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1910

1910 / 1914

Im Rückblick schildert Paul Umbreit 1915 die negative Atmosphäre, unter der die Gewerkschaften in den Vorkriegsjahren arbeiten mußten.
"Immer enger zogen die Behörden und Gerichte das Netz über den Gewerkschaften und Arbeitskämpfen zusammen. Polizei-, Zivil- und Strafgerichte wetteiferten förmlich miteinander in neuen Koalitionsbeschränkungen. Das Streikpostenrecht wurde systematisch vernichtet, die Sperrung von Arbeitsplätzen und Werkstätten verfolgt, der leiseste Druck auf Streikbrecher in schärfster Weise geahndet und gegen Streikausschreitungen mit besonderer Vorliebe der Aufruhrparagraph und das Mittel der Zuchthausstrafe angewendet. Boykotts wurden sowohl straf- als auch zivilrechtlich verfolgt und die Gewerkschaften in immer größerem Umfange für den Schaden, den Arbeitseinstellungen, Sperren und Boykotts verursachten, haftbar gemacht".
So ist 1911 die Zahl der Verurteilungen wegen Streikvergehen gegenüber 1910 um 500% höher und steigt 1912 "geradezu unheimlich" im Bereich des Metallarbeiterverbandes.
Als Anfang 1913, am Vorabend der Reichstagsverhandlungen über den künftigen Kurs der deutschen Sozialpolitik, der Dritte Deutsche Arbeiterkongreß zusammentritt, bittet Giesberts die Delegierten eindringlich, sich nicht über die Gefahren der Lage in dieser "Zeit sozialen Mißtrauens" zu täuschen. Die wachsende Schar der Gegner des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts aber warnt er, nicht auch noch den Teil der Arbeiter in die Opposition zu treiben, der bereit sei, den sozialen Ausgleich zu suchen.
Gleichzeitig beginnt auf der Basis des Reichsvereinsgesetzes eine neue politische Verfolgung der Arbeiterjugendvereine, die nun als politische Vereine behandelt werden. Soweit sie nicht aufgelöst werden, unterliegen sie strengen Kontrollen.

1910

Die Roheisenerzeugung Deutschlands (einschließlich Luxemburgs) beträgt 14,8 Mill. Tonnen. Mit dieser Produktion überflügelt Deutschland alle anderen europäischen Länder.
Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat kontrolliert fast 100% der Steinkohlenproduktion seines Gebietes. Die Elektroindustrie ist im wesentlichen auf die beiden Konzerne AEG und Siemens konzentriert. Auf die fünf größten deutschen Banken entfallen fast 50% aller Bankeinlagen.
Die Reallöhne sind seit 1885 um 100% gestiegen, der Durchschnittslohn wächst zwischen 1895 und 1907 um 37,5% die Lebenshaltungskosten erhöhen sich nur um 22,5%. Doch das Durchschnittseinkommen eines Industriearbeiters im Jahr gestattet, gerade bei den Wohnungs- und Lebensmittelpreisen mit einer nicht allzu großen Familie ohne schwere Nahrungssorgen zu leben. Eine Industriearbeiterfamilie ist vor 1914 meist nicht in der Lage, gleichzeitig sich satt zu essen, gesund zu wohnen und ausreichende Kleidung zu haben. Die Mitarbeit der Frauen - in der Fabrik oder in Heimarbeit - ist daher - gerade in kinderreichen Familien - eine harte Notwendigkeit. Ein besonders düsteres Kapitel bilden die Wohnungsverhältnisse: noch 1895 zählte man in Berlin annähernd 25.000 Wohnungen, die aus einem Zimmer bestanden, das von sechs und mehr Personen bewohnt wurde.

1907 waren von den über zwei Millionen Einwohnern der Reichshauptstadt Berlin drei Fünftel in einem anderen Ort geboren. Die Beschaffung von Wohnraum für die Neuankömmlinge, ihre Versorgung mit Schulen, Nahverkehrsmitteln und allen anderen kommunalen Einrichtungen, ihre administrative und soziale Betreuung stellen die städtischen Verwaltungen vor kaum lösbare Probleme.
Über ein Drittel der Bevölkerung lebt in Städten mit über 20.000 Einwohnern - 1890 waren es ein Fünftel. In Kleingemeinden bis 2.000 Einwohnern verringerte sich der Bevölkerungsanteil von 53% auf 40%.

In einer Untersuchung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes über "Die Schwereisenindustrie im deutschen Zollgebiet, ihre Entwicklung und ihre Arbeiter" wird auch der innerbetriebliche Führungsstil und der Umfang der betriebsinternen Strafsysteme dargestellt.
"Wie früher Fürsten und Grafen ihre Bauern behandelten, so springen in den modernen Zwingburgen der Hüttengewaltigen Aufseher, Vorarbeiter, Meister, Ingenieure und Direktoren mit den Industriearbeitern um. In einem Teil der Werke glaubt jeder, der eine sozial höhere Stellung einnimmt, infolge dieser Stellung auch berechtigt zu sein, die Arbeiter als Leibeigene betrachten zu dürfen, sie nach Belieben und Gutdünken zu beschimpfen und verächtlich zu behandeln".
In 43% der befragten Abteilungen klagen Arbeiter über eine ungenügende oder schlechte Behandlung durch Vorgesetzte und in 15% der Abteilungen ist es sogar zu Tätlichkeiten von Vorgesetzten gekommen.
In 60% der untersuchten Betriebe werden betriebsinterne Bestrafungen ausgesprochen, die vom Lohnabzug bis zur fristlosen Entlassung reichen. Strafen gibt es bei Verspätungen, bei unentschuldigtem Fernbleiben und bei der Verweigerung von Überstunden.

Der Holzarbeiterverband veröffentlicht eine Broschüre "Der Vertrauensmann. Die Tätigkeit der Werkstatt-Vertrauensmänner im Deutschen Holzarbeiterverband. Eine Anleitung." Danach sollen Werkstattvertrauensleute nur die "erfahrensten und tüchtigsten Kollegen" werden, weil die Funktion als Mittler zwischen Gewerkschaftsverband und Arbeiterschaft nicht "im Handumdrehen" zu erlernen sei. Mit "Geduld und Nachsicht", durch "Entgegenkommen bei der Arbeit", durch "Pflichteifer, Beständigkeit und Pünktlichkeit", durch "seine Taten und sein leuchtendes Beispiel" soll der Vertrauensmann unorganisierte Kollegen für den Verband werben und betreuen.
Aber schon 1904 hatte A. Brey, der Vorsitzende des Fabrikarbeiterverbandes, um Maßregelung der Vertrauensleute seitens der Unternehmer zu verhindern, zu "äußerster Vorsicht" gemahnt: "Die Kollegen sollen so vorsichtig zu Werke gehen, daß sie möglichst lange an dem Arbeitsplatz, für den sie ernannt sind, bleiben können, damit sie ihrer Aufgabe gerecht werden. Je länger sie da wirken können, um so fruchtbarer wird ihre Tätigkeit sein. Dazu kommt, daß eine Entlassung abschreckend auf die noch zu gewinnenden Kollegen wirken kann; zu diesem Zweck wird ja die Maßregelung vorgenommen".

Der Christliche Metallarbeiterverband klagt in seinem Jahresbericht, selbst im rheinisch-westfälischen Industriebezirk sei "die Furcht vor Maßregelungen bei sehr vielen Arbeitern der bestimmende Faktor gewesen, der Organisation in den Krisenjahren den Rücken zu kehren".

Die Aufgaben des Bauarbeiterschutzes und des Sekretariats werden von der sozialpolitischen Abteilung der Generalkommission übernommen.

A. Erkelenz kennzeichnet die politische Haltung der Gewerkvereine als "freiheitlich-national".

Über 50% der Brauerei- und Mühlenarbeiter und fast 35% der Arbeiter im polygraphischen Gewerbe sowie in den Gemeinde- und Staatsbetrieben können unter bestimmten Voraussetzungen Urlaub erhalten. Auch in den "jungen" Industriezweigen, d.h. in der chemischen, elektrotechnischen, feinmechanischen und optischen Industrie ist Urlaub durchaus schon eingeführt, in einigen Fällen unter vergleichsweise recht guten Bedingungen für die Arbeiter, wenn auch überall als Wohlfahrtseinrichtung ohne Gewährung eines Rechtsanspruchs.
Im Privatbergbau, in der Industrie der Steine und Erden, im Hüttenwesen, in der Maschinen-, Metall-, Holz- und Lederindustrie, in der Textil- und Bekleidungsbranche, im Baugewerbe und in den künstlerischen Gewerben ist Urlaub dagegen kaum bekannt und in den wenigen dennoch nachweisbaren Fällen fast überall eine Wohlfahrtseinrichtung von seiten der Unternehmer. Urlaub in einer Arbeitsordnung oder gar in einem Tarifvertrag ist kaum vereinbart.

