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[Seite der Druckausgabe: 67 / Fortsetzung]

4. Ausblick: die Bundeshauptstadt Berlin zu Beginn des nächsten Jahrhunderts

Berlin steht vor Entscheidungen, die seine Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten prägen werden. Dabei kann die Wirtschaftspolitik auf Landesebene Rahmenbedingungen setzen und zukunftsweisende Projekte unterstützen. Die Initiative für neue Produkte und damit Arbeitsplätze muß von den Unternehmen und Investoren ausgehen. Als Ergebnis der Tagung soll deshalb der Reformbedarf in Stichworten aufgezeigt werden:

  1. Reformen in Verwaltung, Finanzen, Gebietsverfassung

    Der Berliner Senat muß eine grundlegende Reform des Landes einleiten. Vor allem die Verwaltung muß kleiner und effizienter werden. Eine parlamentarische Debatte wird darüber Auskunft geben, welche Dienstleistungen in welchem Umfang der Staat seinen Bürgern bieten soll und wie dies zu finanzieren ist. Dabei geht es nicht nur um Einsparungen, sondern auch um eine neue Arbeitsteilung zwischen Verwaltung, Unternehmen und gemeinnützigen Institutionen. Die Landesfinanzen müssen saniert werden. Dazu müssen die Landesbeteiligungen zur Schuldentilgung und nicht zur Deckung des laufenden Defizits eingesetzt werden. Neben einem drastischen Personalabbau muß auch bei Serviceangeboten ein höherer Kostendeckungsgrad angestrebt werden. Subventionen sollten befristet und grundsätzlich degressiv gestaltet werden; Sinn ist es eine Starthilfe zu leisten. Investitionen sollten vorrangig der Gewerbeförderung dienen, sei es als Ansiedlungsanreiz oder zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Die Zusammenlegung der Berliner Bezirke muß genutzt werden, um eine neue Aufgabenteilung zwischen Senatsverwaltungen und Bezirken zu erreichen.

[Seite der Druckausgabe: 68]

  1. Zusammenarbeit zwischen Berlin und Brandenburg durch Staatsvertrag regeln
    Nach der gescheiterten Fusion ist eine Vereinigung der beiden Länder in der absehbaren Zukunft ausgeschlossen. Beide Landesregierungen müssen eine second-best-Lösung durchsetzen: Berlin und Brandenburg schließen einen Staatsvertrag, der die Beziehungen der Landesverwaltungen regelt und die Interessen in den wichtigsten Gebieten gegeneinander abgrenzt. Der Vertrag wird dabei über eine bloße Koordinierung hinausgehen müssen. Es werden in den zentralen Bereichen (Raum/Verkehrsplanung, Wirtschaftsförderung, Städtebau) gemeinsame Planungsbehörden zu schaffen sein, mit Regelungen über die Aufteilung von Aufgaben und Kosten, die für beide Landesverwaltungen verbindlich sind.

  2. Reform der Wirtschaftsförderung: neue Instrumente für lokale Ökonomien
    Die Wirtschaftsförderung des Landes muß zwei Ziele zugleich verfolgen:
    • Industrieunternehmen mit internationaler Produktpalette sind in die Stadt zu holen. Dabei geht es weniger um neue Fertigungsstätten, sondern um die Ansiedlung wertschöpfungsintensiver Unternehmensteile wie F&E, Marketing, Finanzierung. KMU, die sich auf solche produktionsnahe Dienstleistungen spezialisiert haben, müssen eine wichtigere Rolle spielen.
    • Lokale Ökonomien und Produktionskreisläufe müssen durch gezielte Förderung von Low-Tech-Innovationen unterstützt werden, da sie den Arbeitsmarkt in kritischen Segmenten entlasten. Hier ist der Ansatzpunkt für staatliche Förderung von Risikokapital durch Programme, Kredite sowie Technologie- und Gründerzentren. Grundlage sollte das Innovationspotential junger Wissenschaftler aus der Region und das brachliegende Angebot an Facharbeiterqualifikationen sein.

  3. Kein gemeinsames Leitbild für Berlin, aber Dialog der Entscheidungseliten
    Leitbilder, wie das der WZB-Forschungsgruppe können helfen, Zielsetzungen und Entwicklungslinien zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Ein Leitbild wäre allerdings überfordert, wenn es einen gesellschaftlichen Konsens herstellen soll, der langjährige Regelungen zugunsten wichtiger Interessengruppen in Frage stellt. Berlin bedarf einer Debatte über Chancen und Probleme der Stadt. Ein Leitbild sollte daher Ausgangspunkt eines ständigen Dialogs sein.

