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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
12./13. Okt. 1972

Außerordentlicher Parteitag der SPD in Dortmund. 389 Delegierte. Tagesordnung: Die SPD vor den Wahlen (W. Brandt); Verabschiedung einer Wahlplattform (Einleitung: H. Wehner).
W. Brandt erklärt in seinem Referat: Die SPD ist fähig, sich auch in diesem harten Wahlkampf als eine zuverlässige, handlungsfähige, politisch geschlossene Regierungs- und Reformpartei zu beweisen. Dieser Parteitag wird mit Augenmaß und Realitätssinn die Bilanz von drei Jahren harter und erfolgreicher Regierungsarbeit ziehen. Sie ist für jeden Wähler nachprüfbar. Nach dieser Bilanz werden wir die großen Aufgaben für die kommenden vier Jahre setzen.
Dieser Parteitag macht keine Konzessionen an die Angstpropaganda unserer Gegner. Wir sagen unseren Mitbürgern von hier aus: Laßt Euch keine Furcht einreden! Habt Vertrauen zu Euch selbst! Wir sagen weiter: Noch lange ist bei uns nicht alles in Ordnung. Doch wir sind stolz auf dieses Land. Das Ergebnis harter gemeinsamer Arbeit unseres Volkes darf nicht durch verantwortungsloses Panikgeschwätz aufs Spiel gesetzt werden.
Die CDU/CSU hat in den 20 Jahren ihrer Regierungsverantwortung dem Staat nicht gegeben, was des Staates ist. Sie hat den Staat allzu oft zu einer Subventionsgießkanne degradiert. Sie hat Steuergesetze beschlossen, die den Reichtum einiger weniger förderten und die öffentliche Armut schlimmer machten.
Diese Republik ist unser Staat. Wir werden ihm das geben, wessen er bedarf.
Das Regierungsbündnis von Sozialdemokraten und Freien Demokraten hat sich bewährt.
Der Parteitag verabschiedet einstimmig das Wahlprogramm: »Mit Willy Brandt für Frieden, Sicherheit und eine bessere Qualität des Lebens«. Unter der Führung von W. Brandt haben wir für unser Land und seine Bürger in drei Jahren viel erreicht. Überläufer haben jedoch den Willen des Wählers verfälscht und den Bundestag lahmgelegt. Darum suchen wir erneut das Vertrauen der Bürger. Wir suchen das Vertrauen in unserem Land, dessen Stellung in der Welt heute nicht mehr angefochten ist, auf dessen Freundschaft sich der Westen, auf dessen Kooperation sich der Osten, auf dessen Partnerschaft sich die Dritte Welt verlassen und dessen Kanzler W. Brandt in aller Welt zum Inbegriff realistischer Friedenspolitik geworden ist. Wir bitten um das Vertrauen, um unsere Politik der Sicherung des Friedens, der Sicherung der Arbeitsplätze und der inneren Reformen fortsetzen zu können. Das atlantische Bündnis und die europäische Integration bleiben die Grundlage unserer Außenpolitik. Eine ausgewogene beiderseitige Truppenverminderung und Rüstungsbegrenzung in Ost und West steht auch dank der deutschen Politik auf der Tagesordnung der nächsten vier Jahre. Unsere Politik, die menschliche Erleichterungen besonders für die Berliner, aber auch für die Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR erreicht hat, muß fortgesetzt werden.
Gewalt oder Rechtsverletzung darf unser Gemeinwesen nicht dulden. Die Reform des Rechts, insbesondere des Strafrechts, muß fortgeführt werden. Unsere Wirtschaftspolitik war erfolgreich. Die Arbeitsplätze waren und sind sicher. Die Realeinkommen sind kräftig gestiegen. Es geht allen besser, seit W. Brandt 1969 die Regierungsverantwortung übernahm.
