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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
1./5. Juni 1966

Parteitag der SPD in Dortmund Fn1. 335 Delegierte. Tagesordnung: Die Lage der Nation (W. Brandt); Parteien, Parlament und Regierung in der pluralistischen Gesellschaft (T. Erler); Modernisierung und Demokratisierung in der Industriegesellschaft von heute (H. Kühn); Die SPD in der Bewährung (H. Wehner); Eigenfinanzierung der demokratischen Parteien und Staatsbeitrag (A. Nau).
W. Brandt führt u. a. aus: Man müsse lernen, die Zukunft der seit 20 Jahren gespaltenen Nation im Rahmen einer sich entwickelnden »Weltinnenpolitik« zu sehen; begreifen, daß die deutsche Politik an Gewicht und Einfluß gewinnt, wenn sie aktiv an der Entspannung in Europa arbeitet.
Die gesellschaftliche Entwicklung der vor uns liegenden Zeit wird stärker überschaubar. Wir werden mehr Angestellte als Arbeiter haben, mehr Junge in den Schulen, mehr Alte zur Versorgung und weniger landwirtschaftliche Betriebe. Der Prozeß der Konzentration wird zunehmen. Unseren Städten droht der Herzinfarkt. Gewaltige Investitionen werden erforderlich, auch für die Umschulung in neue Berufe. Das ist eine zweite Bewährungsprobe für unser Volk. Sie muß bestanden werden, ohne daß der einzelne und ohne daß die Demokratie dabei auf der Strecke bleiben. Ohne sorgsame Vorausschau gehen wir dem gefährlichsten Experiment entgegen. Für uns ist der demokratische und soziale Bundesstaat ein permanenter Auftrag. Aber das Verhältnis zwischen Politik und Geist in der Bundesrepublik ist notleidend.
H. Schmidt erklärt, die Politik der Stärke ist endgültig und eindeutig gescheitert. Ein deutscher Widerstand gegen die weitere Entspannung würde uns isolieren.
K. Schiller erläutert sein Konzept der »mündigen Gesellschaft«. Die mündige Gesellschaft ist begründet auf unserer heutigen Gesellschaft des sozialen und wirtschaftlichen Wettstreits, der Konkurrenz um die höchste Leistung. Die mündige Gesellschaft ist eine dynamische Gesellschaft. Die mündige Gesellschaft setzt freie, aufgeklärte Menschen voraus. Sie erkennt an, daß der Staat die Aufgabe hat, die gesellschaftlichen Gruppen durch seine planende und ausgleichende Politik und durch Orientierungshilfen auf das Gemeinwohl hinzuführen. Unsere heutige Gesellschaft ist eine vielgegliederte Gesellschaft, und das wird und soll sie auch in der Mündigkeit bleiben. Sie umfaßt die Mannigfaltigkeit der Gruppen und Schichten der Arbeiter, Angestellten und Unternehmer, Selbständigen und Unselbständigen. Aber diese Gruppen müssen zur Kooperation kommen, nicht durch Formierung, sondern durch mündige Selbstverwaltung.
Der Parteitag stellt fest:
Die Außenpolitik der Bundesrepublik wird bestimmt durch drei gleichrangige Ziele: die Bewahrung des Friedens; die Sicherung der Freiheit und die friedliche Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts für das ganze deutsche Volk.
Die Erreichung dieser Ziele hängt nicht allein von den Anstrengungen der deutschen Politik ab, wohl aber setzt sie ein Höchstmaß gemeinsamen Zusammenwirkens der demokratischen Kräfte im freien Teil Deutschlands voraus. Mit Entschiedenheit wiederholen die Sozialdemokraten deshalb eine entschlossene Ablehnung jeglichen Versuchs, die Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes zum Gegenstand und Instrument innenpolitischer Auseinandersetzungen zu machen.
