FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Müller, Paul (1875 - 1925)

Geboren am 6. März 1875 in Kolberg als unehelicher Sohn einer Dienstmagd, verheiratet, protestantisch, später Dissident. Fuhr nach der Volksschule zur See als Schiffsjunge, Halbmann, Jungmann und Quartermeister auf Segel- und Dampfschiffen von Ost- und Nordseehäfen aus. Musterte neben der Reederei Mathis & Co., der HAPAG, der Hansa Bremen, der Süd-Amerika-Linie auch auf englischen Handelsschiffen an. Beherrschte mehrere Sprachen und eignete sich als Autodidakt umfangreiche Kenntnisse der deutschen und internationalen klassischen Literatur an. Seit dem 1. Oktober 1894 in Hamburg gemeldet. Musterte am 26. November 1896 endgültig ab und ließ sich zunächst in St. Pauli nieder.

Mitglied der Lokalorganisation "Verein der Matrosen von Hamburg, Altona und Umgebung". Mit seinen rhetorischen Fähigkeiten, seiner aggressiven Sprache, seinen radikal-egalitären Forderungen gewann Müller unter den gewerkschaftlich organisierten Hamburger Seeleuten rasch an Ansehen und drängte den Vorsitzenden Albert Störmer in den Schatten. Versierter Versammlungsredner, "beherrschte" alle gewerkschaftlichen und seemännisch relevanten Themen. Müller unterstützte von Hamburg aus die Konzentrationsbemühungen für eine nationale Seeleutegewerkschaft und leitete im Mai 1897 selbst koordinierende Gespräche zwischen den beiden goßen Lokalvereinen der Matrosen, Heizer und Trimmer sowie kleinen berufsständischen Organisationen. Nach dem Gründungskongreß vom 15. bis 18. November 1897 trat zum 1. Februar 1898 der "Seemanns-Verband für Deutschland" ins Leben. Als neue Vorsitzende fungierten die ehemaligen Leiter der beiden großen Hamburger Lokalorganisationen (Albert Störmer und Paul Müller). Beide legten statuarisch ihre lokalen Vorstandsämter nieder. Zum neuen Hamburger Vorsitzenden wählte die vereinigte Mitgliedschaft der Matrosen, Heizer und Trimmer Paul Müller. Am 4. Februar 1898 stellte die Hamburger Organisation ihn mit 25 Mark pro Woche hauptamtlich an; gleichzeitig votierten die Mitglieder für den Anschluß an das Hamburger Gewerkschaftskartell. Wahl Müllers zu einem der beiden Kartelldelegierten. Am 23. Mai 1898 zum Revisor des Kartells gewählt (keine Wiederwahl 1899). Der Hamburger Seemannsvorsitzende machte sich im Kartell für alle genossenschaftlichen - auf Arbeiterselbsthilfe ausgerichtete - Projekte stark. Er stand damit in der Hansestadt in einer Front mit den organisierten Handels-, Transport- und Gemeindearbeitern. Vor allem setzte er sich 1900 für die Errichtung eines Arbeitersekretariats ein und unterstützte vehement die Einrichtung eines paritätischen Arbeitsnachweises, um auch den parasitären Stellenvermittlern im Seemannsgewerbe ("Heuerbaasen") das Wasser abzugraben. Müller wollte allerdings die gewerkschaftlichen Dienstleistungen nicht auf Unorganisierte ausgedehnt wissen.

