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1875

In Leipzig wird der "Tapeziererverband" gegründet. Der Zweck ist die materielle Besserstellung und die geistige Bildung der Mitglieder. Eine Arbeitslosenunterstützung wird eingeführt.

Die Gewerkvereine unterhalten 13 Kranken- und Begräbniskassen mit 19.000 Mitgliedern.

Nach einer Untersuchung des preußischen Handelsministeriums bestehen 88 Knappschaftsvereine mit über 255.000 Mitgliedern. Sie werden ergänzt durch eine Anzahl von Kranken-, Sterbe- und Unterstützungskassen, zu denen Werksbesitzer Zuschüsse leisten. Dazu bestehen noch eine Reihe weiterer sozialer betrieblicher Einrichtungen.
Die innerbetriebliche Ordnung der Arbeitsverhältnisse im Bergbau bleiben völlig den Unternehmern überlassen.

Im Jahresbericht der Handelskammer Halle/Saale über das Jahr 1874 wird beklagt, daß "einem großen Teil der Arbeiter die Willenskraft durch treue Pflichterfüllung und größere Arbeitsleistung seine Lage zu verbessern, verloren gegangen ist".

1. Januar 1875

Th. Yorck, geboren am 13. Mai 1830 in Breslau, Tischler, einer der Mitbegründer des ADAV und später der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, September 1868 Präsident des Deutschen Holzarbeiterverbandes und vor allem entschiedener Vertreter der "Gewerkschaftsunion", in Hamburg gestorben.
I. Auer und August Geib übernehmen die Leitung der Holzarbeitergewerkschaft und die Redaktion der "Union".

15. Januar 1875

"Der Wecker" erscheint monatlich in Gotha als Vereinsorgan der Schuhmacher.

18. März 1875

"Zerstören wir die sozialistische Organisation, und es existiert keine sozialistische Partei mehr", erklärt Staatsanwalt H. v. Tessendorff, als er seine Anklage gegen die Leiter des ADAV und Gewerkschaftsfunktionäre wegen Verstoßes gegen das preußische Vereinsgesetz begründet und das Verbot des Vereins sowie des "Allgemeinen Deutschen Maurer- und Steinhauervereins und des Zimmererbundes" beantragt. Das Gericht stimmt zu.
Dem preußischen Beispiel folgen die meisten anderen Länder. Bald sind die Organisationen der Arbeiterparteien in vier Fünftel des Reiches verboten.

18./28. März 1875

F. Engels kritisiert in einem Brief an A. Bebel, daß im Gothaer Programmentwurf von den Gewerkschaften nicht die Rede sei: "Bei der Wichtigkeit, die diese Organisation auch in Deutschland erreicht, wäre es unserer Ansicht nach unbedingt notwendig, ihrer im Programm zu gedenken und ihr womöglich einen Platz in der Organisation der Partei offenzulassen."

27. März 1875

Eine Konferenz der Hamburger Gewerkschaftsbevollmächtigten, an der auch führende Vertreter der SDAP und des ADAV teilnehmen, beschließt einen Aufruf an die Vorsitzenden aller deutschen Gewerkschaften und der lokalen Fachvereine, in dem die Einberufung einer Konferenz sämtlicher Gewerkschaftsvorstände für Ende April gefordert wird. Auf dieser Konferenz sollen ein alle Gewerkschaften verbindender Organisationsentwurf ausgearbeitet und der Zeitpunkt für einen allgemeinen Gewerkschaftskongreß festgelegt werden. Diese Konferenz findet am 28. Mai 1875 in Gotha statt.

28./31. März 1875

Der 3. Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine - sie umfassen 14 Gewerkvereine und 12 selbständige Ortsvereine mit 22.000 Mitgliedern - in Leipzig beschäftigt sich mit den Verbandsstatuten. Der § 1 erhält folgende Fassung:
"Der Verband der deutschen Gewerkvereine bildet den dauernden Bund aller deutschen Gewerkvereine und Ortsvereine, welche die Hebung der Arbeiterklasse zur Selbständigkeit und Gleichberechtigung mit allen anderen Klassen auf dem Wege der gesetzlichen Reform, insbesondere durch Berufsorganisation und Bildung von Genossenschaften erstreben. Der Verband bezweckt hauptsächlich die gegenseitige Förderung und Unterstützung der deutschen Gewerkvereine durch gemeinsame Beratungen und Beschlüsse, sowie durch Gründung und Verwaltung einer gemeinsamen Invaliden- und sonstiger Hilfskassen und eines der Gewerkverein-Sache dienenden Preßorgans."
Eingehend wird das Innungs- und Lehrlingswesen behandelt, wobei sich die Delegierten für ein Zusammenarbeiten von Arbeitern und Arbeitgebern in den Innungen aussprechen, jedoch allen Zwang ablehnen. Über Arbeitskammern soll zunächst erst noch weiteres Material gesammelt werden, ehe darüber beschlossen werden soll. Die Anstellung eines ständigen Agitators wird abgelehnt.

Mai 1875

Auf seiner Generalversammlung in Dresden beschließt der "Allgemeine deutsche Sattlerverein", sich in "Verein der Sattler und verwandter Berufsgenossen" umzubenennen.