Der "Verein für Sozialpolitik" veröffentlicht umfangreiche "Untersuchungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie". Danach bewegen sich Leistungsfähigkeit und die Lohnhöhe des Arbeiters nach dem Überschreiten des 40. Lebensjahres auf einer absteigenden Linie. Die "anstrengende und aufreibende Tätigkeit" in der Großindustrie führe zu einem raschen Verschleiß der Arbeitskraft, die in einem Alter bereits aufgebraucht ist, "in dem der Mann der bürgerlichen Berufe sich meist noch in der Fülle der Kraft" befand.
Nur wenigen der gelernten Arbeiter gelingt es, nach dem 40. Lebensjahr in Werkführer- und Vorarbeiterstellen aufzusteigen.
Für die meisten Arbeiter setzt mit dem 40. Lebensjahr der berufliche und soziale Abstieg ein.

Anfang 1910

Der Verein Deutscher Arbeitgeberverbände warnt die Unternehmer, daß trotz des "Wohlverhaltens" der Regierung bei einer Handhabung des Arbeitsnachweises als Kampfmittel gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter weiterhin ein Einschreiten der Gesetzgebung drohe. Die Nachweise müßten so arbeiten, daß sie das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen haben. "Insbesondere muß als Grundsatz gelten, daß bei der Einstellung nicht nach der Zugehörigkeit zu einer Organisation, zu einer bestimmten politischen oder konfessionellen Richtung gefragt werden darf, daß vielmehr nur die Tüchtigkeit und Geeignetheit zu dem besonderen Posten ausschlaggebend sein dürfen."

3./5. Januar 1910

Die Sozialdemokratie Preußens verabschiedet ein Kommunalprogramm, in dem sie u. a. ein Gesetz über die öffentliche Gesundheitspflege auf der Grundlage kommunaler Selbstverwaltung verlangt. Weiter wird gefordert die Schaffung von Gesundheitsämtern, Übernahme des Reinigungswesens und der Trinkwasserversorgung durch die Gemeinde, Kontrolle der Nahrungsmittelversorgung und die Errichtung öffentlicher Bäder, Spielplätze und Turnhallen, ferner der Bau und Betrieb von Krankenhäusern zur unentgeltlichen Benutzung aller Gemeindemitglieder, Einrichtungen zum Schwangerenschutz, Säuglingsasyle und die Übernahme der Apotheken durch die Gemeinde.

16. Januar 1910

In zahlreichen Massenversammlungen wird gegen das Dreiklassenwahlrecht demonstriert. Das geschieht auch am 23. und 26. Januar.

20. Januar 1910

Das Reichsgericht ändert in einem Urteil seine Auffassung von 1903 und stellt nun fest, daß Tarifverträge nicht unter die §§ 152 und 153 der Gewerbeordnung fallen. Sie stellen rechtsverbindliche Vereinbarungen dar, auf deren Erfüllung geklagt und deren Nichterfüllung mit Haftstrafe geahndet werden kann.

29. Januar 1910

Der konservative Abgeordnete E. v. Oldenburg-Januschau erklärt im Reichstag: "Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag."
Die Sozialdemokratie protestiert in vielen Versammlungen gegen diese Äußerung.

4. Februar 1910

Die Regierungsvorlage über die Änderung des preußischen Wahlgesetzes wird veröffentlicht. Sie läßt trotz mancher Änderungen das Dreiklassenwahlrecht bestehen. Bei der ersten Lesung am 10. Februar erklärte Th. v. Bethmann Hollweg, Preußen lasse sich nicht in das Fahrwasser des Parlamentarismus verschleppen, solange die Macht seines Königtums ungebrochen sei.

6. Februar / 10. April 1910

In Halle, Bielefeld und Solingen kommt es zu Straßendemonstrationen. Von diesem Tage an reißen die Kundgebungen und Demonstrationen für die Dauer der Verhandlungen im preußischen Landtag nicht mehr ab.
In Preußen finden am 13. Februar Massenversammlungen statt. In Frankfurt a.M., Halle, Duisburg und Berlin-Rixdorf kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Die Ankündigung von 42 Versammlungen in Berlin veranlassen den Polizeipräsidenten T. A. v. Jagow zu der Bekanntmachung: "Es wird das Recht auf die Straße verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige."
Am 6. März hatte die Berliner Parteiführung zu einer großen Massenversammlung aufgerufen. Diese wird von der Polizei verboten. Darauf lädt die Partei zu einem "Wahlrechtsspaziergang" in den Treptower Park ein. Die Polizei sperrt alle Zufahrtswege zum Park ab. Der Parteileitung gelingt es durch mündliche Übermittlung, die ganze Demonstration in den Tiergarten umzudirigieren. Die Polizeibehörden werden davon völlig überrascht. 150.000 demonstrieren gegen das Wahlunrecht und die Maßnahmen der Polizei.
Am 10. April 1910 nehmen rund 260.000 Menschen an drei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel in Berlin teil, nachdem für diese Versammlungen die polizeiliche Genehmigung erteilt worden war. Damit erreicht die Wahlrechtsbewegung ihren Höhepunkt, aber auch ihr Ende, da die Partei sich bereits Anfang März mit der Generalkommission verständigt hatte, die Wahlrechtsdemonstrationen nicht durch Demonstrationsstreiks zu verstärken und weiterzuführen. Darauf setzt eine lebhafte Diskussion in den Parteipublikationen über die weitere Parteitaktik ein.

7. Februar 1910

"Der Zentralrat der Gewerkvereine nimmt mit lebhaftem Bedauern Kenntnis von dem Entwurf eines neuen Wahlgesetzes für die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhause und erklärt, daß die auf nationalem Boden stehende Arbeiterschaft von diesem Entwurf nicht befriedigt ist, weil er das bestehende Klassenwahlrecht in ein neues Klassenwahlrecht umändert. Er fordert die Einführung des Reichstagswahlrechts auch für die Wahlen zum Abgeordnetenhause und richtet an die volksfreundlichen Parteien das dringende Ersuchen, keiner Wahlreform zuzustimmen, die nicht neben der direkten zunächst auch die gleiche und geheime Wahl einführt."

7./12. Februar 1910

Nach getrennten Verbandstagen der Maurer und der Bauhilfsarbeiter in Leipzig wird am 10. Februar der "Deutsche Bauarbeiterverband" gegründet.

20./22. Februar 1910

Die außerordentliche Generalversammlung des Verbandes der Maler, Lackierer in Dresden stellt fest, daß die neue Bedeutung des Reichstarifvertrages in der herbeigeführten gleichmäßigen Gestaltung des Arbeitsvertrages im Deutschen Reiche, die einen Ausgleich der bisherigen Verschiedenheiten und damit eine Verbesserung der bestehenden Verhältnisse darstellt, liegt.
"Demgegenüber entspricht der materielle Inhalt des Reichstarifvertrages nicht den berechtigten Forderungen unserer Kollegen bezüglich des Lohnes und der Arbeitszeit. Ein allgemeiner und vollständiger Ausgleich insbesondere gegen die durch die Reichsfinanzreform herbeigeführte unerhörte Verteuerung der Lebenshaltung unserer Verbandsmitglieder ist nicht erreicht."

13./14. März 1910

Der Bundestag der technisch-industriellen Beamten in Berlin rät den Angestellten von einem Beitritt zum Hansa-Bund ab, da diese Organisation zu einer Verschärfung der antisozialpolitischen Strömung in Deutschland geführt hat.
"Die unzureichenden Gehaltsverhältnisse der technischen Privatangestellten, hauptsächlich hervorgerufen durch Überfüllung des Berufes und Unterbietung der Gehälter, erfordern insbesondere, auch im Hinblick auf die stetig fortschreitende Entwickelung in der Ordnung der Arbeiterlohnverhältnisse und in dem Ausbau der Gehaltsskalen für Staats- und Kommunalbeamte dringend eine Regelung durch Aufstellung und Durchführung von Mindestgehältern.
Das Mindestgehalt setzt eine, wenn auch nur kurze praktische Bewährung des Angestellten und eine Mindestleistung voraus, für welche die Art der Beschäftigung in der Industrie den Maßstab gibt.
Da nicht bloß der Reichstag, sondern auch die Parlamente der Einzelstaaten über Angelegenheiten Beschlüsse fassen, die die technischen Pirvatangestellten berühren, so sind sie an der Gestaltung des Wahlrechtes unmittelbar interessiert.
Einen angemessenen Einfluß auf den Ausfall des Wahlergebnisses vermögen die Angestellten nur auszuüben, wenn das Stimmrecht nicht nach plutokratischen Gesichtspunkten geregelt ist, wenn die Wahlkreiseinteilung die in der Industrie tätige Bevölkerung gebührend berücksichtigt und wenn der Wahlmodus die Unabhängigkeit der technischen Privatangestellten genügend sichert.
Die technischen Privatangestellten werden aufgefordert, in den politischen Parteien, denen sie sich angeschlossen haben, in diesem Sinne zu wirken."