Wiederwahl zum Vorsitzenden der Hamburger Mitgliedschaft des "Seemanns-Verbandes in Deutschland" bis 1900, wobei die genaue Zahl "seiner" Mitglieder nie genau zu ermitteln war (1900: offiziell 2.077 Mitglieder, davon knapp die Hälfte zahlend). Am 21. Oktober 1898 in die gemeinsame nationale Agitationskommission der Seeleute und Hafenarbeiter gewählt, der allerdings nur ein kurzes Leben beschrieben war. (Die Agitation in abgelegenen Häfen übernahmen ab 1899 die örtlichen Gewerkschaftskartelle.) Vertrat seit November 1898 seine Organisation in der "Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger". Übernahm ab März 1899 die Redaktion des Verbandsblattes "Der Seemann. Organ für die Interessen der seemännischen Arbeiter", das weitgehend von ihm allein geschrieben und redigiert wurde. Hamburger Delegierter auf der 1. Generalversammlung seiner Gewerkschaft vom 9. bis 14. Januar 1899. Am 31. Januar 1900 übernahm Müller das Amt des 1. Vorsitzenden der Seeleutegewerkschaft von Albert Störmer, der gesundheitlich unter den Nachwirkungen seiner Choleraerkrankung litt. Der neue Vorsitzende drückte der Gewerkschaft deutliche seinen Stempel auf. Unter Müllers Federführung entwickelte sich das Verbandsorgan zu einem der verbalradikalsten Gewerkschaftsblätter, wobei die wenig nachgiebige Haltung der norddeutschen Reeder viel zur Schärfe des Tones beitrug. Die Geißelung unvorstellbarer Mißständen auf deutschen Schiffen, die Enthüllungen von Vorgesetztenwillkür und offenen Rechtsbrüchen machten das Blatt zu einer unüberhörbaren Stimme einer Berufsgruppe, die auf See sogar auf die sozialpolitischen Errungenschaften im kaiserlichen Deutschland verzichten mußte. Gleichwohl mischten sich im "Seemann" auch nationale Töne, die insbesondere die Weltmachtstellung Großbritanniens attackierten; "farbigen Eingeborenen" auf deutschen Schiffen machte Müller in seinem Blatt keine Konzessionen, ihre Probleme sollten durch ein generelles Anwerbungsverbot gelöst werden. Neben radikalen Tönen, die stets das "Herrenmenschentum" deutscher Reeder herausstrichen, mischten sich im "Seemann" zunehmend mehr reformistisch-evolutionäre Klänge, die Müller eher als gemäßigten Gewerkschafter auszeichneten: Revision der Seemannsordnung von 1902, Erweiterung der Schutzrechte der Seeleute, Ausbau der Krankenfürsorge durch Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung, staatliche Kontrolle und Aufsicht der Schiffahrtsbetriebe unter Mitwirkung der seemännischen Arbeiter waren die gewerkschaftlichen Themen, die sein Blatt dominierten.