5. Mai 1875

In seiner Kritik an dem Programmentwurf für die vereinigte sozialdemokratische Partei bemängelt K. Marx die unpräzise Fassung der praktischen Forderungen: Dauer des Normalarbeitstages und Altersgrenze für Kinderarbeit müßten angegeben werden. Ein allgemeines Verbot der Kinderarbeit lehnt K. Marx ab. Bei angemessenen Schutzvorschriften sei die "frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft". Zur Überwachung der Fabrik-, Werkstatt- und Heimindustrie stellt K. Marx die Forderung, die Inspektoren müßten ärztlichen Standes und gerichtlich absetzbar sein und von jedem Arbeiter bei Pflichtverletzung angezeigt werden können. Ferner fordert K. Marx im Zusammenhang mit dem Normalarbeitstag und der Haftpflicht Gesetze zu Gesundheitsmaßregeln und zur Gefahrenverhütung. Die überaus harte Kritik an dem gesamten Parteiprogramm ist Ursache dafür, daß diese "Randglossen" erst 1890 von der Parteiführung veröffentlicht werden.

16./18. Mai 1875

In Coburg schließen sich die beiden Schuhmacherverbände zur "Gewerkschaft der Schuhmacher und verwandter Gewerbe" zusammen.

22./27. Mai 1875

Auf dem Kongreß in Gotha vereinigen sich die beiden sozialdemokratischen Parteien zur "Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands". Der ADAV hat 15.322 Mitglieder, die "Eisenacher" 9.121 Mitglieder.
Das angenommene "Gothaer Programm" ist ein Kompromiß zwischen beiden Parteien: "Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums und aller Kultur ... Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft ... Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind. Die Partei erstrebt mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit... die Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter demokratischer Kontrolle des arbeitenden Volkes." Die Organisation von Gewerkschaften wird vom Kongreß für notwendig erachtet, da sie die Sache der Arbeiter fördere, soweit es unter den wirtschaftlichen Verhältnissen der heutigen Gesellschaft möglich sei. Konkret wird von der neuen Partei u.a. gefordert: Ein den Gesellschaftsbedürfnissen entsprechender Normalarbeitstag, Verbot der Sonntagsarbeit, Verbot der Kinderarbeit und aller die Gesundheit und Sittlichkeit schädigenden Frauenarbeit, Schutzgesetze für Leben und Gesundheit der Arbeiter, sanitätliche Kontrolle der Arbeiterwohnungen, Überwachung der Bergwerke, der Fabrik-, Werkstatt- und Hausindustrie durch von den Arbeitern gewählte Beamte, ein wirksames Haftpflichtgesetz, volle Selbstverwaltung für alle Arbeiterhilfs- und Unterstützungskassen.
Bischof W. E. v. Ketteler verneint in der Auseinandersetzung mit diesem Gothaer Programm, daß "ein katholischer Arbeiter Mitglied der sozialistischen Arbeiterpartei" sein könne.

28./29. Mai 1875

Auf den Parteitag folgt ein Gewerkschaftskongreß, an dem 40 Delegierte teilnehmen, die die Gewerkschaften der Bergarbeiter, Metallarbeiter, Maurer, Steinhauer, Holzarbeiter, Zimmerer, Tischler, Manufakturarbeiter, Schneider, Schuhmacher, Buchbinder, Zigarrenarbeiter und Goldarbeiter vertreten. Im Mittelpunkt der Beratungen steht die Herstellung der Einheit der Gewerkschaftsbewegung, über deren Notwendigkeit sich die Delegierten einig sind. Die Ansichten gehen nur darüber auseinander, ob eine reine Streikorganisation zu schaffen oder ob die Unterstützungseinrichtungen beizubehalten seien. Schließlich überwiegen die Gründe für die Beibehaltung, wenigstens als Notbehelf bis zur gesetzlichen Vereinheitlichung der Hilfskassen. Die Konferenz beschließt: "Sofern in einem Geschäftszweige mehrere gewerkschaftliche Organisationen, lokale Fachvereine usw. bestehen, ist es die Pflicht derselben, sich zu einigen resp. der etwa bestehenden zentralisierten Organisation ihres Gewerbes anzuschließen."
Die Konferenz beschließt ferner: "Obgleich die gewerkschaftlichen Organisationen nicht vermögend sind, die Lage der Arbeiter durchgreifend und auf die Dauer zu verbessern, so sind sie doch immerhin geeignet, die materielle Lage derselben zeitweise zu heben, die Bildung zu fördern und sie zum Bewußtsein ihrer Klassenlage zu bringen.
Die Konferenz erklärt es deshalb für die Pflicht aller Arbeiter, sich der Arbeitergewerkschaft ihres Geschäftszweiges anzuschließen, oder, falls in einem Gewerke keine derartige Verbindung besteht, solche zu begründen."
Die Gewerkschaft soll dem Arbeiter Schutz- und Hilfsmittel innerhalb der heutigen Gesellschaftsorganisation sein und zugleich die Keime für die sozialistische Zukunftsproduktion legen, indem durch dieselbe der gemeinschaftliche Geist gehegt und der Arbeiter zum Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen herangezogen werde.
Die Delegierten erklären - um die Gewerkschaften vor polizeilichen Verfolgungen zu bewahren - einstimmig: "Es ist Pflicht der Gewerkschaftsgenossen, aus den Gewerkschaftsorganisationen die Politik fernzuhalten, dagegen sich der 'sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands' anzuschließen, weil nur diese die politische und wirtschaftliche Stellung der Arbeiter in vollem Maße zu einer menschenwürdigen zu machen vermag."
Eine Kommission soll nach Einverständnis der Gewerkschaften einen Kongreß vorbereiten.
Die Frage eines Zentralorgans für alle Gewerkschaften wird zurückgestellt.

6. Juni 1875

In Berlin wird der "Deutsche Zimmererverein" gegründet, wie sein Vorgänger wird er in Preußen im Mai 1876 wieder verboten.