Insbesondere die deutsche Wiedervereinigungspolitik kann nur dann mit Hoffnung auf Erfolg gemacht werden, wenn sie von allen deutschen Parteien gemeinsam entwickelt und getragen wird. Es muß eine realistische Prüfung gegenwärtiger und künftiger deutscher Möglichkeiten folgen - vor allem hinsichtlich des inneren Zusammenhaltes der deutschen Nation und der weltpolitischen Aspekte der Deutschlandfrage.
Auch im günstigsten Fall wird die Wiedervereinigung Opfer verlangen, die sich auf die Gestaltung der Grenzen des wiedervereinigten Landes, seinen militärischen Status im Verhältnis zu seinen Nachbarn und das Sicherheitssystem insgesamt sowie auf ökonomische Fragen beziehen.
Seit der friedlichen Beilegung der Kuba-Krise ist beiden Weltmächten eine teilweise Parallelität ihrer Interessen bewußt geworden, die einen Prozeß der Entspannung zwischen diesen beiden Mächten eingeleitet hat. Der die Nachkriegsjahre beherrschende Ost- West-Konflikt wird vom Nord-Süd-Gegensatz armer und reicher Völker zunehmend überschattet. Die gewaltigen Bevölkerungsexplosionen in Asien, Afrika und Lateinamerika kündigen eine neue Gruppierung der Weltkräfte an. Im Interesse deutscher Politik ist ein gutes Verhältnis zu den Staaten in Asien, Afrika und Lateinamerika notwendig. Der Kampf gegen Hunger, Armut und wirtschaftliche Rückständigkeit muß eine Aufgabe aller Völker sein. Die industrialisierten Länder der westlichen Welt müssen sich auf eine vernünftige Arbeitsteilung einigen. Politische Bedingungen sollten nicht gestellt werden, wobei die SPD jedoch erwartet, daß die Empfängerländer uns nicht in den Rücken fallen.
Die Bundesrepublik muß sich aus den ständigen Auseinandersetzungen in Asien und Afrika heraushalten. Die Bundesrepublik darf in Vietnam keine Militärhilfe leisten. Es ist aber ein Gebot der Menschlichkeit, dem schwergeprüften vietnamesischen Volk humanitäre Hilfe zu gewähren. Die SPD unterstützt alle Bemühungen um Einstellung der Kampfhandlungen.
Eine weitere Entwicklung der internationalen Rüstungsbegrenzung, der Rüstungskontrolle und der Abrüstung ist notwendig. Ständige Aufgabe der Bundesrepublik sollte sein, durch eigene Beiträge bei der Lösung dieser Frage mitzuwirken. Die Sicherheit der Allianzpartner kann nur in enger militärischer Verflechtung untereinander und insbesondere in Verbindung mit dem Verteidigungspotential der USA gewährleistet werden. Die SPD bedauert, daß sich Frankreich nunmehr weitgehend dieser militärischen Verflechtung entzieht. Für die Bundesrepublik ist eine Beteiligung an der gesamtstrategischen Planung der Allianz notwendig.
Die Europäischen Gemeinschaften sollten Kern und Ausgangspunkt der zu schaffenden europäischen politischen Ordnung sein. Wir begrüßen die Bereitschaft Großbritanniens, die Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft in der EWG wieder aufzunehmen.
Das deutsche Volk will in Frieden und in guter Nachbarschaft mit der Sowjetunion und den anderen Staaten Osteuropas zusammenleben. Um einen Brückenschlag nach Osteuropa zu erleichtern, muß die Bundesrepublik stetig um eine Verbesserung der Beziehungen zu diesen Staaten besorgt sein. Sie sollte dabei von den Leitgedanken ausgehen, die in der vom Bundestag einstimmig gebilligten Resolution vom 14. Juni 1961 und in der Friedensnote der Bundesregierung vom März 1966 dargelegt worden sind. Die SPD versteht das Interesse der Polen an einem lebensfähigen polnischen Staat; aber sie erwartet ebenso das Verständnis des polnischen Volkes für die Wiedervereinigung unseres Volkes in Frieden und gesicherter Freiheit.
Die SPD erklärt dem tschechoslowakischen Volk, daß Deutschland keinerlei territoriale Ansprüche gegenüber der Tschechoslowakei hat.