Die Preise sind in den letzten Jahren stärker gestiegen, als wir das 1969 voraussehen konnten. Aber die Preise sind in dieser Zeit in allen Industrienationen so stark gestiegen, wie wir das seit dem Koreakrieg nicht mehr erlebt haben. Wir haben einschneidende Beschlüsse gefaßt, um die weltweiten Preissteigerungen von uns fern zu halten. Wir werden nicht nachlassen, Stabilitätspolitik nach innen und außen zu betreiben. Grundlage dieser wirtschaftlichen Entwicklung war und ist die marktwirtschaftliche Ordnung, zu ihr bekennen wir uns. Dazu gehört die Tarifautonomie ebenso wie die Freiheit der Unternehmer am Markt und mehr Wettbewerb.
Eine zukunftsorientierte Energiepolitik wird entscheiden müssen, wie der mengenmäßige Mehrbedarf an Energie gedeckt werden kann; welchen Beitrag die einzelnen Energieträger übernehmen können oder übernehmen sollen.
Es kommt darauf an, für vergleichbare Wettbewerbsbedingungen für die Agrarpolitik in der EWG zu sorgen.
Lebensqualität ist mehr als höherer Lebensstandard. Der Wohlstand des Bürgers und die Qualität seines Lebens hängen heute ebenso sehr von Gemeinschaftseinrichtungen ab wie von privatem Einkommen und privatem Konsum. Immer mehr Bedürfnisse des Bürgers müssen deshalb durch öffentliche Dienstleistungen und Investitionen befriedigt werden.
Die Gesundheitspolitik ist in unserem Staat in ihrer Bedeutung unterschätzt worden. Die Bekämpfung des Drogen- und Rauschmittelmißbrauchs bleibt eine besonders wichtige Aufgabe; die umfassende Lebensmittelrechtsreform wird vollendet; die Neuordnung des Arzneimittelrechts ist vorbereitet. Wir werden unser System der Gesundheitssicherung, in dem freie Kräfte, Gemeinden und Staat zusammenwirken, weiter entwickeln und verbessern.
Wir vertreten im Umweltschutz das Verursacherprinzip. Nur demokratisch kontrollierte Planung kann menschenwürdige Städte sichern. Die privaten Entscheidungen müssen sich in die Interessen der Gemeinschaft einfügen. Mit dem neuen Städtebauförderungsgesetz können im Zusammenwirken von Gemeinden, Eigentümern und Mietern Innenstädte saniert und Neubaugebiete so geplant werden, daß sie dem berechtigten Anspruch des Bürgers auf humane Umwelt gerecht werden. Die Grundsätze dieses Gesetzes Wollen wir auf das allgemeine Städtebaurecht übertragen. Wir schlagen die Einführung eines Planungswertausgleichs vor. Wir wollen in den kommenden Jahren mindestens 200 000 bis 250 000 Sozialwohnungen fördern. Wir wollen den Berechtigten der Sozialwohnung über einen Wohnbesitzbrief das Dauernutzungsrecht an ihrer Wohnung, verbunden mit der Beteiligung am Vermögenszuwachs, verschaffen, das genossenschaftliche Dauernutzungsrecht bewahren und den Eigentumsmaßnahmen gleichstellen. In den großstädtischen Ballungsgebieten haben Schienenschnellverkehrssysteme und der öffentliche Personennahverkehr eindeutigen Vorrang, bei der Flächenbedienung hat es das Auto sowie im Güternah- und im Geschäftsverkehr. Das Straßensystem muß entsprechend dimensioniert sein. Die Wettbewerbsbedingungen zwischen Schiene und Straße müssen angeglichen, der Ausbau des Nahflugverkehrs und des Fernreiseverkehrs der Bundesbahn muß aufeinander abgestimmt werden.
Wir werden uns dafür einsetzen, daß die Zahl der Arbeiterkinder in allen weiterführenden Bildungseinrichtungen steigt und dafür sorgen, daß Ungerechtigkeiten in der Verteilung der Chancen beseitigt werden. Die Zuwachsrate der Mittel für Bildung und Wissenschaft muß im Bundeshaushalt überdurchschnittlich ansteigen. Kindergartenplätze und Vorschulen für alle Kinder, integrierte Gesamtschule, schulnahe Berufsausbildung, Gesamthochschule und Ausbau der Weiterbildung bleiben die Ziele.