Sommer 1875

I. Auer wendet sich in einem Artikel im "Volksstaat" gegen das "Fernhalten der Politik" aus den Gewerkschaften. Er stellt fest, daß eine Person, Gesellschaft, Partei oder Klasse politisch tätig ist, wenn sie ihre Interessen dadurch wahre, daß sie Einfluß auf die Leitung und Gesetzgebung des Staates zu erringen suche.
Nun untersage die Konferenzresolution den Gewerkschaften rundweg jede politische Tätigkeit.
Sie haben sich also ferner jeder Einwirkung auf die Leitung, Gesetzgebung des Staates zum Zwecke der Wahrung der Interessen des vierten Standes zu enthalten. Ja, sie dürfen in ihren Versammlungen nicht einmal Fragen erörtern, Vorträge halten, welche von Staatseinrichtungen und deren etwaiger Änderung handeln. Die Gewerkschaften haben also ferner nicht in Sachen der Fabrikgesetze, des Normalarbeitstages und dergleichen auf die Gesetzgebung durch Petitionen und energische Willensäußerung einzuwirken? Dies gehört jedoch zweifellos zur Aufgabe der Gewerkschaften. Indem die Gewerkschaften bestrebt sind, die Arbeiter auf sozialem Gebiet zu stärken, treiben sie schon Politik. I. Auer meint dann, in Gotha wäre richtiger folgendes beschlossen worden: "Es ist Pflicht der Gewerksgenossen, den unmittelbaren Anschluß, wohl gar das Unterordnen der Gewerkschaftsbewegung unter die rein politische Parteiorganisation zu verhindern, dagegen durch politische und sonstige Vorträge innerhalb der Gewerkschaften den Arbeiter in jeder Beziehung aufzuklären, durch alle gesetzlich erlaubten Mittel alle in der heutigen Gesellschaftsorganisation für den Arbeiterstand irgend erreichbare materielle Vorteile zu erstreben und den Arbeiter dadurch körperlich und geistig zu kräftigen und kampffähig zu machen. Ferner ist es heiligste Pflicht jedes von der Idee des Sozialismus überzeugten Gewerksgenossen, sich der sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands anzuschließen."

8./9. August 1875

In Leipzig schließen sich die dem ADAV und der SDAP nahestehenden Schneidergewerkschaften im "Allgemeinen deutschen Schneiderverein" zusammen.

29. August 1875

Der "Verband der deutschen Tapezierer und Fachgenossen" wird in Leipzig gegründet.

15. September 1875

Die erste Ausgabe - die Probenummer - von "Der Grundstein, Organ der Maurer, Steinhauer und verwandten Berufsgenossen in Deutschland" erscheint, ab 1. Oktober regelmäßig vierzehntäglich.

19./21. September 1875

Auf dem ersten Glasarbeiterkongreß in Dresden wird der "Allgemeine Glaskünstlerbund Deutschland" gegründet.
Verbandsorgan wird zunächst die "Union".

Herbst 1875

Der Versuch der Reichsregierung, eine gegen die Sozialdemokratie gerichtete verschärfte Fassung des § 130 des Strafgesetzbuches: "Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung gegeneinander aufreizt oder wer in gleicher Weise die Institute der Ehe, der Familie oder des Eigentums öffentlich durch Rede oder Schrift angreift, wird mit Gefängnis bestraft", durchzusetzen, wird vom Reichstag abgewiesen.

Anfang Oktober 1875

In Hamburg wird der "Verband der Bau-, Land-, Erd- und Fabrikarbeiter" gegründet. Um ständigen polizeilichen Einschreitens zu entgehen, nennt sich der Verband im Herbst 1876 in "Bund der Arbeitsleute" um.
Ab 1. Mai 1877 erscheint der "Arbeiter" als Verbandsorgan des Bundes, aber nur bis Ende des Jahres.

10. Oktober 1875

Die bisher in einer Gewerksgenossenschaft vereinigten Maurer und Zimmerer beschließen in Chemnitz, sich wieder zu trennen.
Nach einer Urabstimmung am 9. Dezember gliedern sich die Maurer dem im Dezember 1874 geschaffenen Maurer- und Steinhauerbund, die Zimmerer dem Zimmererverein an.

7./8. November 1875

Der Kongreß der christlich-sozialen Vereine fordert die Begrenzung der Arbeitszeit auf acht Stunden pro Tag in Bergwerken und auf zehn Stunden täglich in Fabriken.

28. November 1875

In Berlin wird der "Allgemeine Deutsche Maurer- und Steinhauerbund" verboten.

1876

In 4.850 deutschen Betrieben gibt es betriebliche Sozialeinrichtungen. 2.600 Betriebskrankenkassen haben 700.000 Mitglieder, 88 Knappschaftskassen sorgen für rund 255.000 Bergleute.

15. Februar 1876

Der "Centralverband Deutscher Industrieller" zur Förderung und Wahrung nationaler Arbeit wird gegründet.
Der Centralverband entwickelt sich bald neben dem "Bund der Landwirte" zur mächtigsten und schlagkräftigsten Interessenorganisation des Kaiserreichs. Die Gründung steht ganz im Zeichen des Kampfes für Schutzzölle. Doch bald übernimmt der Verband die Vertretung aller wirtschafts- und sozialpolitischen Interessen seiner Mitglieder, vor allem der Eisen- und Stahlindustrie.
Der Centralverband ist nicht nur Dachverband für andere Verbände, sondern auch eine Vereinigung von Einzelmitgliedern (Firmen und Personen). Ihm gehören auch Kartelle und Syndikate, Versicherungsträger der Unfallversicherung und öffentlich rechtliche Körperschaften (Handels- und Gewerbekammern) an.
Für die politischen Interessen nutzt der Centralverein seine Beziehungen zu den konservativen Parteien und zur Nationalliberalen Partei.