Ständiger Mitarbeiter an den "Sozialistischen Monatsheften". Müllers Enthüllungsjournalismus fand im Oktober 1909 ein reichsweites Echo, als er in einem aufsehenerregenden Prozeß vor dem Hamburger Landgericht freigesprochen wurde, nachdem er im "Seemann" behauptet hatte, ein Reeder habe die kriminelle Versenkung eines Schiffes geplant. Müllers journalistischer Stil - in der Organisation nicht unumstritten - entsprach solange dem Bewußtsein der Mitglieder, solange die Organisation als gleichberechtigter Partner nicht anerkannt wurde und die Machtlosigkeit jedes einzelnen Seemannes auf hoher See evident blieb. In seiner Agitation griff er zu ungewöhnlichen Methoden und nutzte verbandseigene Aktien, um auf Aktionärsversammlungen der Reedereien den beinharten Kurs der Unternehmensleitungen gegenüber den Lohnforderungen der Seeleute anzuprangern. Bestätigung im Amt auf der 2. Generalversammlung vom 25. bis 28. Februar 1901 in Hamburg. Unangefochtene Wiederwahl als Vorsitzender bis zum 6. Verbandstag vom 24. bis 27. Mai 1909 in der Hansestadt (1904: 7.233 eingeschriebene und 3.189 zahlende Mitglieder). Neuer Verbandsname ab 1907: "Zentralverband seemännischer Arbeiter Deutschlands". Müller führte seine Organisation in mehrere Arbeitskämpfe. Vom 1. April bis zum 12. Mai 1906 hatten die Seeleute in Hamburg für einen tariflich festgelegten Mindestlohn gestreikt; ein Streik, der abgebrochen werden wußte, weil die Reeder die Gewerkschaft nicht als Verhandlungspartner akzeptieren wollten. Ein weiterer Streik Mitte Juli 1907, der letztlich die Anerkennung der Organisation erzwingen sollte, konnte wiederum nicht erfolgreich beendet werden. Es entsprach Müllers gewerkschaftlich-politischer Grundkonzeption, gegen den Widerstand einer innergewerkschaftlichen Opposition auf der 3. Generalversammlung vom 20. bis 23. April 1903 mehrheitlich den Ausbau einer innerverbandlichen Unterstützungskasse durchzusetzen. Die nicht zu übersehende Ohnmacht gegenüber einer "klassenbewußten" Kapitalseite ließen auch bei Müller Animositäten gegen einen Zusammenschluß der Gewerkschaften im Handels-, Transport- und Verkehrsgewerbe schwinden. Seine Unterschrift trug der Kartellvertrag der freigewerkschaftlichen Verbände der Hafenarbeiter, Seeleute, Eisenbahner, Heizer und Maschinisten sowie der Transportarbeiter, der Reibungsflächen bei Grenzstreitigkeiten mildern, gegenseitige Unterstützung bei Lohnbewegungen garantieren und den Weg für eine kommende Einheitsorganisation bahnen sollte (Inkrafttreten am 1. April 1905). Teilnehmer auf der Konferenz der Zentralvorstände der kartellierten Verbände vom 7. bis 8. September 1906 in Hamburg, auf der Müller starke Sonderrechte für die Seeleute reklamierte. Eine Konferenz der Seeleutevertreter hatte wenige Monate vorher einer Fusion nicht vor dem 1. Januar 1908 zugestimmt.

In allen gewerkschaftlichen Streitpunkten, die eher der Schwäche der organisierten Hafenarbeiter und Seeleute, denn ihrer Stärke geschuldet waren, stellte sich Müller unumwunden auf die Seite des "Verbandes der Hafenarbeiter Deutschlands" gegen den "Deutschen Transportarbeiter-Verband". Unter Müllers Leitung endete die Konferenz der kartellierten Vorstände am 25. März 1908 in Berlin ergebnislos. Der zuvor gefundene Vereinigungskompromiß scheiterte in letzter Minute; der Kartellvertrag ging 1909 in die Brüche, wobei sich schwer durchschaubare, persönliche Momente und verbandsegoistische Motive mischten. Einer der Architekten, die Zerbrochenes wieder richteten: Teilnehmer an der Vorständekonferenz der Hafenarbeiter, Seeleute und Transportarbeiter am 19. Oktober 1909 in Hamburg und einer Konferenz ausgewählter Delegierter am 13. Dezember 1909 in der Hansestadt, die die Einheitsorganisation der Hafenarbeiter, Seeleute und Transportarbeiter unter dem Dach des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" absegneten. Im Vereinigungsvertrag wurden Rolle und Funktion der ehemaligen Vorsitzenden in ihren alten Berufsgruppen besonders definiert. ("Die Leitung derselben liegt in den Händen von je einem aus diesen beiden Gruppen zu entnehmenden besoldeten Vorstandsmitglieder.") Wahl zum Sekretär auf dem gemeinsamen Verbandstag der Verbände der Hafenarbeiter, Seeleute und Transportarbeiter am 12. Mai 1910 im Gewerkschaftshaus zu Hamburg. Müller brachte als Vorsitzender 7.541 zahlende Mitglieder in die Einheitsorganisation ein.