Bei allen früheren Kriegsgegnern müssen Angst und Mißtrauen gegenüber dem deutschen Volk überwunden werden, wenn eine gute Nachbarschaft hergestellt werden soll. Deshalb müssen wir uns stetig um den Ausbau wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen als ersten Schritt zur Vorbereitung der Aufnahme von vollen diplomatischen Beziehungen zu den Staaten Osteuropas bemühen. Dabei dürfen die Bundesregierung und Bundestag keineswegs den Anspruch aufgeben, allein legitimiert zu sein, für das deutsche Volk zu sprechen. Darum ist es auf die Dauer unerträglich, daß wir in den Staaten Osteuropas die Vertretung Deutschlands den Abgesandten Pankows überlassen.
Unser Handlungsspielraum gegenüber dem Regime in der SBZ ist bisher noch keineswegs voll ausgenützt worden. Wo es gelingt, den voneinander getrennten Menschen im geteilten Deutschland das Leben zu erleichtern, stellt dies einen hohen Gegenwert dar, auch wenn es keine unmittelbaren Perspektiven zur Wiedervereinigung eröffnet. Es dient dem Zusammenhalt unseres Volkes und der Bewahrung unserer nationalen Substanz, wenn wir uns dabei auf die folgenden konkreten Punkte konzentrieren: Nachbarschaftsverkehr an der Zonengrenze; in Berlin weitere Schritte in Richtung auf freien Personenverkehr; Möglichkeiten des Vertriebs- bzw. der Postzustellung von Zeitungen und Zeitschriften in beiden Teilen Deutschlands; Verstärkung des innerdeutschen Handels; Abbau unnötiger Fesseln für den Austausch auf den Gebieten von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Die SPD wird ihre Bemühungen fortsetzen, um vor den Menschen in ganz Deutschland den Austausch von Argumenten über die Kernfragen der deutschen Politik in Gang zu bringen. Für die SPD gibt es keine Gemeinsamkeit mit der kommunistischen Einheitspartei; für Volksfrontmanöver sind die deutschen Sozialdemokraten nicht zu haben.
Das Land Berlin gehört zur Bundesrepublik; diese Stellung gilt es auszubauen. Die Schutzfunktion der drei Westmächte muß erhalten bleiben, die Lebenskraft der deutschen Hauptstadt ist zu stärken. Die SPD fordert erneut das volle Stimmrecht für die Berliner Bundestagsabgeordneten. Wir Deutschen müssen darauf hinweisen, daß das freie Berlin nach wie vor der Möglichkeit kommunistischer Pressionen ausgesetzt bleibt.
Der Parteitag begrüßt das wachsende Interesse am Leistungsstand von Bildung und Wissenschaft. Noch immer aber ist das Tempo dieser Entwicklung zu langsam und ihre Zielsetzung oft zu kurzfristig geplant, um den Rückstand der Bundesrepublik hinter anderen Industrienationen aufzuholen. Ebenso hemmend sind ideologische Vorurteile und standespolitische Interessen. Der Parteitag begrüßt die Konstituierung des Deutschen Bildungsrates. Folgende Aufgaben für ihn scheinen besonders dringend: Eine Vorausschau des finanziellen Mindestbedarfs zur Entwicklung der Planungen für die nächsten fünf Jahre und eine Bestandsaufnahme aller Bildungseinrichtungen in den Bundesländern nach einheitlichen Maßstäben.
Schwerpunkte sozialdemokratischer Bildungspolitik sind heute: Im Schulwesen ist die Einführung rationellerer und pädagogisch ergiebigerer Arbeitsformen, Organisationsstrukturen und Bauplanungen erforderlich.
Für die Ausbildungsförderung müssen Rechtsgrundlagen geschaffen werden, die die Gleichheit der Bildungschancen und die Ausbildung aller Begabungsreserven sichern. Der Bildungspolitische Ausschuß des Parteivorstandes wird aufgefordert, eine Lösung der damit verbundenen Probleme vorzulegen.