2. März 1876

In Braunschweig erscheint die erste Ausgabe von "Das Panier" - Organ der deutschen Metallarbeiter und des Verbandes der Klempner und Berufsgenossen.

30. März 1876

Staatsanwalt H. v. Tessendorff gibt bekannt, daß auf seinen Antrag die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands für den ganzen Geltungsbereich des preußischen Vereinsgesetzes und speziell die Berliner Mitgliedschaft des Vereins vorläufig verboten sei.
An der Spitze der Partei steht von nun an das Zentralwahlkomitee (Reichstagsfraktion).

7./8. April 1876

Mit dem Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen wird eine einheitliche Regelung des Hilfskassenwesens angestrebt. Es schafft für die freien Hilfskassen einen festen Rechtsboden.
Unter dem 8. April ergeht ein weiteres Gesetz, das namentlich das Verhältnis der freien zu den Zwangskassen regelt. Das Bestreben beider Gesetze ist, "die Lage der unterstützungsbedürftigen Arbeiter zu heben durch Besserung der bisherigen Bestimmungen über die von den Arbeitern im Wege der Selbsthilfe eingerichteten freiwilligen Unterstützungskassen". Dadurch hofft die Reichsregierung "namentlich in den Fällen einfacher Erkrankungen, welche nicht aus Unfällen entsprungen sind, den Arbeiterschutz zu erweitern und auch bei Unfällen zugleich mit Zunahme einer Selbstversicherung der Arbeiter eine Entlastung der Unternehmer und somit eine Förderung des Unternehmungsgeistes herbeizuführen".
Nach dem Gesetz vom 7. April über die eingeschriebenen Hilfskassen sind diese Kassen solche, "welche die gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder für den Fall der Erkrankung bezwecken" und gewisse formale Bedingungen erfüllen. Die eingeschriebenen Hilfskassen werden "juristische Personen" mit selbständiger Vermögensfähigkeit, mit einer auf das Kassenvermögen beschränkten Haftung für Verbindlichkeiten und mit besonderem Gerichtsstand beim Gericht des Kassensitzes. Die Mitgliedschaft wird erworben durch schriftliche Erklärung oder Unterzeichnung des Statuts. Die Ansprüche der Kassenmitglieder müssen spätestens mit der 14. Woche nach dem Beitritt beginnen und mindestens 13 Wochen dauern. Das Statut kann den Familienangehörigen freie ärztliche Behandlung und den Hinterbliebenen des verstorbenen Mitglieds ein gewisses Sterbegeld zubilligen.
Neben der Beitragspflicht der Mitglieder kann auch eine Zuschußpflicht der Arbeitgeber und auf Grund dieser ein Anspruch der Arbeitgeber auf Vertretung im Vorstand und auf Stimmrecht in der Generalversammlung in Betracht kommen. Jedes großjährige und im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befindliche Mitglied hat Stimmrecht in der Generalversammlung, desgleichen die zuschußpflichtigen Arbeitgeber, denen jedoch höchstens halb soviel Stimmen zukommen dürfen als den Kassenmitgliedern.
Die Aufsichtsbehörde hat weitgehende Kontrollrechte über die Kasse und äußerstenfalls die Befugnis, die Kasse zu schließen. Das Gesetz gestattet nicht nur "lokale", sondern auch "nationale" Kassen mit örtlichen Verwaltungsstellen sowie die Vereinigung mehrerer Kassen zu gemeinsamen Verbänden, nicht minder den Zusammenhang mit Gewerkschaften und ähnlichen Verbindungen, jedoch unter gewissen Sicherheiten, welche die Selbständigkeit der Kassen wahren und die Verwendung ihres Vermögens für fremde Zwecke verhüten soll.
Das Gesetz vom 8. April überläßt es zunächst den freien Kassen, sich seinen Bestimmungen anzupassen oder als "wilde Kassen" ohne die Rechte und Pflichten der "eingeschriebenen" fortzubestehen.
Den Gemeinden wird gestattet, durch Statut eingeschriebene Hilfskassen nach dem Gesetz vom 7. April einzurichten und die Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter über 16 Jahre zum Beitritt zu zwingen, soweit sie nicht die Mitgliedschaft in einer anderen Hilfskasse nachweisen können. Die freien Hilfskassen werden zwar nicht verboten, durch die Privilegierung der eingeschriebenen Hilfskassen aber ausgetrocknet. So werden die Gewerkschaften gezwungen, von ihnen unabhängige Krankenkassen zu gründen, da ihre bestehenden Krankenkassen den Gesetzesvorschriften nicht entsprechen.
Diese Chance nutzen die Gewerkschaften erfolgreich, was nicht im Sinne des Gesetzgebers ist. Diese neuen Gründungen stärken die Stabilität de Gewerkschaften und die Selbständigkeit der Arbeiter. 1877 verfügen über "Eingeschriebene Hilfskassen" u.a.: der Deutsche Buchdrucker-Verband, der Bund der deutschen Böttcher, der Bund der deutschen Glasarbeiter, die Gewerkschaft der Manufaktur- und Handarbeiter beiderlei Geschlechts, die Metallarbeiter-Gewerksgenossenschaft, der Verband deutscher Schmiede, der Senefelder-Bund, die Gewerkschaft der Schuhmacher, der deutsche Tabakarbeiter-Verein, der Bund der Tischler und das Deutsche Zimmerer-Gewerk. Ende 1876 gibt es in Deutschland 754 eingeschriebene Hilfskassen - davon 400 freiwillige.

13./14. Mai 1876

In Zwickau wird der "Verband sächsischer Berg- und Hüttenarbeiter" gegründet, der 99 Mitglieder hat, bis 1878 aber seine Mitgliederzahl auf rund 1.500 erhöhen kann.

