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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
5./7. Dez. 1969

Der Bundeskongreß der Jungsozialisten in München übt heftige Kritik an der SPD und der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Die Mehrheit der Delegierten streicht den Rechenschaftsbericht des Bundesvorsitzenden P. Corterier von der Tagesordnung und wählt P. Corterier noch vor seinem offiziellen Rücktritt mit 204 gegen 15 Stimmen ab. Dem Bundesgeschäftsführer der SPD, H.-J. Wischnewski, wird erklärt, sein Referat sei nicht erwünscht, man wolle mit dem Parteivorsitzenden selbst diskutieren.
Die Delegierten beschließen: Statt eines falsch verstandenen Pragmatismus streben die Jungsozialisten die Erkenntnis der gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte an und suchen nach optimalen Modellen für die stärkere Humanisierung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Die Sozialdemokratische Partei auf Bundesebene hat sich immer mehr den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und der vorherrschenden Bewußtseinslage der westdeutschen Bevölkerung angepaßt. Dabei hat sie ihre sozialistische Konzeption aufgegeben zugunsten eines falschen Pragmatismus und zugunsten einer weitgehenden Sterilität des Parteilebens und der Parteidiskussion. Sie hat ihren Charakter als Klassenpartei aufgegeben, um sich auch bürgerlichen Gruppen zu öffnen und von ihnen wählen zu lassen. Die Ideologie der »Volkspartei« zwingt alle in der SPD vertretenen Gruppen, schon im vorparlamentarischen Raum Kompromisse einzugehen. Deshalb vertritt die SPD zur Zeit nicht konsequent die eigentlichen Interessen des lohnabhängigen Bevölkerungsteils. Ziel sozialdemokratischer politischer Arbeit muß die Demokratisierung aller Lebensbereiche der Gesellschaft sein in Betrieb und Wirtschaft, Familie und Partei, Schule und Hochschule, Verwaltung und Justiz. Dazu gehört konsequente Wahrnehmung der Interessen der Lohnabhängigen (Aufgabe der Ideologie der Volkspartei) und die Überführung der Produktionsmittel in die Nutzung und Verantwortung der Gesamtgesellschaft.
Die SPD darf die bestehende formale Demokratie nur als Ausgangspunkt zur Gestaltung der Gesamtgesellschaft nach demokratischen Grundsätzen ansehen. Aufgabe künftiger Politik und stetig anzustrebender Zielvorstellung bleibt die Solidarisierung breitester Volksschichten durch eine neue, noch zu entwickelnde Theorie und Praxis. Nur so kann das derzeitige Gesellschaftssystem überwunden werden, nur dadurch verwirklichen wir den Sozialismus.
Die SPD hat danach zu trachten, daß es keine unkontrollierte, demokratisch nicht legitimierte Macht gibt. Wenn K. Marx forderte, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches, ein verlassenes Wesen ist«, so heißt das heute: Gleichwertige Teilnahme und Mitgestaltung aller an der Gesellschaft; Verbesserung der Selbstentfaltungsmöglichkeiten; Beseitigung der totalen Lohnabhängigkeit, der politischen Bewußtseinslosigkeit der Massen, des Bildungsprivilegs, einer allmächtigen, verselbständigten Bürokratie, der Profit- und Verschwendungswirtschaft und der Auswüchse wirtschaftlich-politischer Macht.
Demokratisierung schließt ein die stärkere Verlagerung der Entscheidungszuständigkeit auf Basisorganisationen in allen Bereichen. Dieses Ziel kann allerdings nur erreicht werden, wenn zugleich Organisationsformen bereitstehen, die eine unmittelbare Umsetzung der Willensentscheidung gewährleisten.
Die SPD ist nach ihrer bestehenden Struktur der Willensbildung nicht in der Lage, einen solchen konsequenten Demokratisierungsprozeß einzuleiten. Die politischen Entscheidungen in der SPD werden weitgehend an der Spitze getroffen, die Mitglieder an der Basis haben dagegen häufig nur die Möglichkeit nachträglicher Zustimmung. Eine wirksame Kontrolle der Führungsgremien der Partei durch die Basis findet nicht statt.