1910 Umzug nach Berlin. Mit einer Auflage von 29.500 Exemplaren verabschiedete sich Müller Ende 1912 mit seinem Blatt "Der Seemann" von seinen Lesern. Ab 4. Januar 1913 zeichnete er als verantwortlicher Redakteur für "Die Schiffahrt. Organ für die Interessen der Seeleute, Binnenschiffer und Flößer Deutschlands" mit dem für Müller typischen Motto "Der Wahrheit zur Ehr, den Armen zum Schutz, den Mächtigen zum Trutz". Zum 1. Januar 1907 als Vertreter der Seeleute ins Reichsversicherungsamt als 1. nichtständiges Mitglied gewählt, wobei Müller seine umfassenden sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Kenntnisse einbringen konnte. Müller formulierte im Vorfeld des 8. Verbandstages vom 9. bis 14. Juni 1912 in Breslau das sozialpolitische Programm seiner Gewerkschaft. Hinter den bekannten Müllerschen Formulierungen ("Die Sozialpolitik ist nach proletarischen Begriffen Medizin gegen soziale Krankheiten, die unserem unter dem Einfluß der kapitalistischen Mißwirtschaft schwer leidenden Gesellschaftskörper anhaften") verbarg sich ein fortgeschrittenes Programm, das deutlich den strukturellen Wandel in einer der mitgliederstärksten Gewerkschaften Deutschlands signalisierte. Forderungen nach einer permanenten Revision der Reichs- und Landesgesetze, der Beseitigung der Machtbefugnisse der Behörden, der Ausdehnung der Gewerbegerichtsbarkeit, einer Anerkennung des Normalarbeitstages, dem Verbot der Nacht- und Sonntagsarbeit und weiteren umfassenden Reformen charakterisierten den Verband - trotz aller Rabulistik - als eine moderne, auf die Bedürfnisse der Mitglieder ausgerichtete Kampf- und Reformgewerkschaft. Neuland betrat Müller mit seiner Forderung für die Erreichung der gewerkschaftlichen sozialpolitischen Forderungen sich auch auf die bürgerlichen Parteien zu stützen. In realistischer Einschätzung der Stärke seiner Organisation warnte Müller in Köln 1905 auf dem Kongreß der Gewerkschaften Deutschlandas vor überzogenen Forderungen in Bezug auf den geplanten Massenstreik zum 1. Mai ("... möglichst bescheiden zu sein in der Propagierung der Arbeitsruhe"). Gleichzeitig nutzte er das höchste Gewerkschaftsparlament, um das uneingeschränkte Koalitionsrecht der seemännischen Arbeiter (Dresden 1911) einzufordern. Auf dem 9. Kongreß vom 22. bis 27. Juni 1914 bei der Wahl der Generalkommission aus der Versammlung heraus als Beisitzer vorgeschlagen, lehnte jedoch eine Kandidatur ab. Müller, ein großer Agitator mit hohen rhetorischen Gaben, war in vielen Fällen nicht Herr seiner eigenen Gefühle. Seine Gabe "auszuteilen", stand oft in keinem Verhältnis dazu, eigene "innere Verletzungen" zu überwinden. Drohte dem Vorsitzenden der Generalkommission, Karl Legien, auf dem 9. Verbandstag seiner Gewerkschaft vom 7. bis 13. Juni 1914 in Köln unverhohlen mit Abspaltung, nachdem ein Schiedsspruch über die Rekrutierung der Bierfahrer zuungunsten des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" ausgefallen war.

Neben der gewerkschaftlichen Bühne in Deutschland agierte Müller innerhalb seines internationalen Berufssekretariats und für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands an herausgehobener Stelle. Am 15. Februar 1898 als knapp Dreiundzwanzigjähriger auf einer Hamburger Seemannsversammlung zum "internationalen Vertrauensmann der Seeleute" gewählt, ein Amt, das in der Realität jedoch weiterhin vom Verbandsvorsitzenden Albert Störmer ausgeübt wurde. Nach einer kurzen Periode der internationalen Abstinenz engagierte sich der neue Seemannsvorsitzende gemeinsam mit den übrigen deutschen Vorsitzenden auch international, um die Internationale Transportarbeiter Föderation in den nationalen und internationalen Auseinandersetzungen zu nutzen. Delegierter auf der internationalen Konferenz in Paris vom 16. bis 20. September 1900, auf der die Delegierten weitgehend deutsche Reorganisationsvorstellungen billigten und den Internationalen Sekretär als hauptamtlichen Geschäftsführer bestellten. Zusammen mit dem Vorsitzenden der deutschen Hafenarbeiter, Johann Döring, zählte Müller nach dem verlorenen Antwerpener Hafenarbeiterstreik (Dezember/Januar 1900/1901) zu den scharfen Kritikern der Arbeitsweise der ITF. Auf der internationalen Seemannskonferenz vom 1. bis 2. Dezember 1902 konnte Müller weitgehend "deutsche" Arbeitsschwerpunkte durchsetzen (Verbesserung der Agitation, Arbeits- und Gesundheitsschutz der Seeleute, internationale Koordination gegen die Kartelle und Trusts im Gewerbe). Vor allem billigten die Delegierten die zentralistische Berufsorganisation als beste Organisationsform, ein persönlicher "Sieg" Müllers, der die deutschen "Zentralisten" an organisationspolitischer Rigorosität noch übertraf.