Mitte Mai 1876

In einer schwierigen konjunkturellen Situation beginnen die Verhandlungen über die Revision des Tarifvertrags der Buchdrucker. In langwierigen Beratungen akzeptieren die Gehilfenvertreter den Wegfall einiger Vergünstigungen, können aber die Beibehaltung der Tariflöhne und der tariflichen Arbeitszeit durchsetzen. Die Laufzeit wird auf ein Jahr fortgesetzt. Als neue Form der tarifpolitischen Beteiligung der Mitgliedschaften vereinbaren beide Parteien die Durchführung von Urabstimmungen zum Tarifvertrag. Es werden auf Arbeitgeberseite 434 Stimmen - bei insgesamt 2.500 Druckereien - abgegeben, von denen sich 92% für die Annahme der neuen tariflichen Bestimmungen aussprechen; auf Gehilfenseite beteiligen sich 4.851 Personen, die nur zu 73% befürwortend stimmen. Die ablehnenden Arbeiterstimmen kommen zum Großteil aus Berlin, wo die Betriebe während der vergangenen drei Jahre vielfach unter Tarif bezahlt hatten.
In der folgenden Zeit verhärtet sich bei vielen Prinzipalen die ablehnende Haltung gegenüber dem Tarifvertrag.

19. Mai 1876

Der "Deutsche Zimmererverein" wird für Preußen verboten.

18./19. Juni 1876

Auf einer Generalversammlung des "Deutschen Zimmerervereins" in Hamburg wird die Gewerkschaft "Deutsches Zimmerergewerk" als neue zentrale Berufsorganisation der Zimmerleute ins Leben gerufen.
Sitz wird Hamburg.

25. Juni 1876

In Frankfurt a. Main schließen sich die beiden Holzarbeitergewerkschaften zum "Bund der Tischler und verwandten Berufsgenossen Deutschlands" zusammen.
In der Folgezeit kommt es zu internen Auseinandersetzungen.
1877 wird die Krankenunterstützung von der Zentralkasse getrennt und in einer selbständigen "Central-Kranken- und Sterbe-Casse" weitergeführt.

25./29. Juni 1876

Auf einem Tischlerkongreß in Frankfurt a. Main wird der "Bund der Tischler und verwandter Berufsgenossen Deutschlands" gegründet.
Die Zeitung "Union" wird in "Bund" umbenannt und im Juli 1877 mit dem Organ der Zimmerer, dem "Pionier" verschmolzen. Die erste Nummer des neuen Blattes, das "Pionier" - Zentralorgan der Gewerkschaften Deutschlands und der eingeschriebenen Hilfs-(Kranken- und Sterbe-)Kassen - genannt wird, erscheint am 4. August 1877. Der "Pionier" ist auch Organ der Böttcher, der Manufakturarbeiter und der Stellmacher, später auch der Schiffszimmerer.

27. Juni 1876

In München findet ein Prozeß gegen 56 Mitglieder des am 18. März 1875 aufgelösten Deutschen Zimmererbundes statt. Die Angeklagten, die sich entgegen der Auflösungsorder wieder vereinigt haben, werden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

15. Juli 1876

Eine Konferenz in Philadelphia beschließt die offizielle Auflösung der Internationalen Arbeiterassoziation (I. Internationale).

1. August 1876

In Berlin erscheint die erste Ausgabe des Wochenorgans der deutschen Schmiede "Der Amboss".

19./23. August 1876

Der Parteikongreß in Gotha - er wird nach dem Verbot in Preußen als allgemeiner Sozialistenkongreß einberufen - spricht sich für die Übernahme der Privateisenbahnen in Staatsbesitz aus. Den Auseinandersetzungen über die Frage, ob Schutzzoll oder Freihandel, steht der Kongreß fremd gegenüber.
In der nächsten Reichstagssession müsse ein Arbeiterschutzgesetz durch die Abgeordneten der sozialistischen Wähler beantragt werden. Im Klassenstaat könne keine Form der Gerichtsverfassung Recht und Gerechtigkeit verbürgen, darum seien freie Volksgerichte, auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gebildet, anzustreben.
Die Generalversammlung beschließt, eine Kranken- und Sterbekasse einzurichten und künftig ein eigenes Verbandsorgan, die "Neue Glashütte", herauszugeben, die ab Juli 1877 wöchentlich erscheint.

Herbst 1876

Der Verband der Buchbinder richtet eine Petition an den Reichstag, Buchbindearbeiten in Gefängnisse zu verbieten.

Oktober 1876

Auf seiner Generalversammlung ändert der "Allgemeine Glaskünstlerbund Deutschlands" seinen Namen in "Bund der Glasarbeiter Deutschlands".

1. Oktober 1876

In Leipzig erscheint zum ersten Mal der "Vorwärts", Central-Organ der Social-Demokratie Deutschlands.
Der Parteikongreß im August in Gotha hatte beschlossen, die beiden Zentralorgane "Neuer Social-Demokrat" und "Volksstaat" zu verschmelzen.
Der "Vorwärts" wird zunächst dreimal wöchentlich veröffentlicht. Er wird auch ein wichtiges Publikationsorgan für Gewerkschaftsfragen.