Die Berufsausbildung muß rechtliche Grundlagen erhalten, die einer vom technischen Fortschritt geprägten dynamischen Wirtschaft gerecht werden und den Grundsätzen der EWG-Kommission entsprechen. Der Parteitag fordert die sozialdemokratische Bundestagsfraktion auf, einen Gesetzentwurf über die Berufsbildung einzubringen.
Der bezahlte Bildungsurlaub zur beruflichen und politischen Fortbildung aller Arbeitnehmer ist dringend erforderlich.
Folgende Schwerpunkte stehen im Vordergrund sozialdemokratischer Wissenschaftspolitik: Zusammenfassung aller wissenschaftspolitischen Aufgaben des Bundes im Bundesministerium für Forschung. Der Aus- und Neubau wissenschaftlicher Hochschulen und Akademien muß fortgesetzt werden. Die Förderung der überregionalen Forschungseinrichtungen und Großforschungsanlagen verlangt verstärkte Anstrengungen des Bundes. Die Koordination der sozialdemokratischen Kulturpolitik in den Parlamenten der Länder und des Bundes zeigt ernsthafte Mängel. Der Parteitag fordert die sozialdemokratischen Fraktionen und Regierungen auf, in wichtigen Entscheidungen die gemeinsamen Grundlagen sozialdemokratischer Bildungs- und Wissenschaftspolitik sichtbar werden zu lassen. Die Beseitigung des Rückstandes der deutschen Forschung und Wissenschaft und die Behebung des Bildungsnotstandes sind die bedeutendsten aber auch schwierigsten Gemeinschaftsaufgaben, vor die das deutsche Volk heute gestellt ist. Folgende Maßnahmen sind dafür vordringlich: Eine wesentliche Erhöhung der Etatmittel für Forschungs- und Bildungszwecke; die Förderung einer zweckfreien Grundlagenforschung durch den Bund; die bessere Koordinierung der schul- und bildungspolitischen Maßnahmen der Bundesländer; die Mitwirkung der am Bildungsgeschehen beteiligten gesellschaftlichen Gruppen in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik; eine weitreichende Information aller Bürger über die sozialen, technischen und kulturellen Veränderungen in der modernen Gesellschaft und der Ausbau und die Intensivierung der Erwachsenenbildung.
In einer wachsenden Wirtschaft gilt es, weitere Produktivitätsfortschritte zu erringen, sich rechtzeitig auf strukturelle Wandlungen einzustellen und den arbeitenden Menschen neue Aufstiegsmöglichkeiten zu öffnen. Steigender Wohlstand und allgemein erhöhte Lebenshaltung täuschen über die noch immer bestehenden Ungerechtigkeiten in der Verteilung des gemeinsam erarbeiteten Volkseinkommens auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung hinweg. Noch immer haben Menschen je nach Herkunft sehr unterschiedliche Aufstiegschancen. In weiten Bereichen stehen wir vor der Herausforderung, die Versäumnisse der vergangenen Jahre aufzuholen und den Anschluß an die modernsten Entwicklungen in der Welt rasch genug zu vollziehen. Im Anschluß an den Wiederaufbau nach 1945 geht es jetzt um eine zweite Bewährungsprobe. Sie handelt von der Modernisierung und Demokratisierung unserer Bundesrepublik. Seit vielen Jahren bemühen wir uns intensiv um die Lösung der dazu notwendigen gesellschaftspolitischen Aufgaben in den Bereichen von Bildung, Wissenschaft, Forschung, Gesundheit, Sicherheit im Alter, Erneuerung der Städte und Gemeinden sowie des Verkehrswesens. Diese Gemeinschaftsaufgaben sind bisher in einer die Zukunft unseres Volkes gefährdenden Weise vernachlässigt worden. Sie können nur vom Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam bewältigt werden.