Teilnehmer auf der Vertreterkonferenz der deutschen ITF-Mitgliedsverbände Ende 1903, die die unzulängliche Führung der Gewerkschaftsinternationale bemängelte und ernsthafte Schritte für eine Ablösung einleitete. Deutscher Abgesandter auf einer Besprechung mit der alten britischen ITF-Führung im November 1903 in London, auf der die englischen Transportarbeitergewerkschafter einer Ablösung durch die deutschen Mitgliedsverbände zustimmten. Teilnehmer auf dem ITF-Kongreß vom 10. bis 12. August 1904 im Amsterdam. Der Kongreß billigte weitgehend deutsche Überlegungen: die fünf Personen des Zentralrates sollten von der Organisation gestellt werden, in der die ITF ihren Sitz hatte. Wahl Müllers zum Schriftführer der ITF auf der Vorsitzendenkonferenz der deutschen Mitgliedsverbände am 20. September 1904. Mitglied des Zentralrates der ITF bis zum faktischen Erlöschen der Organisation während des Krieges. Müller wandte sich auf den internationalen Kongressen 1906 in Mailand, 1908 in Wien und 1910 in Kopenhagen gegen die Idee eines allgemeinen Generalstreiks der Seeleute ("Weltstreik"), der unter den seemännischen Arbeitern stets virulent war. Er wollte internationale Solidarität vielmehr auf ein "Importstop" von Streikbrechern begrenzt sehen. Spätestens 1910 war die Generalstreikidee international nicht mehr zu unterdrücken und Müller suchte sie im eigenen Land als Drohung gegen die deutschen Reeder zu nutzen. ("Wir haben bekanntlich keinen Zweifel darüber aufkommen und bestehen lassen, daß uns in Deutschland das Weltstreikspektakel [...] förmlich anwidert [...] Aber das können wir den deutschen Reedern schon heute brieflich geben, daß wenn in Deutschland über kurz oder lang ein Seemannsstreik ausbricht, er lediglich auf Unbesonnenheit in deutschen Reederkreisen zurückzuführen sein wird.")

Müllers SPD-Karriere begann 1903 mit einem einstimmig gefaßten Beschluß der Wahlkreisleitung von Norder- und Süderdithmarschen-Helgoland-Steinburg (Wahlkreis 15), dem Seemannsvorsitzenden die Kandidatur für die kommenden Reichstagswahlen anzutragen. Zentralvorstand und Verbandsausschuß der Gewerkschaft billigten einmütig die Kandidatur ihres Vorsitzenden. Müller erreichte bei den Reichstagswahlen im 1. Wahlgang 41,9% der abgegebenen Stimmen und verfehlte in der Stichwahl mit 44,8% nur knapp ein Reichstagsmandat. Im gleichen Wahlkreis konnte er 1907 und 1912 zwar die absolute Zahl der für ihn im 1. Wahlgang abgegebenen Stimmen steigern (1903: 10.901; 1907: 11.138; 1912: 12.180), verlor jedoch an Stimmenanteilen. Müllers aggressive und militante Wahlveranstaltungen machten es den Bürgerlichen im Wahlkreis leicht, Ängste gegen ihn zu mobilisieren. Trotz politisch gegenteiliger Äußerungen kam er als Integrationsfigur für das linksbürgerliche Lager nicht in Frage.