26./28. März 1910

Der Kongreß der "lokalisten" Gewerkschaften in Berlin empfiehlt den angeschlossenen Verbänden, keine Arbeitslosenunterstützungen einzuführen, da dies eine Maßnahme sei, die den Arbeiter selbst schwer belastet und nur dazu beiträgt, daß heutige Ausbeutungssystem zu stützen und zu verlängern.
Der Kongreß 1898 hatte noch erklärt, daß die Arbeitslosenunterstützung die Gewerkschaften zu Stützen der gegenwärtigen Ordnung degradiere, die Reiseunterstützung als wichtiges Kampfmittel dagegen empfohlen. Jetzt überträgt der Kongreß die Entscheidung über diese Unterstützung auf die einzelnen Verbände.
Alle Arbeiter werden gewarnt, vom Staat eine Milderung oder Beseitigung des Elends zu erhoffen und alle freiheitsliebenden Arbeiter werden zur Propaganda der Idee des proletarischen Klassenkampfes aufgerufen. "Nicht auf politisch-parlamentarischem, sondern einzig auf ökonomischem Gebiete vermag das Proletariat dem Kapitalismus schon heute Wunden zu schlagen und Niederlagen zu bereiten."
Örtlichen Organisationen steht es frei, Tarifverträge abzuschließen, wenn zwingende Gründe dafür vorliegen.

27./30. März 1910

Der Verbandstag der Fleischer in Hannover beauftragt die örtlichen Vorstände und Vertrauensmänner, von den Gewerkschaftshäusern und Konsumvereinen dringend zu verlangen, ihre Waren nur von solchen Lieferanten zu beziehen, welche organisierte Gesellen beschäftigen und im Bedarfsfalle solche von den Arbeitsnachweisen der Organisationen beziehen.
Von den Konsumgenossenschaften und Gewerkschaftshäusern, die eigene Fleischereien haben, resp. Fleischergesellen beschäftigen, wird erwartet, daß sie nur organisierte Gesellen beschäftigen und diese von den Arbeitsnachweisen der Organisationen beziehen. Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse sind tariflich mit dem Zentralverband festzulegen.
Der Verbandstag kritisiert, daß im Fleischergewerbe gegen die gesetzlichen Bestimmungen des Arbeiterschutzes verstoßen wird, und verlangt eine strengere Kontrolle.

28. März / 2. April 1910

Der Verbandstag der Kupferschmiede in Mannheim lehnt den Entwurf einer Reichsversicherungsordnung ab. Die Delegierten halten die Arbeitsruhe für die würdigste Beteiligung an der Maifeier. Sie erwarten, daß die Maifeier in all den Betrieben durch Arbeitsruhe zum Ausdruck gebracht wird, wo mindestens drei Viertel der Beschäftigten sich für die Arbeitsruhe entschieden haben.

1. April 1910

Unter Leitung von Robert Schmidt beginnt die sozialpolitische Abteilung bei der Generalkommission ihre Tätigkeit. Sie führt die Arbeit der bis dahin bestehenden Kommissionen zur Bekämpfung des Kost- und Logiszwanges beziehungsweise für Bauarbeiterschutz und der Zentralkommission für Gewerbegerichtsbeisitzer (Arbeitnehmer) fort. Weiterhin sammelt sie alle Materialien zur Sozialgesetzgebung und bereitet sie auf.

8. April 1910

Zum ersten Mal greift die Reichsregierung direkt und aktiv in eine Tarifauseinandersetzung ein. Eine von ihr nach Berlin einberufene Konferenz der Tarifpartner des Baugewerbes scheitert an der kompromißlosen Haltung der Arbeitgeber, die einen Reichstarifvertrag verlangen. Die Bemühungen der bayerischen und der württembergischen Regierung, eine Einigung zu erzielen, wird ebenfalls von den Arbeitgebern abgelehnt. Sie beschließen, ab 15. April alle Bauarbeiter auszusperren, deren Tarifvertrag am 1. April ausgelaufen war.
In Berlin und Hamburg war es jedoch schon zu einer Einigung gekommen. Trotzdem sind rund 200.000 Bauarbeiter von der Aussperrung betroffen.
Die Aussperrung in einem der größten Arbeitskämpfe vor dem 1. Weltkrieg dauert in einigen Städten bis Anfang Juli und endet nach Vermittlung seitens der Reichsregierung mit einigen Erfolgen der Bauarbeiter. Vor allem gelingt es ihm, neben Arbeitszeitverkürzungen örtliche Tarifverträge beizubehalten.

11./14. April 1910

Der Verbandstag des Centralverbandes der Dachdecker in Dresden erklärt sich mit der Verschmelzung zum neuen Bauarbeiterverband einverstanden.

18./19. April 1910

Eine Konferenz der sozialdemokratischen Jugendausschüsse - 129 sind vertreten - in Berlin verlangt ein vollkommenes Verbot der Kinderarbeit, einen verbesserten Arbeitsschutz für Jugendliche und eine Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr.
Die Bildungsarbeit der Jugendausschüsse hat den Zweck, die jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen zum Verständnis und zur tätigen Anteilnahme an dem praktischen und geistigen Leben der Arbeiterklasse zu befähigen.
Die Art und Weise der Aufklärung ist dem Verständnis und der Eigenart der Jugendlichen anzupassen. Ausführliche theoretische Erläuterungen sind zu vermeiden oder doch durch praktische Beispiele und durch lebendige Darstellungsweise zu beleben.
Eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des Jugendausschusses ist die Belehrung und Unterhaltung der schulentlassenen Jugend.
Das Rauchen und der Ausschank von alkoholhaltigen Getränken ist dem Jugendheim streng zu untersagen.
In den Jugendheimen soll stets ein Erwachsener anwesend sein, die eigentliche Aufsicht sollte aber nach Möglichkeit der Vertrauensperson der Jugendlichen übertragen werden
Die Erwachsenen müssen sich zurückhalten, damit sie nicht als lästige Aufsichtsinstanz empfunden werden; es sei denn, daß ein Erwachsener durch besondere pädagogische Veranlagung den Jugendlichen Anregung und Belehrung zu bieten vermag, und daß er ihnen als Freund willkommen ist.
Im übrigen ist den jugendlichen Besuchern möglichst viel Freiheit in den Jugendheimen zu lassen.
Den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen wird empfohlen, Mittel für die Errichtung von Jugendheimen zur Verfügung zu stellen; weniger geeignet erscheint die Bildung besonderer Vereinigungen für Errichtung von Jugendheimen.