Die Schwerpunkte der Wirtschafts- und Finanzpolitik heißen: Vollbeschäftigung; Stabilität des Preisniveaus; außenwirtschaftliches Gleichgewicht; ausgewogene Einkommens- und Vermögenspolitik im Sinne größerer Gerechtigkeit; Marktwirtschaft; geldpolitische und finanzpolitische Globalsteuerung sowie Wohlstandspolitik. Die erhöhten Ansprüche an das Sozialprodukt können nur erfüllt werden, wenn der wirtschaftliche Aufschwung gesichert und die Leistungsfähigkeit des Produktionsapparates ständig gesteigert wird. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft muß weiter gestärkt werden. Der Prozeß struktureller Umwandlung ist eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit. Nur eine vorausschauende Wirtschaftspolitik ist jedoch imstande, die Voraussetzungen für eine fortschreitende Automation zu schaffen und deren strukturelle Konsequenzen zu bewältigen. Wirtschaftszweige, die von Strukturwandlungen betroffen sind, sollen rechtzeitig Anpassungshilfen erhalten. Die strukturelle Verschlechterung der Wirtschaftslage an der Ruhr und im Saarland ist eine Folge des energiepolitischen Versagens der Bundesregierung. Der deutschen Steinkohle müssen bestimmte, traditionelle Absatzbereiche gesichert werden. Dabei muß beachtet werden, daß eine möglichst billige Energieversorgung für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten entscheidend ist. Diese Maßnahmen müssen ergänzt werden durch langfristig wirkende Aktionen zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur der Steinkohlengebiete. Die Errichtung einer Struktur- und Auffanggesellschaft, an der neben der Wirtschaft auch die öffentliche Hand beteiligt ist, wird den Ankauf und die Weiterveräußerung der stillgelegten Zechenanlagen erleichtern, die Bergschädenrisiken vermindern und die Ansiedlung neuer Industriebetriebe fördern. Vor Beschlüssen über Produktionsbeschränkungen müssen neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet werden. Der Anspruch auf Wohnraum muß gesichert bleiben. Der soziale Besitzstand ausscheidender Bergleute darf nicht gefährdet werden. Die Leistungskraft des Zonenrandgebietes muß gestärkt werden. Wir fordern erneut eine systematische Konjunktur- und Preispolitik, die sich des modernen Instrumentariums wirtschafts- und finanzpolitischer Mittel bedient. Die Autorität des Sachverständigenrates muß gestärkt werden. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Mittelschichten bleibt unbestritten. Wir wollen uns darum bemühen, daß ihnen gegenüber den Großeinheiten faire Wettbewerbschancen gewährt werden.
Die Mitbestimmung ist von grundlegender Bedeutung für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Wir sind der Ansicht, daß eine unabhängige Sachverständigenkommission mit der Prüfung der Erfahrung auf dem Gebiet der Mitbestimmung im Bereich der Montanwirtschaft beauftragt werden sollte. Diese Arbeit soll der Reform der Unternehmensverfassung im Sinne einer Ausweitung der Mitbestimmung dienen.
Fortschreitende Demokratisierung bedeutet Chancengleichheit für alle. Es gilt das Verfassungsgebot, daß die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat sei, voll zu verwirklichen.
Jedermann soll Vermögen bilden können. Deshalb gilt es, das Sparen insbesondere bei Beziehern geringerer Einkommen wirksamer zu fördern und die Vermögensbildung der Arbeitnehmer insbesondere durch tarifvertraglich vereinbarte vermögenswirksame Zuwendungen zu erleichtern. Dafür sind auch gemeinnützige Investmentgesellschaften zu gründen, deren Zertifikate vor allem Beziehern niedriger Einkommen vorbehalten bleiben.
Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges befindet sich die deutsche Landwirtschaft in einem tiefgreifenden Wandlungsprozeß. Den sinnvollen Verlauf dieses Prozesses unter Vermeidung sozialer Härten zu sichern, ist unsere Aufgäbe. Bis zum Inkrafttreten des europäischen Marktes müssen alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, um der deutschen Landwirtschaft den Übergang in die EWG ohne besondere Härten zu ermöglichen. Das Schwergewicht der Agrarpolitik ist auf die Verbesserung der landwirtschaftlichen Struktur zu legen. Die SPD setzt sich insbesondere für neue Formen und Methoden bei der Erzeugung und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte, für koordinierte Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur und für gezielte sozial- und bildungspolitische Hilfen für die Landbevölkerung ein.