Im Mittelpunkt der Jugendpolitik wird die Vorlage eines neuen Jugendhilfegesetzes stehen. Das Volljährigkeitsalter und die Ehemündigkeit sollen auf 18 Jahre herabgesetzt, das Jugendarbeitsschutzgesetz wird einer gründlichen Überarbeitung unterzogen werden.
Die Bundesregierung hat ein Ehe- und Familienrecht vorgelegt. In ihm wird erstmals die volle Gleichberechtigung der Frau verwirklicht und auch die Tätigkeit als Hausfrau voll anerkannt. Der Familienlastenausgleich soll im Zusammenhang mit der Steuerreform neu geordnet werden; das gilt auch für das Recht der Kinder. Die Reform des Adoptionsrechts muß fortgeführt werden. Jedermann soll von der Möglichkeit zur Verhinderung ungewollter Schwangerschaft Gebrauch machen können. Die SPD wird für eine gesetzliche Neuregelung eintreten, die den Abbruch der Schwangerschaft in den ersten drei Monaten unter bestimmten Voraussetzungen von Strafe freistellt.
Um älter gewordenen Arbeitnehmern zu helfen, soll die betriebliche Altersversorgung reformiert und verbessert werden. Vordringlich ist dabei, daß die Ansprüche auf Betriebspension bei einem Wechsel der Arbeitsstätte nicht verfallen. Eingeleitete Reformen müssen vollendet werden. Z.B. das Sozialgesetzbuch; die Gesetze für die Behinderten; das Gesetz zum Arbeitsschutz und das zur Verbesserung der Situation der berufstätigen Mutter in der Krankenversicherung; die Einführung des Babyjahres und das Arbeitssicherheitsgesetz.
Das Prinzip Mitbestimmung soll durch eine Reform des Personalvertretungsgesetzes im öffentlichen Dienst weiterentwickelt werden. Die gleichberechtigte Beteiligung der Arbeitnehmer bei Einsetzung und Kontrolle der Leitungsorgane großer Unternehmen ist der wichtigste Schritt zu mehr Demokratie in der Wirtschaft. Das Produktivvermögen muß breiter gestreut werden.
Wir wollen die Lebensqualität im Freizeitbereich, vor allem beim Sport, steigern.
Wir werden ohne Verzug ein Presserechtsrahmengesetz durchsetzen.
Unsere Finanzen sind gesund. Steuersenkungen können wir nicht versprechen. Wir werden vom Steuerzahler etwas mehr verlangen müssen, wobei mehr als bisher der Grundsatz sozialer Gerechtigkeit zu beachten ist. Diese Belastung wird sich jedoch in Grenzen halten. Sie ist notwendig, um mehr öffentliche Leistungen anbieten zu können. Niemand soll künftig seinen Verbrauch einschränken. Dank unserer erfolgreichen Wirtschaftspolitik werden die Einkommen weiter steigen. Die Steuerreform wird in Angriff genommen werden.
Die Bundesrepublik weiter zum demokratischen und sozialen Bundesstaat auszubauen, wird die wichtigste Aufgabe einer von Sozialdemokraten geführten Regierung bleiben.
Nun hat der Wähler das Wort. Wir rufen ihn auf, W. Brandt eine Mehrheit zu geben. W. Brandt muß Kanzler bleiben.
Der Parteitag begrüßt die Konzeption und die Vorschläge der Vermögensbildungskommission sowohl zu einer breiten Streuung des Produktivvermögens als auch zu einer besseren Eigenkapitalversorgung der Unternehmen. Bestehendes Vermögen wird nicht angetastet. Aber der Vermögenszuwachs soll nicht mehr nur denen zugute kommen, die heute schon Produktivvermögen besitzen. Die Investitions- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmungen bleiben gewahrt, die freie Unternehmerinitiative und -entscheidung unangetastet. Die detaillierte Diskussion und Beschlußfassung über die Einzelvorschläge zur Vermögensbildung bleiben dem nächsten Parteitag vorbehalten. Der Parteitag stimmt mit den von der Kommission für Bodenrechtsreform vorgelegten Vorschlägen überein. Die detaillierte Diskussion und Beschlußfassung soll ebenfalls auf dem nächsten Parteitag erfolgen.



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