Soll die Organisationsform »Partei« überhaupt als Instrument der Demokratisierung tauglich sein, muß sie mindestens folgende Voraussetzungen erfüllen: Permanente politische Diskussion in allen Gliederungen der Partei und Abkehr von der eingerissenen Praxis, Meinungsverschiedenheiten durch Maßnahmen zu erledigen; bessere und ständige Kontrolle der Mandatsträger und Funktionäre durch die Mitgliedschaft; Dezentralisierung der Parteileitung auf allen Ebenen: Ablösung des Vorstandsprinzips, dafür Leitung durch mehrere gleichberechtigte Mitglieder, die gleichzeitig für Einzelbereiche verantwortlich sind. Vorschläge müssen generell von der Mitgliedschaft ausgehen. Abbau der Ämterhäufung: Prinzipielle Trennung von Parteiamt und Mandat; Alternativen bei Kandidatenaufstellungen und Delegiertenwahlen; ständige Erneuerung und Oberprüfung von Kandidaten und Funktionären; Mandatsträger und Funktionäre haben mindestens halbjährlich und schriftlich über die Ereignisse zu berichten, ihr Verhalten in den jeweiligen Gremien ständig zu rechtfertigen und zu Aussprachen zur Verfügung zu stehen; die Mitglieder haben das Recht und die Pflicht, aus den Rechenschaftsberichten Konsequenzen zu ziehen; Stimmrecht »Kraft Amtes« muß in allen Gremien abgeschafft werden.
Hauptamtliche Funktionäre sind ausschließlich von der Mitgliedschaft zu wählen. Die Bestätigung gewählter Vertreter durch höhere Organe muß wegfallen.
Die Arbeitsweise von Antragskommissionen, insbesondere der beim Bundesparteitag, muß geändert werden; sie haben Alternativen zu bündeln und sie ohne Empfehlung der jeweiligen Konferenz zur Abstimmung vorzulegen; Herstellung von Öffentlichkeit für alle Parteimitglieder in allen Sitzungen aller Gremien. Kritische Solidarität aller Mitglieder auf der Grundlage ständiger theoretischer Arbeit und eines gründlichen ständigen Willensbildungsprozesses. Verzicht auf die herrschende Praxis, politische Entscheidungen, vornehmlich an Meinungsbefragungen auszurichten.
In der nüchternen Erkenntnis, daß die gegenwärtige parlamentarische Situation die Handlungsfähigkeit der SPD einengt, verlangt die Entscheidung für den demokratischen Sozialismus, daß eine sozialdemokratisch geführte Regierung alle ihre Handlungen an den Bedürfnissen einer kommenden sozialistischen Gesellschaft mißt. Auch wenn systemüberwindende Reformen heute noch nicht realistisch erscheinen, ist die SPD dennoch verpflichtet, alles zu unterlassen, was einer Veränderung und Reformierung unserer Gesellschaft entgegenstehen könnte.
Der Kongreß beschließt ferner über die Strategie und Aufgaben der Jungsozialisten auf Bundesebene: Die kleine Koalition bietet theoretisch die Möglichkeit zur Durchsetzung überfälliger politischer Reformen, die sich allerdings im Vorfeld sozialistischer Politik bewegen werden. Die Funktion der Jungsozialisten ist deshalb zum Teil in der öffentlichen Vertretung von Reformkonzepten zu sehen und entschieden die Reformgruppe zu unterstützen. Die kritischen Gruppen in der SPD leiden heute an Theorielosigkeit. Es wird Aufgabe der Bundesgremien sein, den Versuch zu machen, eine umfassende Auseinandersetzung um eine sozialistische Strategie in der SPD, die teilweise in den Bezirken schon begonnen hat, mitzufördern und innerhalb und außerhalb der Partei bekanntzumachen.