In enger Zusammenarbeit mit den Verkehrsträgern muß ein Verkehrsstrukturplan erstellt werden, der auf die finanzielle Leistungskraft der öffentlichen Hand beim Ausbau des Gesamtverkehrsnetzes Rücksicht nimmt, einen ruinösen Wettbewerb der binnenländischen Verkehrsträger verhütet und das Transportvolumen wirtschaftlich sinnvoll nach der Leistungsfähigkeit der Verkehrsträger und des Verkehrsnetzes aufteilt.
Die spezifischen Verkehrsabgaben müssen - nach einer kurzfristigen Übergangszeit - in ihrer Gesamtheit dem Straßenbau zur Verfügung stehen.
Der Verkehrsnotstand in den Ballungsräumen verlangt eine unverzügliche Entlastung des Straßennetzes durch besondere Förderung des öffentlichen Nahverkehrs.
Voraussetzung für eine nach der Konjunktur und der Preisstabilität orientierte Finanzpolitik ist ein mittelfristiger Finanzplan. Eine mehrjährige Finanz- und Haushaltsplanung setzt voraus, daß für die Ausgaben der kommenden Jahre schon heute Prioritäten festgesetzt werden.
Der Parteitag begrüßt daher, daß die SPD-Bundestagsfraktion die Prioritäten für die Ausgabengestaltung genannt hat: Wissenschaftsförderung; Hilfsmaßnahmen für den Steinkohlenbergbau; Hilfe für das Land Berlin; Förderung des kommunalen Straßenbaus und Ausgleichsleistungen des Bundes für finanzschwache Länder.
Die Bundestagsfraktion wird beauftragt, zu prüfen, welche im Steuerrecht versteckt enthaltenen Subventionen dem Grundgesetz einer gerechten Besteuerung widersprechen und daher abzubauen sind. Das Steuererhebungsverfahren ist zu vereinfachen und der Verwaltungsaufwand zu vermindern.
Die Finanzverfassung entspricht nicht mehr der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik, öffentlicher Finanzbedarf und öffentliche Deckungsmittel haben sich in den einzelnen Regionen und Gebietskörperschaften unterschiedlich entwickelt. Insbesondere hat die Politik der Wahlgeschenke und Subventionen die öffentlichen Finanzen zerrüttet und unsere Währung in Gefahr gebracht. Die SPD hat seit Jahren die Finanzreform gefordert. Bei der verfassungsrechtlichen Umverteilung des Steueraufkommens muß die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet angestrebt werden. Die steuerliche Unabhängigkeit der Gemeinden ist zu fördern, die Gemeindefinanzmasse ist zu verstärken, die Steuerunterschiede der Gemeinden untereinander sind zu vermindern.
Eine Reform des überkommenen Haushaltsrechts würde die Erfüllung dieser Aufgaben erleichtern. Gemeinsam mit den Sachverständigen fordern wir die Bundesregierung auf, unverzüglich ein finanzielles Rahmenprogramm mit der Zielsetzung wirtschaftliches Wachstum, Geldstabilität, Gemeinschaftsaufgaben aufzustellen.