Am 16. August. 1912 trat Müller nach dem enttäuschenden Reichstagswahlergebnis als Reichstagskandidat der Sozialdemokratie zurück. Insgesamt war sein Verhältnis zur Partei nicht ohne Spannungen. Vor allem seine Erklärung auf dem Verbandstag 1907, verschiedene bürgerliche Vertreter im Reichstag hätten seemännische Belange im Parlament besser vertreten, lösten im "Vorwärts" und anderen sozialdemokratischen Blättern einen Sturm der Entrüstung aus, der innerhalb der Seemannsorganisation allerdings solidaritätsstiftend wirkte. Verlor gleich nach Ausbruch des Weltkrieges sein Amt als Redakteur der "Schiffahrt", weil das Blatt aus ökonomischen Gründen eingestellt werden mußte. Schrieb künftig im "Courier". Der Leiter der organisierten Seeleute verteidigte die Kriegspolitik der freien Gewerkschaften, schwenkte alsbals ins alldeutsche anexionistische Lager ab. ("Schon heute weht die deutsche Fahne über Antwerpen, hoffentlich für immer.") Verteidigte den U-Boot-Krieg und die weitreichenden Kriegsziele des kaiserlichen Deutschlands. Seine Auftritte wurden während des Krieges von der Gewerkschaftsspitze geduldet. Gewerkschaftspolitisch verlangte Müller als Ausgleich für die Kriegsunterstützung die "volle Anerkennung unserer Klasse als politischer und wirtschaftlicher Faktor in Staat und Gesellschaft". Mit Zustimmung des Gewerkschaftsvorstandes trat Müller am 1. Januar 1918 als Beirat in den Dienst der Seeberufsgenossenschaft. Blieb Vorstandsmitglied der Gewerkschaft, siedelte jedoch nach Hamburg über.

Am 24. Januar 1918 von der Reichsregierung als ständiges Mitglied in den Reichsausschuß für den Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte berufen. Beide Ämter brachten ihm von der Parteilinken und der innergewerkschaftlichen Opposition scharfe Rügen ein, führten jedoch zu keiner nennenswerten Akzeptanz seiner Person in der Reederpresse. Verhandlungen mit den organisierten Seeleuten führten Mitte Dezember 1918 im "Deutschen Transportarbeiter-Verband" zur Rekonstruktion alter Verbandsstrukturen: den seemännischen Arbeitern billigte der Gewerkschaftsvorstand die Einrichtung einer eigenen Reichssektion (mit Sitz in Hamburg) zu. Eine Konstruktion, die auf Paul Müller zugeschnitten war. Teilnehmer im Januar und Februar 1919 bei den Friedensverhandlungen in Spa, Trier und Brüssel als Arbeitnehmervertreter bei den Gesprächen über die Auslieferung der Handelsflotte, gegen deren Reduzierung er sich mit Macht stemmte. Auf dem 10. Verbandstag des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" vom 22. bis 27. Juni 1919 mußte sich Müller heftiger Attacken erwehren. Die Gewerkschaftsopposition verlangte ultimativ seinen Ausschluß. Müller wurde vom Vorstand gestützt, zumal alle Seeleutevertreter loyal zu ihrem Leiter standen. Zeigte keine "Läuterung" und verteidigte nach wie vor seine alte Kriegspolitik. Übernahm am 6. September 1919 die Redaktion der wiederbelebten "Schiffahrt". In Hamburger Gewerkschaftsversammlungen warb er für angelsächsische Tarifstrukturen, tarifvertragliche Leistungen sollten nur Gewerkschaftsmitgliedern zu Gute kommen ("Organisationszwang"). Seit 1920 als Gewerkschaftsvertreter Mitglied des vorläufigen Reichswirtschaftsrates, arbeitete im wirtschafts- und sozialpolitischen Ausschuß der beratenden Kammer mit. Müller nahm - in der letztlich folgenlosen Debatte - über die Sozialisierung des Bergbaues zwischen Unternehmertum und Arbeitnehmervertretern eine Mittelposition ein, stand bei der Diskussion über die Förderung der produktiven Erwerbslosenfürsorge jedoch fest im Arbeitnehmerlager. Seit dem 1. Januar 1921 Vorsitzender des "Aktionsausschusses seemännischer Berufsverbände"; einem Zusammenschluß aus freigewerkschaftlichen und berufsständischen Verbänden (Mai 1921 ca. 28.000 Mitglieder). Gab seit Januar 1921 im eigenen Verlag das "Mitteilungsblatt des Aktionsausschusses seemännischer Berufsverbände" heraus, in dem er eigenständiges - der freien Gewerkschaftsbewegung meist fremdes - Gedankengut vertrat.