25./26. April 1910

Der außerordentliche Kongreß der Gewerkschaften in Berlin behandelt nur einen einzigen Tagesordnungspunkt: die Reichsversicherungsordnung. Der Kongreß kritisiert die in dem Entwurf zur Reichsversicherungsordnung enthaltenen Verschlechterungen der Arbeiterversicherung.
In der Krankenversicherung sind - unter Wegfall aller übrigen Krankenkassenformen - gemeinsame Orts- und Bezirkskrankenkassen zu schaffen. Die Gewerkschaften wenden sich gegen die Absicht, nach der Arbeitnehmer und Arbeitgeber nun je die Hälfte der Beiträge zahlen sollen. Damit sei ein Zurückdrängen des Einflusses der Gewerkschaften auf die Selbstverwaltung der Kassen verbunden.
Der Kongreß verlangt eine Erhöhung der Einkommensgrenze, das Recht der Krankenkassen auf dem Gebiete der Krankheitsverhütung tätig zu sein, die Gewährung einer ausreichenden Unterstützung an Schwangere und Wöchnerinnen - Gewährung von Stillgeld - und die Gleichstellung der landwirtschaftlichen, staatlichen, kommunalen und seemännischen Arbeiter, der Dienstboten, Hausgewerbetreibenden mit den gewerblichen Arbeitern.
Die Unfallversicherung ist auf alle gegen Lohn oder Gehalt Beschäftigten ohne Rücksicht auf die Höhe des Lohnes oder Gehaltes und auf die selbständigen Unternehmer, auf die im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt Tätigen auszudehnen.
Der Begriff des Betriebsunfalles ist auf jene Unfälle auszudehnen, die auf dem Wege nach und von der Arbeit eintreten. Gleich den Unfällen sind die Gewerbe- und klimatischen Krankheiten zu entschädigen.
In der Invalidenversicherung ist der Kreis der versicherungspflichtigen Personen, insbesondere auf die Klein- und Hausgewerbetreibenden auszudehnen.
Die Altersrente ist bei Vollendung des 65. Lebensjahres zu gewähren. Erleichterung der Aufrechthaltung der Anwartschaft. Wegen unterlassener Beitragsleistung der Arbeitgeber dürfen die Renten nicht versagt werden; gesetzlicher Anspruch der Versicherten und ihrer Angehörigen auf rechtzeitige Einleitung eines Heilverfahrens bei drohender Invalidität. Den Versicherten ist größere Anteilnahme an der Verwaltung einzuräumen
Der Kongreß protestiert entschieden gegen das Bestreben, die allgemeine Versicherung erneut in eine Sonderversicherung für die Privatangestellten zu zersplittern.
"Der Kongreß fordert: die Gewährung der Witwenrente an alle Witwen der Versicherten; die Zahlung der Waisenrenten in allen Fällen ohne Rücksicht auf die Frage der Bedürftigkeit, unter Gleichstellung der unehelichen und ehelichen Kinder; die Höhe der Renten soll in jedem Falle die Gewähr bieten, daß die Rentenbezieher nicht der öffentlichen Fürsorge anheimfallen, Ausbau der freiwilligen Zusatzversicherung, daß sie auch für die Hinterbliebenen nutzbar wird; Gleichstellung der Hinterbliebenen eines Ausländers mit denen der Inländer, und zwar auch dann, wenn ihr Wohnsitz sich im Auslande befindet."
Die Wahl der Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber muß in direkter und geheimer Wahl auf Grund des Verhältniswahlsystems erfolgen. Aktives und passives Wahlrecht sollen alle Versicherten erhalten, ohne Unterschied des Geschlechts und der Staatsangehörigkeit.
Unter Beibehaltung des Grundcharakters des Knappschaftswesens soll dies durch die Reichsversicherungsordnung geregelt werden.
Der Kongreß beschließt: "Für den Fall, daß die in dem Entwurf der Reichsversicherungsordnung vorgesehene Halbierung der Beiträge und der Vertretung für die Krankenversicherung Gesetz werde sollte, verpflichten sich die ... Gewerkschaften, dahin zu wirken, daß die Gewerkschaftsbeiträge um denjenigen Betrag erhöht werden, den die Arbeiter infolge der geminderten Beitragszahlung zur Krankenversicherung ersparen."
Die christlichen Gewerkschaften und die Gewerkvereine hatten eine Einladung der Generalkommission zu einem gemeinsamen Kongreß abgelehnt, da sie gemeinsam mit der Gesellschaft für soziale Reform Stellung zur Reichsversicherungsordnung nehmen wollten.

30. April 1910

Die Generalversammlung ruft die "organisierte Arbeiterschaft Deutschlands" auf, die ausgesperrten Bauarbeiter zu unterstützen: "Es ist der größte Kampf, der zwischen Organisationen der Arbeitgeber und der Arbeiter in Deutschland jemals ausgetragen wurde."

4. Mai 1910

Der Reichstag beschließt ein Gesetz über die gewerbsmäßige Stellenvermittlung. Es beinhaltet eine genauere Aufsicht dieser Arbeitsvermittlung durch behördliche Konzessionspflicht, eine Bevorzugung der öffentlichen und behördlichen Arbeitsnachweise und eine Festsetzung der Vermittlungsgebühren.
Eine Reform der Arbeitsvermittlung und eine Annäherung an eine paritätische Regelung ist damit nicht verbunden.

8./12. Mai 1910

Nach drei getrennten Generalversammlungen beschließen die Delegierten des Transportarbeiterverbandes, des Hafenarbeiterverbandes und des Verbandes der seemännischen Arbeiter auf einer gemeinsamen Sitzung am 12. Mai in Hamburg die Gründung des "Deutschen Transportarbeiterverbandes" mit Sitz in Berlin.
Für die Berufsgruppen der Hafenarbeiter und für die der Seeleute werden besondere Verwaltungsabteilungen beim Vorstand des Verbandes eingerichtet. Die Reichssektion der Straßenbahner erhält den Namen "Verband der Straßenbahner, Mitgliedschaft des Deutschen Transportarbeiterverbandes".
Der Verband gewährt eine Erwerbslosen-, eine Reise-, eine Hinterbliebenen-, eine Streik- und eine Gemaßregeltenunterstützung.
Zum Vorsitzenden wird Schumann, der bisherige Vorsitzende des alten Transportarbeiterverbandes, gewählt.

14./17. Mai 1910

Der Verbandstag der Mühlenarbeiter in München beschließt mit großer Mehrheit den Zusammenschluß mit dem Brauerverband, nachdem die Verschmelzung mit dem Bäckerverband abgelehnt worden war.

16./17. Mai 1910

Die Generalversammlung des Centralverbandes der Handlungsgehilfen und -gehilfinnen in Hamburg verlangt den Fortbildungsschulzwang für alle Handlungsgehilfen und -gehilfinnen bis zum Alter von 18 Jahren. Der Unterricht soll nicht sonntags und abends, sondern in den Vormittagsstunden der Werktage stattfinden.
Die Handlungsgehilfen müssen gemeinsam für höhere Gehälter streiten, denn ein beträchtlicher Teil der kaufmännischen Angestellten bezieht weniger Gehalt als der Durchschnittslohn der gewerblichen Arbeiter beträgt.
Die Generalversammlung fordert, in das Arbeiterkammergesetz die Errichtung besonderer Kammern oder Abteilungen für die Handlungsgehilfen aufzunehmen.

16./19. Mai 1910

Der Verbandstag der Friseurgehilfen in Nürnberg beschließt, daß auch selbständige Friseure Verbandsmitglied werden können, da bei der heutigen Verfassung des Friseurgewerbes jeder Gehilfe gezwungen ist, sich im Beruf selbständig zu machen oder demselben den Rücken zu kehren. Diese Selbständigen sind keine wirtschaftlichen Gegner der Gehilfen. Sie sind ebenfalls an einer kürzeren und geregelten Arbeitszeit interessiert.

16./21. Mai 1910

Der Verbandstag der Gewerkvereine in Berlin fordert eine Neuregelung des Koalitionsrechts, vor allem sind alle dieses Recht einschränkenden Verbote und Strafbestimmungen zu beseitigen. Die §§ 152 und 153 sind aufzuheben.
"Die Berufsvereine, die sich durch ihre Satzungen verpflichten, bei allen Streitigkeiten das zuständige Gewerbe- oder Kaufmannsgericht oder die zuständige Arbeitskammer vor Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter als Einigungsamt anzurufen, haben das Recht, die Eintragung in das Vereinsregister nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches zu beantragen. Das Einspruchsrecht der Verwaltungsbehörde wegen sozialpolitischer Bestrebungen des Vereins und die Bestimmungen über die Einrichtung des Mitgliederverzeichnisses werden für solche Vereine aufgehoben."
Die Gewerkvereine verlangen nun auch staatliche Zuschüsse für alle Verbände, die Arbeitslosenunterstützung zahlen.
"Der Verbandstag richtet an die Ortsvereine und Ortsverbände erneut das dringende Ersuchen, auf eine zahlreichere und tatkräftigere Beteiligung an den sozialen Wahlen Bedacht zu nehmen. Zu diesen Wahlen gehören insbesondere die zu Gewerbegerichten, Krankenkassen, unteren Verwaltungsbehörden, Landesversicherungsanstalten und Schiedsgerichten. Keine dieser Wahlen darf ohne Beteiligung der Gewerkvereine vor sich gehen.
Besonders ist viel Wert zu legen auf eine Beteiligung an den Wahlen zu den Ortskrankenkassen. Es ist nicht angängig, dort den Gegnern das Feld fast uneingeschränkt zu überlassen."
"Der Verbandstag bedauert, daß gegenwärtig nicht ein einziger Gewerkvereinler dem Reichstage bezw. einem Landtage angehört. Der Verbandstag hält es für dringend notwendig, daß sowohl der Vorsitzende des Verbandes wie auch andere Führer der Gewerkvereine in die Parlamente gewählt werden. In Wahrung der partei- und kirchenpolitischen Unabhängigkeit der Gewerkvereine ist den Kollegen die Wahl der Partei zu überlassen, für die sie als Kandidat auftreten wollen."
"Die Gewerkvereine sind und bleiben religiös neutral und parteipolitisch unabhängig. Es ist dringende Pflicht aller Mitglieder, neben der Mitgliedschaft bei den Gewerkvereinen, auch ihrer Pflicht als Staatsbürger durch Eintritt in eine politische Partei Genüge zu leisten.
Als selbstverständlich wird vorausgesetzt, daß jedes Mitglied die Freiheit zu politischer Betätigung hat.
Die parteipolitische Betätigung der Gewerkvereinsmitglieder als Staatsbürger darf nicht innerhalb der Gewerkvereine erfolgen, sondern muß in den Parteien selbst bezw. in deren Versammlungen und Einrichtungen geschehen."