15./17. Oktober 1876

Der vierte Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine findet in Breslau statt. Die 14 Gewerkvereine in 346 Ortsvereinen haben 19.900 Mitglieder. Im Mittelpunkt des Verbandstages steht die Einführung des sog. "Reverses". M. Hirsch behauptet, daß in den sozialdemokratischen Kreisen die Absicht bestehe, durch Masseneintritt in die Gewerkvereine sich die Herrschaft in denselben zu verschaffen. Um das zu verhindern, wird mit 19 gegen 1 Stimme beschlossen, den § 4 der Satzung zu ändern. Er lautet nun: "Mitglied kann jeder Arbeiter werden, welcher die Hebung des Arbeiterstandes zu Selbständigkeit und Gleichberechtigung mit allen andern Klassen auf dem Wege der gesetzlichen Reform, insbesondere durch Berufsorganisation, Bildung und Genossenschaft erstrebt und überhaupt den Grundsätzen der deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker) huldigt und demgemäß durch einen Revers mit seiner Unterschrift erklärt, weder Mitglied noch Anhänger der Sozialdemokraten zu sein."
Der Verbandstag fordert die Ausdehnung des Haftpflichtgesetzes auf alle gewerblichen Betriebe, das Verbot der Sonntags- und Nachtarbeit für Jugendliche und Frauen, den Schutz der Erwachsenen bei gefährlichen Betrieben sowie die Einrichtung von Lehrwerkstätten und Fortbildungsschulen. Die Delegierten beschließen, Gewerbekammern, die mit dem Recht der Zwangsbesteuerung ausgestattet sind, sind nicht geeignet, die Interessen des Gewerbestandes in tatkräftiger Weise wahrzunehmen; vielmehr soll das freie Vereinsrecht seitens der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in der nachdrücklichsten Weise wahrgenommen werden.

1877

1877 / 1878

Nach vorübergehender Erholung von der Krise 1873-1875 tritt erneut ein wirtschaftlicher Rückschlag ein. Die Arbeitslosigkeit breitet sich aus. Im Dortmunder Bergbaurevier werden Anfang 1877 rund 6.800 Bergarbeiter entlassen; in Berliner Betrieben geht die Beschäftigungszahl von rund 57.000 (1876) auf rund 29.000 (1878) zurück. Für die Jahre 1876-1880 beträgt die Zahl der Auswanderer 230.000.
Die durchschnittlichen Bruttolöhne sinken in den Jahren 1875-1879 in der Industrie um rund 17 Prozent, die Ernährungskosten um 2,8 Prozent, die Mieten steigen um 11,3 Prozent.

Der Verband der Handschuhmacher gründet eine zentrale Kranken- und Sterbekasse.

1877

Der Verbandstag des Buchbinderverbandes in Leipzig beschließt die Verbandskrankenkasse dem Hilfskassengesetz zu unterstellen. Ihre obligatorische Einführung wird jedoch abgelehnt, es sollen nur Verbandsmitglieder zu der Kasse zugelassen werden.
Ein Antrag, über einen einheitlichen Arbeitstarif nachzudenken, wird an den Ausschuß überwiesen.

Der junge katholische Priester Franz Hitze gibt sein erstes Buch heraus: "Die soziale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung mit besonderer Berücksichtigung der verschiedenen sozialen Parteien in Deutschland". F. Hitze übt in diesem scharfe Kritik an der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unter Zustimmung zu den Analysen von K. Marx und mehr noch von F. Lassalle.
F. Hitze ist davon überzeugt, daß die mechanisierte Produktion zum Sozialismus führen müsse: entweder zum "sozialdemokratischen Staatssozialismus", den er als katholische Lösung der sozialen Frage scharf ablehnt, oder zum "konservativen Sozialismus der Stände". Die ständische Neuordnung ist nur durch staatliche Maßnahmen erreichbar.
F. Hitze gibt später zwar sein Ideal der ständischen Reorganisation der Gesellschaft auf, nicht aber seine Auffassung von der Rolle des Staates. Für die Wirtschaft beharrt er auf einer berufsständischen Ordnung.

In seinem Buch "Der radikale deutsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft" empfiehlt der evangelische Pfarrer Rudolf Todt den Arbeitern, die ihnen gemachten Konzessionen - Wahlrecht und Koalitionsfreiheit - "ernstlich und konsequent" zu gebrauchen, wobei sich die Koalitionsfreiheit nur im Unterstützungswesen auswirken soll. Die Lage lasse sich dadurch in etwa verbessern. R. Todts Einfluß in der evangelischen Kirche bleibt gering. Doch sein christlich-monarchischer Staatssozialismus, so die Forderung nach einem Vertrauensverhältnis zwischen Monarchie und Arbeiterstand für eine Politik durchgreifender Reformen sowie nach einem "Eintreten der Kirche für die berechtigten Forderungen des vierten Standes" wirken im Kathedersozialismus und im Evangelisch-Sozialen Kongreß fort.

Die Betriebsleitung des Stahlwerks Kaiserslautern schreibt ihren Angestellten ins Lohnbuch, sie sollen "es als heilige Pflicht erachten, den ihnen übertragenen Geschäftsverrichtungen die größte Aufmerksamkeit zu widmen, mit Fleiß und Ausdauer die Arbeitszeit zu benutzen, ihre ganze Fähigkeit auf ein vollkommenes Gelingen der Arbeit aufzubieten und endlich mit Material und Werkzeug sparsam umzugehen - überhaupt alle Verrichtungen so zu besorgen, als wenn es sich um ihr eigenes Interesse handele". Dieser "auf liberalen Grundsätzen beruhenden" Präambel folgen als eigentliche Arbeitsordnung noch 25 Strafparagraphen.

19. März 1877

Graf Ferdinand von Galen bringt den ersten sozialpolitischen Antrag des Zentrums - eine Verbesserung des Arbeitsschutzes - im Reichstag ein. Der Antrag wird nach heftigen Debatten abgelehnt.

