für den ÖPNV und Individualverkehr)

  • Restriktionen im motorisierten Individualverkehr als notwendiger Bestandteil der Verkehrspolitik
    Die städtischen Behörden müssen in diesem Zusammenhang auf verkehrsorganisatorische Maßnahmen zurückgreifen. Dabei können u.a. Steuerungen des ruhenden Verkehrs zur Einflußnahme auf den fließenden Kfz-Verkehr vorgenommen werden. Dosier- und Pförtneranlagen ermöglichen Begrenzungen der Verkehrsmenge, indem man den Autoverkehr im weniger sensiblen Bereich warten läßt, um den anschließenden mit Wohnungen und Geschäften gemischten Bereich von im Stau stehenden Fahrzeugen zu entlasten. Sicherlich ist die Maßnahme nicht sehr populär. Aber in den sensiblen Bereichen ist dadurch eine erhebliche Entlastung erreichbar.

  • Straßenausbau und -rückbau
    Wichtige Hauptnetzstraßen müssen einen bestimmten Ausbaustandard haben. Auf bestimmten Verkehrsrelationen sind Rückbaumaßnahmen Verkehrs- und umweltpolitisch wünschenswert.

  • Verbesserung der Fahrradanlagen

  • Verkehrsinformationssysteme

  • Veränderungen von Verkehrsverhalten und Verkehrsmoral

Auch in den neuen Bundesländern werden die Verkehrsverhältnisse in den Städten in Kürze eine Schwelle erreicht haben, wo es zu einem vernünftigen Verbund der Verkehrsmittel und -arten kommen muß. Nur auf die öffentlichen Verkehrsmittel setzen zu wollen, wäre genauso unrealistisch, wie allein auf dem Automobil zu beharren. Gebraucht werden abgestimmte Verkehrswege für alle Verkehrsarten: für den Fußgänger, für Radfahrer, für den ÖPNV und für den motorisierten Individualverkehr. Nur so kann die Lebensfähigkeit unserer Städte erhalten bzw. wiederhergestellt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2001

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