22./27. Mai 1910

Der Verbandstag der Töpfer in Dresden beschließt mit Mehrheit, eine Erwerbslosenunterstützung einzuführen.

24./28. Mai 1910

Der Verbandstag der Gastwirtsgehilfen in Berlin empfiehlt den Abschluß von Tarifverträgen mit den Verwaltungen der Volks- und Gewerkschaftshäuser.
Die Bewirtschaftung dieser Unternehmen ist, wie alle anderen derartigen Betriebe, von den in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung begründeten Gesetzen abhängig. Dieser Umstand entbindet jedoch die bezeichneten Betriebe keineswegs von der Pflicht, bezüglich der Lohn- und Arbeitsverhältnisse ihrer Angestellten vorbildlich zu sein.
Wo ein Arbeitsnachweis des Verbandes besteht, ist dieser ausschließlich, anderenfalls der paritätische bzw. der städtische Arbeitsnachweis zu benützen.
Die tägliche Arbeitszeit für alle Angestellten ist so zu regeln, daß eine effektive Arbeitszeit von 12 Stunden im Höchstfalle verbleibt.
Allen Angestellten ist jede Woche ein ganzer freier Tag zu gewähren.
Für die ein Jahr und darüber im Hause Tätigen ist alljährlich ein Urlaub unter Fortzahlung des Lohnes zu bewilligen.
Die Löhne sind im Durchschnitt höher zu bemessen, als die in den Privatbetrieben üblichen. Kellner dürfen nicht lediglich auf Trinkgelder angewiesen sein.
Der Verbandstag fordert erneut von den gesetzgebenden Körperschaften, das Heranziehen von Arbeitnehmern zu den Geschäftsunkosten (Prozente, Bruch, Bezahlung von Hilfskräften u.ä.) zu verbieten.

27. Mai 1910

Das preußische Abgeordnetenhaus lehnt vom Herrenhaus beschlossene Änderungen im Wahlgesetzentwurf mit Mehrheit ab. Darauf erklärt Th. v. Bethmann Hollweg, die Regierung lege auf eine Weiterberatung der Gesetzesvorlage keinen Wert mehr. Die Änderung des preußischen Wahlrechts ist damit gescheitert.

28. Mai 1910

Die Generalkommission fordert die "organisierte Arbeiterschaft Deutschlands" erneut auf, die seit sechs Wochen ausgesperrten Bauarbeiter zu unterstützen.

31. Mai / 5. Juni 1910

Die Generalversammlung des Verbandes der Bäcker und Konditoren in Berlin bezeichnet den Tarifvertrag mit dem Centralverband Deutscher Konsumvereine als bedeutenden Fortschritt, weil er bessere Vereinbarungen enthält als die mit Privatbetrieben abgeschlossenen Verträge.
Der Verband nennt sich nun "Centralverband der Bäcker, Konditoren und verw. Berufsgenossen".

6./11. Juni 1910

Die Generalversammlung des Centralvereins für alle in der Hut- und Filzwarenindustrie beschäftigten Arbeiter in Altenburg beschließt, eine Erwerbslosenunterstützung einzuführen. Die Gewerkschaft nennt sich nun "Verband der Hut- und Filzwarenarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands".

Die 13. Generalversammlung der Schuhmacher in Köln beschließt, eine Kommission zu Studienzwecken nach Amerika zu entsenden, um die dortigen Lohn- und Arbeitsverhältnisse zu studieren. Diese Reise von Josef Simon und Carl Höltermann wird noch im gleichen Jahr durchgeführt, die Ergebnisse in einer Broschüre "Denkschrift über die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Schuharbeiter in Amerika" veröffentlicht.

12./17. Juni 1910

Der Genossenschaftstag des Centralverbandes deutscher Konsumvereine in München nimmt eine Reihe von Resolutionen an, die zwischen dem Vorstand und der Generalkommission vereinbart worden waren.
Konsumvereine sollen keine Strafanstaltserzeugnisse mehr kaufen, da durch diese billigen Produkte die reelle Warenteilung, die Konsumenten und die Arbeiter gleichermaßen geschädigt werden.
Der Übergang der Heimarbeit in geregelte Betriebsarbeit in gesunden Arbeitsstätten ist zu fördern. Der Bezug von in Heimarbeit hergestellten Nahrungs- und Genußmitteln soll wegen der unzureichenden hygienischen Verhältnisse ausgeschlossen werden.
Die Gewerkschaftsmitglieder sollen durch ihren Beitritt zu den Konsumgenossenschaften die genossenschaftliche Idee tatkräftig unterstützen.
Industrielle Arbeitsgenossenschaften oder Arbeiterproduktivgenossenschaften können nur gutgeheißen werden, wenn es sich handelt um Vereinigungen von Genossenschaften eines Bezirks zur gemeinsamen Produktion, bzw. zur Umwandlung einer Arbeitsgenossenschaft in eine Produktivgenossenschaft, deren Mitglieder die Genossenschaften sind; um industrielle Arbeitsgenossenschaften (sog. Arbeiterproduktivgenossenschaften) durch eine Gruppe von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, wie solches häufig nach erfolglosen Streiks vorkommt; und wenn diese Errichtung im Einverständnis mit dem Vorstand des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine und der Großeinkaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine sowie der zuständigen Gewerkschaftsleitung erfolgt.
Der Vorstand des Centralverbandes deutscher Konsumvereine verpflichtet sich, den Konsumvereinen zu empfehlen, daß bei Lieferungsaufträgen, sowie bei Vergebung von Arbeiten der Vereine solche Firmen Berücksichtigung finden, welche die Gewerkschaften und die von diesen mit den Arbeitgebern abgeschlossenen Tarife und Vereinbarungen anerkennen.
Den Genossenschaften wird zudem empfohlen, in Verträge eine Klausel aufzunehmen, wonach der Unternehmer verpflichtet ist, die Gewerkschaft und die zwischen diesen und den Arbeitgebern abgeschlossenen Tarife und Vereinbarungen anzuerkennen.

13./18. Juni 1910

Der Verbandstag des Buchbinderverbandes in Erfurt "steht grundsätzlich auf dem Standpunkte, daß Tarifgemeinschaften für das gesamte Buchbindergewerbe in allen seinen Verzweigungen nützlich und besonders auch zur Bekämpfung der Schmutzkonkurrenz notwendig sind und der Gang der Entwickelung dahin drängt, daß die örtlichen oder für bestimmte Wirtschaftsgebiete bestimmten Tarife zu einem Reichstarif ausgestaltet werden müssen.
Diese Reichstarife würden zunächst für die verschiedenen Branchen unseres Gewerbes mit den zuständigen Arbeitgeberorganisationen abzuschließen ... sein."
Der Verbandstag wünscht, daß bei der Besetzung von Funktionärsstellen weibliche Mitglieder zu berücksichtigen sind. Ein Antrag des Bezirks Leipzig, eine Frau als zweite Funktionärin einzustellen, wird jedoch mit der Befürchtung abgelehnt, daß "Kolleginnen den schweren Anforderungen eines solchen Amtes nicht gewachsen seien und nicht die nötige Entlastung und Hilfe für die männlichen Angestellten bringen würden".
Der Verbandstag erkennt es als eine wichtige Aufgabe an, die Verheerungen durch den Alkoholismus durch Belehrung und praktische Gegenmittel zu bekämpfen.
Er verpflichtet die Mitglieder, sich gemäß den Beschlüssen des Leipziger Parteitages des Schnapsgenusses völlig zu enthalten.

19./25. Juni 1910

Der Verbandstag des Holzarbeiterverbandes in München verpflichtet die Lokalverwaltungen und Vertrauensmänner in allen Orten, die in den Betrieben der Holzindustrie beschäftigten jugendlichen Arbeiter frühzeitig über die Bestrebungen des Verbandes aufzuklären und sie nach Möglichkeit für den Verband zu gewinnen. Als jugendliche Mitglieder können nur Arbeiter unter 17 Jahren aufgenommen werden. Lehrlinge sind von der Aufnahme in den Verband ausgeschlossen. Mit der Vollendung des 17. Lebensjahres sind die jugendlichen Mitglieder zu vollzahlenden Mitgliedern umzuschreiben.
Allen Verbandskollegen wird die Pflicht auferlegt, bei der Arbeit in den Werkstätten und Fabriken den jugendlichen Arbeitern, sowie insbesondere den Lehrlingen stets ratend und helfend zur Seite zu stehen, um das Gefühl der Kollegialität und den Geist der Solidarität bei den Jugendlichen und Lehrlingen schon frühzeitig zu wecken.