In Essen gelingt es den Arbeiterwählern des Zentrums, ihren eigenen Kandidaten - einen Metalldreher - bei der Kandidatenaufstellung zu den Reichstagswahlen gegen den offiziellen Zentrumskandidaten durchzusetzen.

1. April 1877

Die "Allgemeine Tapezierer-Zeitung" - Organ der Tapezierer und Fachgenossen - erscheint zum ersten Mal, dann vierzehntäglich in Berlin. Nach der Aufnahme von Sattlervereinen in den Verband im Mai 1877 nennt sich die Zeitung "Allgemeine Sattler- und Tapeziererzeitung".

17. April 1877

Die sozialdemokratischen Abgeordneten, unterstützt von vier Bürgerlichen, reichen den Entwurf eines Arbeiterschutzgesetzes im Reichstag ein. In ihm wird verlangt:
Ein Vorgehen gegen das Truckunwesen, gegen die Gefängnisarbeit für Privatunternehmer und gegen Mißstände im Lehrlingswesen;
einen Maximalarbeitstag: für Männer 10 Stunden, sonnabends 9 Stunden - für Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter (in diesem Falle immer unter 18 Jahren) 8 Stunden - Regelung der Pausen, des Beginnes und Endes der Arbeitszeit;
Verbot der Nachtarbeit, unter enger Begrenzung der Ausnahmen, die aber für Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter überhaupt nicht in Frage kommen;
Verbot der Sonntagsarbeit mit ganz bestimmten Ausnahmen für Verkehrsanstalten, Gastwirtschaften und Vergnügungsunternehmungen, für den Handel mit Nahrungsmitteln und für Gewerbe mit notwendig ununterbrochenem Betrieb, dafür hier ein Ruhetag in der Woche - jedoch abermals gänzliches Verbot für alle Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter;
Verbot bestimmter Arbeiten für Arbeiterinnen (unter der Erde, bei Hochbauten...) - Schonzeit für Schwangere (3 Wochen) und Wöchnerinnen (6 Wochen);
Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren;
obligatorische Fach- und Fortbildungsschulen bis zum 18. Lebensjahre;
obligatorische Fabrik- und Werkstattordnungen mit bestimmtem Inhalt;
Gleichheit der Kündigungsfrist für Unternehmer und Arbeiter;
Regelung der sofortigen Lösung des Arbeitsverhältnisses;
obligatorische Gewerbegerichte mit gleicher Beteiligung der Unternehmer und Arbeiter, gewählt auf Grund des allgemeinsten Wahlrechts (auch der Arbeiterinnen).
Dazu tritt die Forderung nach Gewerbekammern (Arbeitskammern), zur Hälfte aus Arbeitgebern, zur anderen Hälfte aus Arbeitern zusammengesetzt und dazu berufen, die Gewerbs- und Arbeitsinteressen zu vertreten, den Behörden regelmäßig Berichte zu erstatten, welche zu veröffentlichen sind, Anträge an die Behörden zu stellen, sowie gemeinsame gewerbliche Einrichtungen und Fortbildungsanstalten zu beaufsichtigen. In jedem Gewerbekammerkreis soll aber die Aufsicht über die Ausführung und Innehaltung der zum Schutze der Arbeiter getroffenen gesetzlichen Bestimmungen einem Reichs-Arbeitsinspektor, dem späteren Fabrikinspektor und Gewerbeaufsichtsbeamten, zustehen. Schließlich wird auch noch eine größere Sicherung der Koalitions-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit erstrebt.
Die Anträge werden nicht diskutiert.

Mai 1877

Der 1. Verbandstag der Tapezierer in Berlin beschließt, eine Zentralkrankenkasse zu gründen.
Die "Tapezierer-Zeitung" wird auch Organ des Sattlerverbandes und heißt nun "Allgemeine Sattler- und Tapezierer-Zeitung".

Der "Verband der deutschen Maler, Lackierer und Vergolder" wird in Leipzig gegründet.

21./22. Mai 1877

In Leipzig wird der "Verband der deutschen Schmiede" gegründet.

27. Juli 1877

In einem Artikel im "Vorwärts" wird jetzt auch die Gesundheitspolitik als Teil der allgemeinen sozialen Frage erkannt. Da heißt es: "Die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung ist durch ihre elende ökonomische Lage zur Krankheit, zu Siechtum und frühem Tod verurtheilt. Kurz, die Frage der öffentlichen Gesundheitspflege ist im eminentesten Sinne ein Stück der großen sozialen Frage und kann durchgreifend nur mit dieser gelöst werden. Der Sozialismus ist der beste, ist der einzige Arzt."

4. August 1877

Nach einer Vereinbarung zwischen den Gewerkschaften der Tischler und der Zimmerleute erscheint der "Pionier" unter der Redaktion von August Geib und August Kapell zum ersten Mal als gemeinsames Organ.

10. August 1877

Reichskanzler O. von Bismarck wendet sich entschieden gegen Vorstellungen aus dem Handelsministerium, Fabrikinspektoren obligatorisch einzuführen sowie eine verstärkte Verpflichtung der Unternehmer zum Arbeitsschutz gesetzlich festzulegen: "Als das wirksamste Schutzmittel in dieser Richtung betrachte ich vielmehr nur die Haftpflicht für Unfälle. Jede weitere Hemmung und künstliche Beschränkung im Fabrikbetriebe vermindert die Fähigkeit des Arbeitgebers zur Lohnzahlung."

1. September 1877

Der "Verband der Klempner" schließt sich der Metallarbeiter-Gewerksgenossenschaft an.