Alle Parteien sind sich darüber einig, daß eine umfassende Raumordnung für die Bundesrepublik geschaffen werden muß, das heißt, daß über vorhandenen Grund und Boden rechtzeitig planmäßig disponiert werden muß. Für die vor uns stehende Veränderung des menschlichen Lebensraumes fordert der Parteitag: die Förderung wissenschaftlich exakter Arbeiten zur Erlangung objektiver Grundlagen für den Städtebau; die Ausbildung qualifizierter Fachleute und ihre Schulung in den neuen städtebaulichen Arbeitsmethoden; geeignete Vorschläge zur Mobilisierung des Grundstückmarktes und eine Reform des Bodeneigentums. Dazu gehört die Verhinderung ungerechtfertigter Preissteigerungen beim Bauland, weil nur dann die Planungsfreiheit im Städtebau gesichert ist.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird ersucht, darauf zu drängen, daß der Umfang der noch bestehenden Wohnungsnot ermittelt wird. Die Umwandlung schwarzer in weiße Kreise muß solange abgestoppt werden, bis in den einzelnen Gebieten eine ausreichende Versorgung mit Wohnungen sichergestellt ist. Die SPD-Bundestagsfraktion wird daher ersucht, auf die Verabschiedung des von ihr eingebrachten Gesetzentwurfes zu drängen, damit endlich ein wirklich soziales Mietrecht geschaffen wird und daß ausreichende Haushaltsmittel für die Förderung des sozialen Wohnungsbaues bereitgestellt werden.
Der Parteitag erwartet die baldige Verabschiedung eines Städtebauförderungsgesetzes, das die Durchführung aller Maßnahmen für die Stadterneuerung auch finanziell sichert, nicht nur bei der Flächensanierung, sondern auch bei Einzelgrundstücken.
Die Länder müssen durch gesetzgeberische Maßnahmen und finanziellen Anreiz dafür sorgen, daß verwaltungskräftige und lebensfähige Gemeinden entstehen. Das mag in der Form von Großgemeinden, Gesamtgemeinden oder durch Ämterverfassung erreicht werden. Die Landkreise sollen in ihrer Abgrenzung im Laufe der nächsten Jahre der Entwicklung der Nachkriegszeit angepaßt werden. Unter Beachtung der topographischen und historischen Zusammenhänge sollen sie sich nach Möglichkeit mit dem örtlichen Wirtschaftsbereich decken. Eine gewisse Mindestgröße ist anzustreben. Um den Menschen auf dem Lande die gleichen Berufschancen zu geben, muß die Schaffung von vollausgebauten, möglichst mehrzügigen Mittelpunktschulen intensiviert werden. Im Rahmen einer sozialen und kulturellen Aufrüstung des Dorfes müssen durch den Bau von Dorfgemeinschafts- und Bürgerhäusern Mittelpunkte gemeindlichen Lebens geschaffen werden.
Die seit langem geplante Reform des Strafrechts muß endlich abgeschlossen werden. Im Interesse der Bevölkerung bejahen die Sozialdemokraten solche Gesetze und Maßnahmen, die dem Bürger Schutz und Hilfe in Gefahr und Not gewähren. Damit auch in einem äußeren Notstand das Recht nicht durch Willkür verdrängt werden kann, wollen die Sozialdemokraten, daß die jetzt bestehenden unumschränkten Notstandsvollmachten durch eine gesetzliche Regelung eingeschränkt werden, die übereinstimmt mit den Beschlüssen der Parteitage 1962, 1964 und den Parteibeschlüssen vom 31. 5. 1965. Der Parteitag bekräftigt gegen 20 Stimmen und 12 Enthaltungen diese Beschlüsse.
Die sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten werden beauftragt, sich dafür einzusetzen, daß die Bundestagsfraktion alles unternimmt, die noch verbleibende Zeit bis zum Ablauf der Verjährungsfrist für nationalsozialistische Verbrechen zu nutzen, die Unrechtstaten aufzuspüren und zu verfolgen.
In einem bald zu verabschiedenden Parteiengesetz muß festgestellt werden, daß die Parteien über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechnung legen. Dabei muß durch Gesetz gesichert werden, daß die Grundlage jeder Parteienfinanzierung das Aufbringen eigener Mittel aus Beiträgen der Mitglieder sein muß. Tätigkeit und Einfluß der wirtschaftlichen Verbände und Vereinigungen müssen in der Öffentlichkeit überschaubar sein.