20./21. Juni 1910

Die internationale Konferenz der Buchbinderverbände in Erfurt erblickt in der Verwendung von Frauenarbeit in der Buchbinderei keine Gefahr für die gesunde Entwicklung des Berufes und für die Interessen der Arbeiterschaft. Doch erklärt sie es als unerläßlich, daß die Frauenarbeit auf bestimmte, in den zwischen Unternehmern und Arbeitern abzuschließenden Lohntarifverträgen namentlich anzuführende Arbeiten beschränkt wird, weil viele Arbeiten dem weiblichen Organismus schädlich sind und die billigen weiblichen Arbeitskräfte einen Anreiz für die Schmutzkonkurrenten unter den Unternehmern bilden, die Männerarbeit zu verdrängen und tarifliche Vereinbarungen illusorisch zu machen. Wenn ausnahmsweise Arbeiten, die bisher von männlichen Arbeitern angefertigt wurden, von Frauen geleistet werden, so ist die gleiche Entlohnung hierfür prinzipiell zu fordern.

20./25. Juni 1910

Die Generalversammlung des Textilarbeiterverbandes in Berlin billigt die Durchführung von Branchenkonferenzen, um dort jeweils spezielle Lohntarife festzulegen.
Die Gauleiter werden nun fest angestellt. Der Verband ändert seinen Namen in "Deutscher Textilarbeiterverband".

14. Juli 1910

Die badische Landtagsfraktion stimmt erneut für das Landesbudget. Wiederum beginnt eine oft erregte Auseinandersetzung in der Partei über die Budgetbewilligung.

18./22. Juli 1910

Die Generalversammlung des Tabakarbeiterverbandes in Braunschweig steht ganz im Zeichen der durch die Erhöhung der Tabaksteuer verursachten Krise in der Tabakindustrie. 30 Prozent aller Tabakarbeiter waren gezwungen, Gesuche um Unterstützung aus dem von der Reichsregierung geschaffenen Fonds zu stellen.

4. August / 14. Oktober 1910

Die Werftarbeiter aller Richtungen streiken für die 53-Stunden-Woche, Lohnausgleich für Arbeitszeitverkürzung, allgemeine Lohnerhöhung um 10 Prozent, Festlegung von Einstellungslöhnen, Mindestlöhne bei Akkordarbeit, Regelung der Bezahlung bei Überstunden-, Nacht- und Sonntagsarbeit. Am 11. August werden 60% der Werftarbeiter ausgesperrt. Daraufhin kommt es zu Solidaritätsstreiks in fast 70 Werft- und Metallbetrieben in allen deutschen Nord- und Ostseehäfen, außer den ost- und westpeußischen. Beteiligt sind insgesamt 30.000 Streikende und Ausgesperrte. Am 8. Oktober sind die Unternehmer zu einigen Teilzugeständnissen bereit: so u. a. die Verkürzung der Arbeitszeit auf 56 Stunden, die Arbeiter erhalten das Recht, auf allen Werften Arbeiterausschüsse aus von ihnen gewählten Vertretern zu bilden. Die für den 10. Oktober beschlossene Arbeitsaufnahme erfolgt nicht, da Werftbesitzer sich weigern, alle ausgesperrten Arbeiter einzustellen und die durch den Streik unterbrochenen Akkorde auszuzahlen. Am 14. Oktober werden Beratungen zwischen der Werftindustriellenkommission und der Verhandlungskommission der Zentralverbände der Gewerkschaften mit dem Beschluß beendet, die Verhandlungen auf örtlicher Ebene weiterzuführen.

15./20. August 1910

Der Verbandstag des Verbandes der Schneider, Schneiderinnen und Wäschearbeiter in Hamburg beschließt eine Regelung der Gehälter und sonstigen Vertragsleistungen für die Angestellten des Verbandes, in der u. a. festgelegt wird, daß in Krankheitsfällen dem Angestellten das Gehalt ein Vierteljahr ungekürzt weiterbezahlt wird. In besonderen Fällen kann der Vorstand auch nach dieser Zeit das Gehalt ganz oder teilweise weiterbezahlen.
Im Todesfall wird das Gehalt für 6 Wochen an die Hinterbliebenen weiterbezahlt.
Die Vorstandsbeamten erhalten in den ersten fünf Jahren 14 Tage Ferien, nach fünf Jahren drei Wochen, die Lokalbeamten 14 Tage Ferien. Delegationen dürfen nicht als Ferien angerechnet werden.

21. August / 6. September 1910

Der Tabakarbeiterkongreß tagt vom 21. bis 27. August und beschließt, das Sekretariat nach Deutschland zu verlegen. Die Dänen und Engländer werden verpflichtet, die von ihnen an auswandernde Tabakarbeiter gezahlte Prämie abzuschaffen.
Vom 23. bis 26. August findet der internationale Transportarbeiterkongreß statt und beschließt Forderungen der Seeleute an die internationale Sozialgesetzgebung, wie z.B. die Abschaffung aller Gefängnisstrafen für Verlassen des Schiffes im sicheren Hafen, Einführung eines Fähigkeitsgrades für die Seeleute, der wenigstens drei Jahre Seedienst auf Deck für die Heizer, der wenigstes eine sechsmonatliche Tätigkeit als Trimmer fordert; Bemannungstabelle, nach welcher wenigstens 75 Prozent der Deckmannschaft, mit Ausnahme der Offiziere, gelernte Seeleute sein müssen, die die Sprache der Offiziere genügend verstehen, um deren Befehlen gehorchen zu können.
Am 26. und 27. August führen die Schuhmacher ihren internationalen Kongreß durch. Sie ändern den Namen ihrer internationalen Organisation in "Internationale Schuhmacher- und Lederarbeiterunion". Der Vorsitzende des Deutschen Lederarbeiterverbandes widerspricht der Ausdehnung der Union auf die Gerber und lehnt den Anschluß seines Verbandes ab.
Am 26. und 27. August tagen die Bäcker und beschließen ein Regulativ für die internationale Vereinigung.
Die Bauarbeiterorganisationen kommen am 27. und 29. August zusammen.
Die Handlungsgehilfen kommen am 31. August zusammen und beschließen, anstelle der bisherigen Auskunftsstelle ein "Internationales Handlungsgehilfensekretariat" mit Sitz in den Niederlanden einzurichten. Sekretär wird der Niederländer Edo Fimmen.
Die Konferenz der Brauereiarbeiter findet am 2. September statt.
Am 2. und 3. September tagen die Fabrikarbeiter und nehmen ein Regulativ für die internationale Zusammenarbeit an.
Die Konferenz der Gemeindearbeiter vom 4. bis 6. September fordert das uneingeschränkte Koalitions- und Streikrecht für die Arbeiter öffentlicher Betriebe.
Der internationale Holzarbeiterkongreß findet am 5. und 6. September statt.

26./27. August 1910

Die II. Internationale Konferenz sozialistischer Frauen in Kopenhagen beschließt auf Antrag der deutschen Delegierten nach dem Beispiel amerikanischer Sozialistinnen, in allen Ländern jedes Jahr einen Frauentag zu veranstalten, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dienen und internationalen Charakter tragen soll.

28. August / 3. September 1910

Der Internationale Sozialistenkongreß in Kopenhagen erörtert erneut die Kriegsgefahr, nachdem diese sich wieder verstärkt hat. Die sozialistischen Vertreter in den Parlamenten werden verpflichtet, die Rüstungen mit allen Kräften zu bekämpfen und die Mittel hierzu zu verweigern. Unablässig sollen die Abgeordneten fordern, zwischenstaatliche Streitfälle einem internationalen Schiedsgericht zu unterbreiten. Durch immer erneuerte Anträge soll die allgemeine Abrüstung verlangt werden. Dem Internationalen Büro wird die Weisung erteilt, bei drohender Kriegsgefahr sofort die nötigen Schritte einzuleiten, um zwischen den Arbeiterparteien der betroffenen Länder das Einvernehmen über ein einheitliches Vorgehen zur Verhütung des Krieges herbeizuführen.
Die Mitglieder werden verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß in den Konsumvereinen die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Angestellten im Einvernehmen mit den Gewerkschaften geregelt werden und daß die Genossenschaftsbetriebe in jeder Hinsicht vorbildlich organisiert werden.
Der Kongreß fordert eine obligatorische Arbeitslosenfürsorge auf Kosten der Produktionsmittelbesitzer und unter alleiniger Verwaltung der Arbeiter, dazu Arbeitslosenstatistiken, Notstandsarbeiten zu gewerkschaftlich anerkannten Löhnen, eine außerordentliche Unterstützung der Arbeitslosigkeitskassen während der Krise sowie die Errichtung von Arbeitsnachweisen unter Wahrung der Gewerkschaftsinteressen. Bis zur Verwirklichung der allgemeinen, öffentlich-rechtlichen und obligatorischen Arbeitslosenversicherung sollen die öffentlichen Gewalten die gewerkschaftliche Arbeitslosenunterstützung finanziell fördern, ohne die Unabhängigkeit der Gewerkschaften zu beeinträchtigen.
Die Arbeiter aller Länder werden aufgefordert, wenn ein nationaler Kampf zwischen Kapital und Arbeit von der betroffenen Arbeiterschaft nicht allein durchgestanden werden kann, diese dann materiell und moralisch zu unterstützen, "um die gebieterische Pflicht der Arbeitersolidarität zu erfüllen".
Die Arbeiterschaft soll sich für die Verbesserungen des Arbeiterschutzes einsetzen.