Während des gesamten Jahres 1920 häuften sich die Beschwerden von Mitgliedern gegen den Sektionsleiter der Seeleute. Aussprachen im November 1920 mit dem Gewerkschaftsvorstand blieben ergebnislos. Im Januar 1921 trat Müller selbst als Reichssektionsleiter zurück, machte jedoch einen "Rückzieher" und legte ein "Versöhnungspapier" vor. Freigewerkschaftliche und sozialdemokratische Positionen wurden am 2. Juni 1921 deutlich überschritten, als Müller in der Hamburger Börse die Reichsflagge beschimpfte und sie als "fremdfarbig" bezeichnete. Verurteilung Müllers auf der Seemannskonferenz vom 19. bis 20. Juli 1921 in Berlin, obgleich sich der gesamte Sektionsvorstand mit ihm solidarisierte. Antrag auf Ausschluß durch die Reichskonferenz. Austritt Müllers aus der Gewerkschaft und der SPD, der einen förmlichen Gewerkschaftsausschluß am 8. August 1921 nicht verhinderte. Gab ab 1. Oktober 1921 als Eigentümer im eigenen Verlag die "Deutsche Flagge. Zeitschrift zur Hebung der Seeschiffahrt, des Schiffsbaues, der Hochseefischerei und zur Vertretung der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Interessen der Arbeitnehmer aller Grade der Seeschiffahrt und Hochseefischerei Deutschlands" heraus, nachdem am 18. September 1921 in Hamburg "wahrhaft deutsch und national gesinnte Seeleute" einer entsprechenden Unternehmung zugestimmt hatten. Finanzierung der "Deutschen Flagge" durch umfängliche Reedereianzeigen. Vertrat politisch pointiert deutschnationale Positionen. Auf der 1. Reichskonferenz der deutschen See- und Fischerleute am 11. Dezember 1921 in Bremen zum Vorsitzenden des "Zentralverbandes Deutscher See- und Fischerleute" gewählt, einer Splittergruppe, die vergeblich den Anschluß an das liberale Gewerkschaftslager suchte (Geschäftsführer: Julius Lorenz).

Mit den Aufrufen für eine eigenständige, deutschnationale Sammlungsbewegung (mit sozialrevolutionären Untertönen), die in einer eigenen Partei münden sollte ("Partei der Deutschen") hatte Müller im Juli 1922 die Interessen seiner deutschnationalen Geldgeber deutlich verletzt. Am 26. Mai 1923 erschien sein Blatt (neuer Untertitel: "Deutsche Zeitschrift für Seeschiffahrt, Schiffbau, Hochseefischerei, Binnenschiffahrt und nationale Angestellten- und Arbeiterbewegung") mit der letzten Nummer. Fungierte bis 1924 als seemännischer Beirat in der Seeberufsgenossenschaft. Verzog 1925 ins preußische Altona. Arbeitete seit Beginn des Jahres 1925 im Schiffsmaklerbüro der Firma Petersen & Volckens als Kaufmann. Paul Müller starb am 7. Oktober 1925 im Hamburger Freimaurerkrankenhaus an Darmkrebs.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

Previous Page TOC Next Page