Die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel muß durch gesellschaftlich kontrollierte Organe übernommen werden, die durch die im Unternehmen beschäftigten Lohnabhängigen beschickt werden. Es ist ein staatlich koordiniertes System lokaler, regionaler und zentraler Organe zur Lenkung der Wirtschaftsentwicklung zu errichten. Es hat die Aufgabe, öffentliche Investitionen zu kontrollieren und auf betriebliche Investitionen lenkend Einfluß zu nehmen.
Prinzipien der Wirtschaftspolitik sollen sein: Vollbeschäftigung; an den Bedürfnissen orientiertes Wachstum; egalitäre Verteilung des Gesamtertrages und außerwirtschaftliches Gleichgewicht als Absicherungsmaßnahme.
Wenn Mitbestimmung einen Sinn haben soll, dann muß sie drei Bedingungen erfüllen: Sie muß alle wirtschaftlichen Bereiche -Arbeitsplatz, Betrieb und Gesamtwirtschaft - umfassen; sie muß vollkommene Gleichheit der Rechte beider Seiten garantieren; sie muß als Übergangsstadium konzipiert sein, in dem die Arbeiter und Angestellten die Leitung des Betriebes erlernen, damit sie sie in einer späteren Phase ganz übernehmen können. In den Mitbestimmungsgremien unterliegen die Arbeitnehmervertreter der ständigen Kontrolle und sind abwählbar; die Geheimhaltungspflicht für die Arbeitervertreter wird aufgehoben.
Vermögenspolitik muß das Ziel haben, den Unternehmen einen Teil des Profits zu entziehen, der aber nicht dem Konsum zuzuführen ist; seine Verwendung ist zu kontrollieren.
In einer anderen Resolution stellt der Kongreß jedoch fest: Vermögensstreuung ist sinnlos, denn die Funktion, die das Vermögen in einer kapitalistischen Gesellschaft für die Reichen hat, wird in einer sozialistischen Gesellschaft durch die Sozialpolitik erreicht.
Sozialistisch orientierte Bildungspolitik muß auf Grund ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung darauf ausgerichtet sein, systemüberwindend zu sein. Die Jungsozialisten streben an: Die Schaffung gleicher Bildungschancen für alle Kinder; eine vollintegrierte Einheitsschule; Veränderung der Lehrinhalte; Demokratisierung der Schulen und der Lehrerbildung sowie eine staatliche Berufsausbildung.
Die Jungsozialisten erkennen an, daß es keine soziale Gerechtigkeit in einem kapitalistischen Gesellschaftssystem geben kann. In einer Gesellschaft, die sich an Leistung und Konsum orientiert, werden Menschen, die den Anforderungen nicht genügen können, immer an den Rand gedrängt, und ein Leben als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft wird ihnen verwehrt werden. Es ist daher die Pflicht der Gesellschaft, diesen Menschen einen materiellen Ausgleich für ihre unverschuldete Benachteiligung zu sichern.
Die Jungsozialisten fordern deshalb u.a.: Stärkere Besteuerung höherer Einkommen und Gewinne sowie Erhöhung der Erbschaftsteuer für große Vermögen; Abbau der indirekten Steuern, da diese Steuern im Bereich der Lebenshaltung die Bezieher niedriger Einkommen überdurchschnittlich belasten; kostenlose Benutzung der öffentlichen Massenverkehrsmittel; kostenlose Gesundheitsvorsorge und Krankenvorsorge als Vorstufe zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens; Abschaffung der Klassen in den öffentlich betriebenen Krankenhäusern.
Die Bundesregierung muß klarstellen, daß sie die DDR völkerrechtlich anerkennt. Bei der Regelung des künftigen Status von Westberlin ist vorzusehen: Westberlin ist politisch ein eigenständiges Gebiet; Westberlin wird außenpolitisch von der Bundesrepublik vertreten. Ostberlin wird als Teil der DDR anerkannt.
K. Voigt wird zum Vorsitzenden der Jungsozialisten gewählt.



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