4./5. September 1910

Im Anschluß an den Kongreß findet die zweite internationale Konferenz der sozialistischen Jugendorganisationen statt. Einem Anschluß der deutschen Jugendbewegung an das internationale Jugendsekretariat stehen die Bestimmungen des Vereinsgesetzes entgegen.
Die Konferenz bekräftigt die Resolutionen von 1907 über die sozialistische Erziehung der Jugend sowie über den Jugendschutz.

18./21. September 1910

Auf einer internationalen Konferenz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Paris wird die "Internationale Vereinigung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" gegründet. Die Vereinigung erstrebt die Schaffung eines ständigen internationalen Sekretariats, Veranstaltung periodischer internationaler Zusammenkünfte, Untersuchungen und Auskunftserteilung, Veröffentlichung von Studien, eventuell Herausgabe eines Bulletins, Schritte zur Schaffung vergleichbarer Statistiken, Abkommen und Verträge und zur Verbesserung der Gesetzgebung in den einzelnen Ländern. Die Vereinigung wird von einem Comité geleitet, in dem jede Nation durch einen oder mehrere (bis zu sieben) Vertreter repräsentiert wird.

18./24. September 1910

Der SPD-Parteitag in Magdeburg steht ganz im Zeichen der Budgetdebatte. Das Vorgehen der badischen Fraktion, erneut den Haushalt des Landes bewilligt zu haben, wird scharf verurteilt, den badischen Landtagsabgeordneten die "allerschärfste Mißbilligung" ausgesprochen, die Teilnahme an höfischen Zeremonien und monarchistischen Loyalitätskundgebungen für unvereinbar mit den sozialdemokratischen Grundsätzen erklärt. Der Parteitag macht es den Parteigenossen zur Pflicht, solchen Kundgebungen fernzubleiben.
Ein Antrag, kommende Verstöße mit dem Parteiausschluß zu ahnden, wird vom Parteitag mit 228 gegen 63 Stimmen angenommen, nachdem die badischen Abgeordneten vor der Abstimmung den Saal verlassen hatten.
Von den Parteigenossen wird erwartet, daß sie den Wahlrechtskampf in Preußen und den anderen Bundesstaaten mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bis zur Erringung der vollen Gleichberechtigung weiterführen. Rosa Luxemburg reicht daraufhin einen mit 62 Stimmen versehenen Antrag ein, daß der Wahlrechtskampf in Preußen nur durch "eine große, geschlossene Massenaktion des arbeitenden Volkes zum Siege geführt werden kann". Daher solle die Erörterung und Propagierung des Massenstreiks in die Wege geleitet werden. Die anwesenden 34 Gewerkschaftsmitglieder, an ihrer Spitze C. Severing, sehen darin einen Versuch, die Rechte der Gewerkschaften an der Vorbereitung derartig großer Massenaktionen zu beseitigen. Die Differenz wird beigelegt, als die Antragsteller den Absatz ihres Antrages über den Massenstreik zurückziehen. Der Parteitag nimmt daraufhin die Parteivorstands-Resolution mit dem ersten Absatz des Antrages von Rosa Luxemburg an.
Die Konsumvereine erledigen ihre Aufgaben selbständig und unabhängig. Mit ihrer zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung und der Verschärfung der Klassengegensätze wächst ihre Gegnerschaft in bürgerlichen Kreisen; durch ausnahmegesetzliche Bestimmungen und schikanöse Verwaltungsmaßnahmen suchen die Behörden und bürgerlichen Parteien ihre Entwickelung zu hemmen. Die gleichen Kreise haben ehedem die Gründungen von Konsumvereinen als eines der vornehmsten Mittel für die Lösung der sozialen Frage empfohlen.
Die sozialdemokratische Partei vertritt die Interessen der Konsumgenossenschaften in der Presse und in den parlamentarischen Körperschaften wider die Angriffe ihrer Gegener. Dieses Eintreten für die Konsumvereine entspricht den Klasseninteressen des Proletariats, denn die genossenschaftliche Tätigkeit ist eine wirksame Ergänzung des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes für die Hebung der Lage der Arbeiterklasse. Die Parteimitglieder werden dringend aufgefordert, die im Geiste der modernen Arbeiterbewegung geleiteten Konsumvereine zu unterstützen.
Der Parteivorstand wird beauftragt, mehr als bisher für die Propagierung der Maifeier zu tun.

19. September / 8. Oktober 1910

Während eines Streiks von Kohlearbeitern und Kutschern kommt es in Berlin-Moabit durch die polizeiliche Unterstützung von Streikbrechern zu Unruhen. Der Ruf nach Ausnahmegesetzen gegen die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften wird wieder erhoben, obwohl weder die Partei noch die Gewerkschaften an den Unruhen beteiligt waren.
In vielen deutschen Städten werden Protestversammlungen gegen das Vorgehen der Polizei durchgeführt. In zwei Prozessen im November und Januar 1911 erhalten 14 Arbeiter Gefängnisstrafen.

Ende September 1910

Der Kongreß der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz in Lugano empfiehlt die gewerkschaftliche Organisation der Heimarbeiter und den Abschluß von Tarifverträgen. Er betrachtet das freie Koalitionsrecht als die notwendige Grundlage des Abschlusses solcher Verträge. Die Internationale Vereinigung verlangt die gesetzliche Anerkennung der Tarifverträge in den Ländern, wo sich diese Anerkennung noch nicht aus dem geltenden Rechte ergibt, und zwar in einer Weise, welche ihre rechtliche Wirksamkeit sicherstellt. Ferner empfiehlt die Delegiertenversammlung die Aufnahme des Grundsatzes der Richtigkeit von ungenügenden und wucherischen Löhnen in die Gesetzgebung und eventuell die strafgesetzliche Ahndung wucherischer Löhne.
Gegenwärtig ist das einzig wirksame Mittel gegen die Mißbräuche in der Heimarbeit in der Schaffung von Lohnämtern zu suchen.
Die Lohnämter sollen u. a. folgende Aufgaben erfüllen: Festsetzung von Mindestlöhnen für die Heimarbeiter bestimmter Gegenden und Berufe. Inspektoren sollen mit der Überwachung der Ausführung der Tarife vertraut werden.

Oktober 1910

Carl Duisberg, der führende Chemieunternehmer, empfindet die Tätigkeit der Gewerkschaften als ein "Verbrechen an unserem deutschen Volk". "Systematisch wird gehetzt und gewählt. Man träufelt entsetzlich wirkendes Gift der Unzufriedenheit, des Neides und der Mißgunst unserem deutschen Volke in die Milch der frommen Denkungsart. Alles Schöne und Erhabene wird in den Staub gezogen und mit Füßen getreten. Die Bemühungen edler Menschen, hilfreich und gut zu sein, werden verunglimpft und als Ausfluß krassen Egoismus und gemeinen Strebertums hingestellt."

1. Oktober 1910

Der neue "Verband der Brauerei- und Mühlenarbeiter und verwandten Berufsgenossen" beginnt seine Tätigkeit.

8. Oktober 1910

Der SPD-Parteivorstand und die Generalkommission rufen die deutsche Arbeiterschaft nach den Moabiter Ereignissen zu Massenversammlungen auf. "Statt eines freien Wahlrechtes in Preußen - Streik- und Zuchthausgesetze gegen die Arbeiter! Das droht für die nächste Zukunft! Arbeiter! Diese nichtswürdigen Pläne müssen vereitelt werden!
Es ist Protest dagegen zu erheben, daß die Polizei bei jedem Streik für die Unternehmer eintritt und durch Massenaufgebot von Polizeiorganen, das angeblich dem Schutz der Streikbrecher dienen soll, die Streikenden hindert, ihre gesetzlichen Rechte auszuüben!
Es ist Protest dagegen zu erheben, daß die Streikbrecher, die vielfach vorbestrafte gewalttätige Elemente sind, mit Waffen ausgerüstet werden, mit denen sie die Streikenden und die öffentliche Sicherheit gefährden.
Es ist Protest dagegen zu erheben, daß Vorgänge, wie in Moabit, deren Ursachen in dem Verhalten der Polizei bei Streiks zu suchen sind, dazu herhalten sollen, die Notwendigkeit von Ausnahmegesetzen gegen Streikende, d.h. gegen die Gewerkschaften zu begründen.
Nur eine Änderung des Verhaltens der Polizei bei Streiks wird Krawalle wie in Moabit verhindern. Nicht gegen die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft, sondern gegen die Übergriffe der Polizei sind Gesetze notwendig!
Arbeiter! Wir rechnen auf Euch! Tut Eure Schuldigkeit! Der neue Anschlag der Reaktion muß mit aller Wucht abgeschlagen werden!"

