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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 1] 1. Chancen und Probleme des Übergangs zur Sozialen Marktwirtschaft Mit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern ist derzeit die Gefahr verknüpft, daß dieses vielschichtige Konzept, das aufgrund jahrzehntelanger Erfahrungen mit dem marktwirtschaftlichen System auf der Basis des Privateigentums an Produktionsmitteln entwickelt wurde, radikal vereinfacht oder gar verfälscht wird. Dabei wird vor allem die Eigenschaft "sozial" inhaltlich entleert. Um dieser Tendenz entgegenzutreten, ist es notwendig, die Kennzeichen der Sozialen Marktwirtschaft herauszuarbeiten und zu betonen. 1.1. Kennzeichen der Sozialen Marktwirtschaft Für das richtige Verständnis der Wortschöpfung "Soziale Marktwirtschaft" durch Müller-Armack ist es wichtig, daran zu erinnern, daß dieses wirtschaftspolitische Leitbild damals (1947) konzipiert wurde als neue, dritte Form zwischen der liberalen Marktwirtschaft auf der einen Seite und der Planwirtschaft auf der anderen. Wenn auch inzwischen die Soziale Marktwirtschaft nicht mehr als dritter Weg verstanden wird, so ist sie doch deutlich von der reinen Marktwirtschaft abzugrenzen, d. h. von einer Marktwirtschaft, auf die der Staat (die Wirtschaftspolitik) minimalen Einfluß nimmt. Im Extremfall ist ein solcher Staat als "Nachtwächterstaat" bezeichnet worden. Fünf Aufgaben der Wirtschaftspolitik sind besonders zu betonen; die ersten vier sind dabei im Grundsatz unstrittig; strittig ist aber der Umfang, in dem der Staat regulierend tätig werden soll.
Erst die Zuweisung mindestens der ersten vier dieser fünf Aufgaben rechtfertigt heute die Bezeichnung Soziale Marktwirtschaft. Diese Wirtschaftsordnung ist eben keine "reine Ordnung", in der alle wirtschaftlichen Entscheidungen dezentral von privaten Akteuren getroffen werden und deren durch den Marktmechanismus herbeigeführten Ergebnisse hingenommen oder gar als nicht verbesserungsfähig angesehen werden. Prof. Blum (Augsburg) wählte für die Veranschaulichung des Gegensatzes von "reiner" und sozialer Marktwirtschaft folgendes Bild: Die reine Marktwirtschaft läßt sich mit einem wilden Pferd vergleichen. Die zentrale Frage ist, ob wir ihm die Freiheit lassen, seinem eigenen Temperament und der angeborenen Leistungsfähigkeit zu folgen (freie Marktwirtschaft) oder es (aus sozialer, volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verantwortung) zügeln und zureiten sollen, damit es die gesellschaftlichen Ziele besser erreichen kann. Die Soziale Marktwirtschaft folgt der zweiten Alternative. Das bedeutet für die ostdeutschen Länder und die Ostblockstaaten, die sich möglichst schnell vom Sozialismus befreien und sich mit den Errungenschaften des Kapitalismus versorgen möchten, daß sie erst (wieder) das Reiten lernen müssen. Andernfalls besteht die Gefahr, Fehlentwicklungen zu wiederholen, denen die kapitalistischen Länder gerade mit einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft begegnen möchten. Eine Formel aus der Zeit des Sozialismus sollte deshalb auch für den Übergang zur marktwirtschaftlichen Ordnung beherzigt werden: Es kommt nicht darauf an, die kapitalistischen Länder einzuholen, sondern sie zu überholen. [Seite der Druckausg.: 4] Mit zwei Beispielen erläuterte Prof. Blum, was damit in der gegenwärtigen Situation gemeint sein könnte:
[Seite der Druckausg.: 5] 1.2. Bereiche notwendiger Reformen Das Ausmaß der Reformen, die für eine erfolgreiche Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in einer bisher zentral gelenkten Wirtschaft notwendig sind, ist im Vertrag zur Währungs- und Wirtschaftsunion zwischen der alten BR Deutschland und der damaligen DDR offensichtlich unterschätzt worden. Dies hat die seitdem einsetzende Talfahrt der ostdeutschen Wirtschaft sichtbar gemacht, woraus übrigens auch Lehren für die Staaten Osteuropas zu ziehen sind, die den gleichen Transformationsprozeß bewältigen wollen. Relativ reibungslos erfolgten folgende Reformen:
Die hier auftretenden Probleme und Verzögerungen erschwerten es der Wirtschaft in der ehemaligen DDR erheblich, der Anpassungsnotwendigkeiten und negativen Folgen Herr zu werden, die sich aus rasch erfolgten Reformen ergeben, nämlich insb. aus der ungeschützten, schlagartigen Einbeziehung dieses Gebiets in den internationalen Wettbewerb durch die Währungs- und Wirtschaftsunion ab 1.7.91. Anstelle des erhofften Strukturwandels fand daher zunächst im wesentlichen nur die Stillegung (und Vernichtung) von Produktionskapazitäten und Arbeitsplätzen statt. Die erwartete Schaffung neuer Arbeitsplätze im Bereich der Bauwirtschaft, des Handels und der Dienstleistungen (außer Banken und Versicherungen) blieb dagegen bisher weitgehend aus, denn:
1.3. Zur Frage des Reformtempos: Schocktherapie oder allmählicher Übergang? Zur Bewertung und Einordnung der Erfahrungen in den ostdeutschen Ländern scheint die Alternative "Schocktherapie" oder "allmählicher Übergang" ein guter Bezugspunkt zu sein. Diese Alternative spielt in der Diskussion um die Transformation bisher sozialistischer Volkswirtschaften Osteuropas eine gewichtige Rolle. Dabei sollte die Alternative für die Ordnungspolitik und der Ablaufpolitik getrennt betrachtet werden. Die Entwicklung in der ehemaligen DDR zeigt, daß eine alle Aspekte umfassende schlagartige Transformation gar nicht möglich ist. Im Bereich der Ordnungspolitik kann man zwar den juristischen Rahmen auf einen Schlag einführen, aber die Umstellung der Institutionen und Verhaltensweisen auf den neuen Rahmen erfordert Zeit. Bei der Ablaufpolitik bedeutet "Schocktherapie", daß man möglichst auf einen Schlag oder in kürzester Frist die gesamtwirtschaftliche Situation "transformiert". Diese ist in den sozialistischen Wirtschaftssystemen gekennzeichnet durch Nachfrageüberschüsse und Warenknappheit bei staatlich niedrig gehaltenen Preisen. In der ehemaligen DDR wurde diese Situation mit der Währungs- und Wirtschaftsunion schlagartig beseitigt: Durch die Umstellung auf DM stand plötzlich das gesamte Weltangebot an Waren zur Deckung der Nachfrage zur Verfügung. Durch den Umstellungskurs 1 : 1 ergaben sich bei den international gehandelten Gütern kaum Veränderungen des Preisniveaus; die Anpassung des Angebots an die Nachfrage erfolgte mithin im wesentlichen nicht durch Preissteigerungen, sondern durch Ausweitung des Angebots. Dieses kam allerdings von außerhalb, die einheimische Produktion ging und geht drastisch zurück. [Seite der Druckausg.: 8] Dieser Sprung von der Mangelwirtschaft in die Marktwirtschaft muß schlagartig erfolgen, damit die Schwächen und Fehlanreize der Mangelwirtschaft verschwinden, nämlich:
Ohne die Währungs- und Wirtschaftsunion hätte diese Transformation der gesamtwirtschaftlichen Situation wie in den Staaten Osteuropas durch Preisfreigabe bei gleichzeitiger Drosselung der Nachfrage durch restriktive Geld- und Fiskalpolitik erfolgen müssen. Wie das Beispiel Polens zeigt, führt auch dieser Weg zur Drosselung der Produktion und zu Arbeitslosigkeit, solange die steigenden Preise nicht zu einer Ausweitung des inländischen Angebots führen, weil sie von steigenden Preisen für Energie, Rohstoffe, Vorprodukten und Arbeit sowie durch den Abbau staatlicher Subventionen kompensiert werden und die Betriebe es außerdem nicht gewohnt sind, sich durch ansprechende Preise und Produkte im Wettbewerb zu behaupten. Der Subventionsabbau wiederum ist erforderlich, um das Staatsdefizit, das eine wichtige Quelle der Nachfrageüberschüsse darstellt, zu verringern. Die Situation verschärft sich noch, wenn gleichzeitig - wegen der steigenden Preise inländischer Güter - die Nachfrage sich verstärkt auf ausländische Erzeugnisse richtet, die relativ billiger werden, solange die Währung sich nicht entsprechend der Inflationsrate abwertet. Die Wirtschaftspolitik steht hier vor einem grundsätzlichen Dilemma: Damit sich Anreize und Verhaltensweisen in der für die [Seite der Druckausg.: 9] Marktwirtschaft geeigneten Weise ändern, muß einerseits möglichst rasch die gesamtwirtschaftliche Situation der Mangelwirtschaft beseitigt werden; außerdem müssen die Preise freigegeben werden. Die Preisfreigabe ist auch deswegen erforderlich, weil sich - so unterstrich insb. Prof. Kantzenbach - eine Wirtschaftsbürokratie nicht Schritt für Schritt selbst beseitigt. Andererseits sind die Institutionen und Verhaltensweisen nicht schlagartig herzustellen, die von den neuen Gegebenheiten aktiv und kreativ Gebrauch machen und so einen Einbruch von Produktion und Beschäftigung vermeiden helfen. Ob ein allmählicher Übergang, der den Änderungen von Verhaltensweisen und Institutionen viel Zeit läßt, einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet, ist sehr fraglich. Ein Erfolg dieses Transformationsweges setzte voraus, daß die einzelnen Reformschritte im voraus genau und unumstößlich festgesetzt werden. Dazu müßte ein Reformkonsens in der Bevölkerung bestehen, und der Regierung müßte große politische Standfestigkeit zugetraut werden, damit diese Festlegungen glaubwürdig sind. Die Sowjetunion bietet ein Gegenbeispiel zu diesen Voraussetzungen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001 |