21. September 1877

Die vereinigten Gewerkschaften Hannovers rufen die gesamten Gewerkschaften Deutschlands auf: "In Erwägung, daß die einzelnen Gewerkschaften nicht imstande sind, eine Aufbesserung in ihrer Branche herbeizuführen, möge man darauf hinwirken, daß eine allgemeine Zentralisation der sämtlichen Gewerkschaften angebahnt werde, als nächstes Anbahnungsmittel muß ein Zentralorgan für sämtliche Gewerkschaften ins Leben gerufen werden." Mit diesem Aufruf beginnt erneut eine Diskussion um engeres Zusammengehen und einen Zusammenschluß der Gewerkschaften.

13. Oktober 1877

Der Reichstagsabgeordnete und Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Zimmererbundes August Kapell schlägt vor, im November eine Gewerkschaftskonferenz mit folgender Tagesordnung stattfinden zu lassen:
"a) Ist die Einrichtung eines Zentralorgans für sämtliche Gewerkschaften zweckmäßig, oder empfiehlt es sich, daß nur die verwandten oder an Zahl kleinen Berufsgenossen sich mit einem solchem verbinden?
b) Ist eine Gemeinschaftlichkeit im Auszahlen der Reiseunterstützung zu ermöglichen?
c) Empfiehlt es sich, an einzelnen Orten gemeinschaftliche Verkehrslokale verbunden mit Arbeitsnachweis für alle Gewerkschaften einzuführen?
d) Ist eine gemeinsame Unterstützung bei größeren Arbeitseinstellungen oder Arbeitsausschüssen zu ermöglichen oder nicht?
e) Ist es zweckentsprechend, bei Ausbreitung der Gewerkschaften durch Agitation dieselbe gemeinschaftlich betreiben zu lassen?
f) Wann und wo soll zur Erledigung über die geeinigten Punkte ein allgemeiner Gewerkschaftskongreß stattfinden?"

21./22. Oktober 1877

In Gera findet unter Vorsitz von M. Hirsch ein Deutscher Arbeiterkongreß statt, der von den Gewerkvereinen, Sozialpolitikern und linksliberalen Politikern getragen wird und der die Möglichkeit einer Vereinigung zur Bekämpfung der Sozialdemokratie diskutiert.
Die Gründung einer selbständigen Arbeiterpartei wird abgelehnt. Für M. Hirsch steigere eine eigene Partei den Klassengegensatz und man würde sich die liberalen Parteien zu Gegnern machen, während man sie doch für die Verbesserung der Lage der Arbeiter gewinnen wolle. Als Organ des Kongresses erscheint die Zeitschrift "Soziale Frage".

23./27. Oktober 1877

Der 5. Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine in Gera fordert die Reform der Gewerbeordnung auf dem Boden der Gewerbefreiheit, der Freizügigkeit und des freien Arbeitsvertrages, jedoch den erhöhten Schutz für Leben und Gesundheit der Arbeiter, insbesondere ein Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren, sowie der Sonntags- und Nachtarbeit der Frauen; obligatorische Fortbildungs- und Fachschulen, sowie Lehrwerkstätten. Die Delegierten beschließen die Gründung einer Verbands-Frauensterbekasse; die Schaffung einer Witwenpensionskasse wird ins Auge gefaßt. Der Verbandstag beschließt den Anschluß an den "Deutschen Arbeiterkongreß". Der Verbandstag soll mit Rücksicht darauf nur noch alle zwei Jahre zusammentreten.
Er fordert erneut vom Reichstag und vom Bundesrat den Schutz und die Regelung des gesetzlichen Koalitionsrechts, die gesetzliche Anerkennung der Gewerkvereine, Arbeitgeberverbände und Einigungsämter.
Die Anstellung eines ständigen Agitators wird wieder abgelehnt, der Zentralrat aber verpflichtet eine Agitationsschule zu errichten. Diese Schule "Zentrale Agitationsschule der deutschen Gewerkvereine" wird Anfang Januar 1878 in Berlin eröffnet.

November 1877

"Mehrere Bergleute" veröffentlichen einen Aufruf an die Bergleute von Rheinland und Westfalen. Es gehe um die Beseitigung zahlreicher Mißstände und die Verbesserung der Lebenslage. Der Appell an die Einigkeit resultiert aus der Erkenntnis, daß nicht nur das Individuum, sondern auch die einzelnen Belegschaften keinen nachhaltigen Einfluß auszuüben vermögen.
"Nur dann, wenn wir einen großen Bund von Vereinen der Bergleute schaffen und diese Vereine gut verwaltete Kassen haben, dann bilden wir eine Macht, welche mit gerechten Forderungen auch durchdringen wird."
Politische und religiöse Fragen sollen ausgeschlossen werden; "der Katholik sowie der Protestant haben eine gleiche Pflicht, dafür zu sorgen, daß ihre Familien Brot haben und ein sittliches Leben führen können".

20. November 1877

Der "Sattlerverein" wird für Preußen verboten. Das führt zur Auflösung des Vereins.

Dezember 1877

Die Generalversammlung der Glasarbeiter in Dresden beschließt die Gründung einer Reise- und Arbeitslosenunterstützung sowie die Einrichtung von Arbeitsnachweisen.

5. Dezember 1877

Zur Vorbereitung sozialer Reformen auf religiöser und konstitutionell-monarchischer Grundlage wird von Rudolf Todt, Adolf Stoecker, Adolf Wagner und Rudolf Meyer der "Zentralverein für Sozialreform" gegründet. Im Statut wird eine Politik durchgreifender sozialer Reformen, ein Vertrauensverhältnis zwischen Monarchie und Arbeiterstand sowie eine starke arbeiterfreundliche Initiative der Regierung gefordert.
Gewerkschaften werden vom Verein negativ beurteilt.


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