November 1910

Der Centralverband der Bäcker und Konditoren stellt bei einer Befragung in über 1.390 Gemeinden fest, daß von über 40.000 Bäckergehilfen bereits 33,3% allein gegen Lohn beschäftigt werden. 1901 waren es erst 15,6%. 53,2% fallen noch unter den Kost- und Logiszwang.
Bei den Konditoren sind es erst 17,4%, die gegen Lohn arbeiten, 73,6% erhalten noch Wohnung und volle Verpflegung vom Arbeitgeber.

Dezember 1910

Die Fuldaer Bischofskonferenz fordert in der Auseinandersetzung zwischen christlichen Gewerkschaften und katholischen Fachabteilungen von den gewerkschaftlichen Organisationen, die sich für Katholiken eignen sollen, daß die katholischen Mitglieder in allen das religiöse und sittliche Gebiet berührenden Angelegenheiten des privaten, öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens nicht zu einer Stellungnahme oder Handlungsweise veranlaßt werden, die mit den religiösen und sittlichen Pflichten des katholischen Christen nach dem Urteile des kirchlichen Hirtenamtes unvereinbar ist.
Die gewerkschaftlichen Organisationen haben ihre Tätigkeit auf die praktische Behandlung von Fragen gewerkschaftlichen Gebiets zu beschränken.
Das Urteil darüber, ob Gestaltung oder Wirksamkeit einer gewerkschaftlichen Organisation den kirchlichen Grundsätzen entspreche, bleibt dem kirchlichen Hirtenamt überlassen. Daher haben die katholischen Arbeitervereine wie die christlichen Gewerkschaften sich nicht gegenseitig zu verketzern.

Anfang Dezember 1910

Der Reichstag verabschiedet einen Gesetzentwurf über die Errichtung von Arbeitskammern. Da in der Reichstagskommission unter C. Legiens Vorsitz auch der Wählbarkeit von Gewerkschaftsfunktionären zugestimmt worden war, wird der Entwurf von der Regierung "auf Eis" gelegt.

Die Vorstände des Tabakarbeiter- und des Zigarrensortiererverbandes fordern in einer Petition an den Bundesrat und den Reichstag, die in Not geratenen Tabakarbeiter auch weiter zu unterstützen.

11. Dezember 1910

In Magdeburg wird nach heftigen internen Auseinandersetzungen der "Hauptausschuß der nationalen Werk- und Arbeitervereine" gegründet, dem 200 Vereine mit rund 11.000 Mitgliedern angehören.
Die neue Organisation will "die Interessen der nationalen Arbeiterschaft nach jeder Richtung hin vertreten und der Sozialdemokratie sowie den gewerkschaftlichen Kampforganisationen entgegenwirken".

Ende 1910

Der Generalkommission sind 53 Gewerkschaften mit rund 2.128.000 Mitgliedern, davon rund 170.030 weiblichen, angeschlossen.
Die größten Gewerkschaften sind die der Metallarbeiter mit rund 464.000, die der Maurer mit rund 170.000, die der Fabrikarbeiter mit rund 167.000, die der Holzarbeiter mit rund 165.000, die der Transportarbeiter mit rund 153.000 und die der Bergarbeiter mit rund 124.000 Mitgliedern.
Diese sechs Verbände vereinigen über 60% aller Gewerkschaftsmitglieder. Noch immer ist es für die Gewerkschaften schwierig, in Großbetrieben Mitglieder zu organisieren. Von den 70.000 Arbeitern bei Krupp in Essen sind nur 4,3% organisiert. Bei den Badischen Anilin- und Soda-Werken in Ludwigshafen sind drei Viertel der Belegschaft Mitglied des "gelben" Werkvereins.
Die kleinsten Gewerkschaften sind die der Notenstecher mit 426, die der Xylographen mit 460, die der Isolierer und Steinholzleger mit 800 und die der Blumenarbeiter mit 922 Mitgliedern.
Von ihren Einnahmen geben die Gewerkschaften 1910 rund 13% für die Kranken-, rund 8% für die Arbeitslosen- und 3% für die Streikunterstützungen, für Unterstützungen insgesamt rund 60% aus.

Im Bereich der Generalkommission bestehen 684 Gewerkschaftskartelle, in 25 Orten Arbeiterinnen-Agitationskommissionen.
In 139 Orten sind Beschwerdekommissionen für Gewerbeinspektionssachen, in 48 Orten Kommissionen zur Bekämpfung des Kost- und Logiswesens und in 228 Orten Bauarbeiterschutzkommissionen tätig.
Gewerkschaftshäuser gibt es in 53 Orten. Herbergen in eigener Regie werden von 28 Kartellen unterhalten.
Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine haben 171 Ortsverbände, die christlichen Gewerkschaften 158 Ortskartelle.

Dem Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften sind 22 Gewerkschaften mit zusammen rund 295.000 Mitgliedern, davon rund 22.000 weiblichen, angeschlossen.
Die stärksten Gewerkschaften sind die der Bergarbeiter mit 82.850, die der Textilarbeiter mit 40.300 und die der Bauarbeiter mit 35.650 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkschaften sind die der Gärtner mit 770, die der Krankenpfleger mit 1.380 und die des graphischen Zentralverbandes mit 1.530 Mitgliedern.
Von den Ausgaben entfallen rund 22% auf die Streik- und rund 12% auf die Krankenunterstützungen. Für fast 50.000 Mitglieder der christlichen Gewerkschaften sind Tarifverträge abgeschlossen.
Dem Zentralrat der Gewerkvereine sind 23 Gewerkvereine mit zusammen rund 123.000 Mitglieder angeschlossen.
Die größten Gewerkvereine sind die der Maschinenbau- und Metallarbeiter mit rund 40.600, die der Kaufleute mit 18.600 und die der Fabrik- und Handarbeiter mit rund 17.000 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkvereine sind die der Reepschläger mit 35, die der Küfer mit 52 und die der Wäger mit 54 Mitgliedern.
Die Gewerkvereine gaben 1910 rund 30% für die Kranken-, rund 9% für die Streik- und rund 8% für die Arbeitslosenunterstützung aus.

Die Generalkommission registriert für 1910 9.690 Lohnbewegungen, davon 33% mit Streiks und Aussperrungen.
Insgesamt waren rund 1.025.500 Personen beteiligt.
Von den Arbeitskämpfen waren 43,3% Angriffs-, 26,3% Abwehrstreiks und 30,4% Aussperrungen.
Von den Angriffsstreiks endeten 58,6%, von den Abwehrstreiks 62,1%, von den Aussperrungen 31,1% erfolgreich.

Innerhalb des Metallarbeiterverbandes haben die Kupferschmiede und Feilenhauer den höchsten Organisationsgrad - zwei handwerklich geprägte Berufe -, die Hüttenarbeiter aller Art, eine Arbeitergruppe mit sehr unterschiedlicher beruflicher Herkunft, rangieren am unteren Ende der Tabelle.
Ähnlich sind die Verhältnisse im Holzarbeiterverband, in dem die gelernten Berufe der Bau- und Möbeltischler den größten Organisationsanteil stellen.

Die "Hauptstelle deutscher Arbeitgeberverbände" zählt 42 Mitgliedsverbände, die rund 6.600 Unternehmer mit 1 Million Beschäftigten vertreten, der "Verein deutscher Arbeitgeberverbände" 53 Verbände, rund 50.000 Unternehmer mit rund 1,6 Millionen Beschäftigten.

Nach einer Umfrage des Centralverbandes Deutscher Industrieller besteht vor allem bei Textilindustriellen, Werftbesitzern, den Berg- und Hüttengesellschaften, den Zuckerfabrikanten der größte Widerstand gegen eine regelmäßige Feriengewährung. Als Gründe werden die sowieso schon "hohe sozialpolitische Belastung" der Betriebe, die Einklagbarkeit bei einer eventuellen Gewährung eines Rechts auf Urlaub, die einer Lohnerhöhung gleichkommende Lohnfortzahlung während des Urlaubs, die Schwierigkeiten der Beschaffung geeigneter Ersatzleute für die beurlaubten Arbeiter usw. genannt.


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