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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
10. Dez. 1972

W. Brandt erklärt auf einer Sitzung von Parteivorstand, Parteirat und Kontrollkommission der SPD: Die Bedeutung des 19. November reicht über die Geschichte der Partei hinaus. Vielleicht wird man einmal sagen: hier ist nach fast 130 Jahren durch die Deutschen selbst das entschieden worden, was als Hoffnung auf »das andere Deutschland« oft gescheitert und dennoch über schreckliche Niederlagen hinweg gerettet worden war. Ich warne vor Übermut und Selbstzerstörung, für die ich hier und da Anzeichen sehe. Wir haben es auch nach einem solchen Erfolg nötig, das Wahlergebnis auf schwache Stellen abzuklopfen.
Das Bemühen um die wirtschaftspolitischen Ziele, die wir im Wahlkampf vertreten haben, wird uns in hartes Wetter geraten lassen und viel Kritik einbringen. An den Hochschulen und darüber hinaus formiert sich eine neue Konfrontation mit beträchtlichen Teilen der jungen Generation, diesmal stark gefördert durch Provokateure von rechts. Die neuen Ost-West-Beziehungen bedeuten kein Schlaraffenland.
Wir dürfen nicht glauben, der Klassenkampf habe schon deswegen aufgehört, weil wir ihn überwiegend anders nennen. Noch werden wir gar auf diejenigen hereinfallen, die das Grundgesetz mit einem Festschreiben gegenwärtig bestehender Machtverhältnisse gleichsetzen möchten, die sie soziale Marktwirtschaft nennen.
Auf die Bildung bestimmter »Kreise« innerhalb der Partei und Bundestagsfraktion eingehend sagt W. Brandt: In der Geschichte der Partei hat es immer Strömungen gegeben und immer hat es auch gegeben, daß sich Freunde getroffen und beraten haben. Aber aus einer sich absondernden, exklusiven organisatorischen Fraktionsbildung ist für die deutsche Arbeiterbewegung und für die SPD noch niemals etwas Gutes entstanden. Ich möchte wissen, wer in einem von mir geführten Kabinett unter Umständen einer anderen als der gemeinsamen Loyalität unterliegt. Es wäre besser, ich würde nicht Bundeskanzler, als daß ich unter falschen Voraussetzungen dazu gewählt würde. Die Wahl war kaum gewonnen, da hat sich ein Teil der Fraktion zu besonderen Besprechungen zusammengefunden, um u.a. auch über ein eigenes Sekretariat zu beraten. Ich sage hierzu: laßt die Finger davon, das kann zur Abspaltung führen! Vom Vorstand einer Arbeitsgemeinschaft werde ich brieflich belehrt, es handele sich bei ihnen nicht um die »Jugendorganisation einer Regierungspartei«. Ich frage dagegen: Um was handelt es sich bei den Jusos dann? Der Parteivorsitzende möchte lieber anders als aus Zeitungsmeldungen erfahren, wenn auf einer Nachfolgeveranstaltung zur Parteiratssitzung über die Probleme der Regierungsbildung gesprochen werden soll. Wer heute davon spricht, wie man den Partner 1976 erledigen könnte, der trägt zu einer Entwicklung und Konstellation bei, die 1976 zu einem bedauerlichen Rückfall führen könnte.
W. Brandt warnt vor Obermut, Einzelinteressen, egoistischen Ressortwünschen und Schlagworten. Im Wählerwillen sei deutlich zum Ausdruck gekommen, daß erstens die SPD als stärkste Partei und Fraktion aus den Wahlen hervorgegangen sei, zweitens aber auch, daß sie die Regierungsverantwortung gemeinsam mit der FDP tragen solle.



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net edition fes-library | Juni 2001