[Seite der Druckausgabe: 69]

  1. Soziale Differenzierung begrenzen über aktive Arbeitsmarktpolitik
    In der Bundesrepublik findet seit der Vereinigung eine beschleunigte soziale Differenzierung statt. Durch das Schrumpfen alter Industrien und die anhaltende Rationalisierung von Fertigungs- und Verwaltungsabläufen sinkt der Anteil einfacher und nicht qualifizierter Arbeitsplätze. In Berlin verstärkt sich dieser Trend durch die bisher subventionierte Industriestruktur im Westen und durch den Zusammenbruch der Produktion im Osten. Einerseits steigen daher die Zahlen der Sozialhilfeempfänger, die dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt herausgefallen sind. Andererseits sinkt das Steueraufkommen durch Abwandern der einkommensstarken Wohnbevölkerung und moderner Fertigungsbetriebe. Für Berlin besteht die Gefahr einer Abkopplung ganzer Bevölkerungsschichten bzw. ganzer Stadtteile vom Arbeitsmarkt und damit vom Erwerbseinkommen. Dies belastet nicht nur den Landeshaushalt über wachsende Transferleistungen, sondern zerstört auch das labile soziale und politische Gleichgewicht der Stadt. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik kann eine Brückenfunktion erfüllen, wenn es gelingt, die Projektteilnehmer durch Qualifizierung auf die veränderten Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes vorzubereiten.

  2. Berlin zum Zentrum der Ost-West Wirtschaftsbeziehungen machen
    Berlin liegt nur achtzig Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Damit liegt Berlin als östlichste Großstadt des vereinigten Deutschland am Rande Westeuropas und bildet gleichzeitig den Knotenpunkt einer nach Osten erweiterten Europäischen Union (und/oder NATO). Als politisches Zentrum des wichtigsten Handelspartners aller osteuropäischen Staaten bietet die Stadt alle Voraussetzungen für den Aufbau eines wichtigen Finanzplatzes im Osteuropa-Handel. In dieser Situation ergeben sich Probleme und Chancen für die Berliner Wirtschaftspolitik:
    • Ziel der Industrieforderung sollte der Aufbau einer internationale Arbeitsteilung in der Region sein: In Berlin siedeln sich Unternehmen, die in Osteuropa produzieren bzw. dort Absatzmärkte erschließen wollen, mit zentralen Unternehmensfunktionen (Marketing, Rechtsberatung, Finanzierung) an. In Brandenburg werden hochwertige Produktionsbereiche (Präzisionsfertigung, Logistik, Kundendienst) ihren Platz finden. Arbeitsintensive Produktionsschritte (standardisierte Fertigung, Montage) erfolgen in einem mittelosteuropäischen (z.B. polnischen) Partnerunternehmen.
    • Die Verwaltung baut in Zusammenarbeit mit Kammern und Verbänden ein Netzwerk auf, das diese Wirtschaftsstruktur durch maßgeschneiderte Beratungsleistungen unter-

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      stützt. Dazu gehören Serviceleistungen wie Sprachausbildung / Übersetzungen, internationale Rechtsberatung, Vermittlung von Kooperationspartnern über Datenbanken mit Unternehmensprofilen. Auf Landesebene werden Rahmenbedingungen über bilaterale Projekte wie z.B. ein Börsenverbund Berlin und Warschau geschaffen.

    • Die Arbeitsmarktpolitik muß die Migration aus Osteuropa, vor allem innerhalb einer erweiterten EU, in Rechnung stellen
    • Berlin muß seine internationale und vor allem europapolitische Kompetenz und Außenwirkung erhöhen. Als Fürsprecher einer beschleunigten Osterweiterung sollte es die oben skizzierten Konzepte im Bundesrat und auf europäischer Ebene offensiv vertreten und versuchen, sie zur Grundlage von EU-Programmen und Pilotprojekten zu machen. Sollte es der Stadt gelingen, ein solches Dienstleistungsangebot zu entwickeln, kann das zu einem auch international akzeptierten Profil führen.

Der Berliner Wirtschaftssenator Pieroth hat im Jahreswirtschaftsbericht 1996 Berlin als Stadt bezeichnet, die „eine hervorragende Perspektive als Wirtschaftsstandort" hat. Die Stadt befindet sich heute allerdings eher in einem drastischen Strukturwandel, ohne daß bisher Konsens über die Defizite erzielt werden konnte, geschweige denn neue Konzepte umgesetzt wurden. Sollte sich Politik weiterhin auf das Verteidigen von Besitzständen und das Verwalten unzureichender Lösungen beschränken, wird auch der Regierungsumzug für die Stadt keinen Aufschwung bringen. Politik muß daher Anstöße geben und eine Diskussion einleiten, die, wie auch im Titel dieser Tagung deutlich wurde, die Frage nach konsistenten und tragfähigen Zielen für die Wirtschaftspolitik in Berlin stellt. Dazu muß ein offener Willensbildungsprozeß unter Teilnahme aller gesellschaftlichen Gruppen der Stadt angeregt werden, der Lösungen für die Probleme Berlins findet.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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