Die Zahlen der Mütter- und Neugeborenensterblichkeit in der Bundesrepublik sind, im Vergleich zu anderen Ländern, immer noch zu hoch. Der Parteitag begrüßt den von der SPD-Bundestagsfraktion gemachten Versuch, in der abgelaufenen Legislaturperiode wirksame Vorsorgemaßnahmen für alle Mütter zu erreichen. Der Parteitag hält eine baldige gesetzliche Regelung für notwendig.
Der Parteivorstand möge über die Bundestagsfraktion der SPD einen Entwurf eines neuen Tierschutzgesetzes einbringen. Tiere werden immer noch wie Sachen behandelt. Im übrigen geben die bestehenden Gesetzesbestimmungen keine genügende Möglichkeit, gegen Tierquälerei einzuschreiten.
Die Führungschance der Sozialdemokratie hängt entscheidend ab von der Politisierung der Sachfragen in der Öffentlichkeit, das heißt davon, wie viele Menschen politisch mitdenken. Unser Wille, die Vorstellungen und Ziele der Sozialdemokratie in die Gesellschaft hineinzutragen, muß das tägliche Wirken unserer Mitgliederpartei bestimmen und formen. Träger des ständigen Gesprächs mit der Gesellschaft muß die Mitgliederpartei werden.
Der Parteitag fordert die Partei auf, die Veränderungen unserer Welt ständig neu zu überdenken, neue Wege zu gehen, keinem Problem und keiner Diskussion auszuweichen, damit die SPD auf allen Ebenen ihre selbst gesetzten Ziele erreichen und ihre Verantwortung für die Demokratie in unserem Lande und für das ganze deutsche Volk im gespaltenen Deutschland gerecht werden kann.
Die SPD braucht Ortsvereine und Stützpunkte in allen Orten.

Der Parteitag wählt mit 324 von 326 gültigen Stimmen W. Brandt als Vorsitzenden, die Stellvertreter F. Erler mit 293 gegen 34 und H. Wehner mit 285 gegen 42, den Schatzmeister A. Nau mit 315 gegen 14 Stimmen; die Mitglieder des Vorstandes werden mit 329 gültigen Stimmen gewählt. Es erhalten: Irma Keilhack 325, G. Heinemann 324, G. A. Zinn 323, H. Kühn 321, E. Schellenberg 321, C. Schmid 321, H. Albertz 320, K. Schiller 319, V. Gabert 318, Käte Strobel 317, K. Wienand 316, K. Conrad 308, W. v. Knoeringen 307, Lucie Kurlbaum-Beyer 306, H. Schmidt 300, J. Fuchs 295, W. Figgen 291, L. Metzger 289, G. Leber 286, Annemarie Renger 285, W. Eichler 277, H. Hansing 276, E. Franke 275, A. Möller 272, H. Hermsdorf 250, E. Schoettle 247, Elfriede Eilers 191, P. Corterier 187 und H. Junker 174 Stimmen.
Als Mitglieder der Kontrollkommission werden gewählt: W. Damm; R. Freidhof; F. Höhne; F. Ohlig; G. Peters; Grete Rudoll; O. Schmidt; F. Steinhoff und Th. Thiele.
Der Parteivorstand wählt das Präsidium der Partei. Ihm gehören an: W. Brandt; F. Erler; H. Wehner; A. Nau; E. Franke; H. Kühn; K. Schiller; C. Schmid; H. Schmidt und Käte Strobel.
In der öffentlichen Kundgebung zum Abschluß des Parteitages erklärt W. Brandt: Die Bevölkerung will, daß Schluß gemacht wird mit einer Politik der Führungslosigkeit, des Durcheinanders, der Beschwörung und des Mangels an Vorausschau. Der Parteitag hat gezeigt: Wir brauchen wirtschaftliches Wachstum und finanzpolitische Verantwortlichkeit. Wir brauchen eine krisenfeste Wirtschaft und eine krisenfeste Demokratie.



Fussnote:

1 In d. Druckausgabe fehlerhaft als Karlsruhe angegeben.
Korrektur in der Online-Ausgabe: Internetred. der Bibliothek, 29.5.2013

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