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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
31. Mai/ 5. Juni 1931

SPD-Parteitag in Leipzig, 394 stimmberechtigte Teilnehmer. Tagesordnung: Kapitalistische Wirtschaftsanarchie und Arbeiterklasse (F. Tarnow); die Überwindung des Faschismus (R. Breitscheid); Partei und Jugend (E. Ollenhauer).
Am 31. Mai findet eine Demonstration der Partei statt, an der rund 150000 Menschen teilnehmen.
O. Wels erklärt, daß die deutsche Arbeiterschaft eine Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, denen die Kommunisten Schrittmacherdienste leisteten, mit allen Mitteln verhindern werde. R. Breitscheid bezeichnet die Verhinderung einer nationalsozialistischen-bürgerlichen Koalition als die Aufgabe der sozialdemokratischen Taktik gegenüber dem Kabinett H. Brüning.
Der Parteitag stellt dazu fest:
»Der Faschismus ist durch den energischen Abwehr kämpf der Sozialdemokratischen Partei in die Defensive gedrängt.
Unter schwersten Opfern für die Arbeiterklasse und Partei wurde verhindert, daß Nationalsozialisten und Deutschnationale im Reich und in Preußen die Regierungsgewalt an sich rissen.
Es ist nunmehr Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei, insbesondere die notleidenden Wählermassen, die noch im feindlichen Lager stehen, durch eine energische, planvoll vorbereitete und vorausschauende soziale Politik zu gewinnen.
Die Sozialdemokratische Partei hat durch Mobilisierung und Aktivierung der breiten Massen der arbeitenden Bevölkerung für unsere politischen Gegenwartsforderungen und durch den Kampf um den Sozialismus die politische Durchschlagskraft der Reichstagsfraktion zu stärken.
Zur Durchrührung dieses Kampfes ist Einheit und Geschlossenheit der Sozialdemokratischen Partei und ihrer Körperschaften notwendig.«
Das uneinheitliche Verhalten der Fraktion bei der Panzerschiffabstimmung (M. Seydewitz verteidigt die Haltung der Neun) wird verurteilt; in namentlicher Abstimmung stimmen 324 gegen 62 Delegierte dafür, daß die Verletzung des Fraktionszwanges parteischädigendes Verhalten sei.
F. Tarnow warnt, in der Wirtschaftskrise die endgültige Krise des Kapitalismus zu sehen. Die Sozialdemokraten stehen vor der schwierigen Aufgabe, gleichzeitig Arzt und Erbe des Kapitalismus zu sein, dabei gehe es weniger um den Patienten selbst, sondern um die Massen, die dahinter stehen. Es sind schon jetzt starke Fundamente und Konstruktionen für den sozialistischen Bau der Zukunft vorhanden, z. B. das Wachsen der öffentlichen und genossenschaftlichen Wirtschaft. Diese werden noch ergänzt durch das Zurückdrängen der individuellen Unternehmerpersönlichkeit, durch gesellschaftliche Unternehmensformen und die Ausdehnung der sozialen Funktionen des Staates und dem wachsenden Zwang für die Wirtschaft zu sozialen Leistungen.
Der Parteitag beschließt dazu u.a.:

»Die gegenwärtige ökonomische Krise liefert einen neuen furchtbaren Beweis für die zunehmende Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, die Versorgung der Gesellschaft mit den vorhandenen Versorgungsmöglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen.

Aus diesen wahnsinnigen Widersprüchen der geltenden Wirtschaftsordnung kann die Menschheit nur durch die Überwindung des kapitalistischen Systems und die Verwirklichung des Sozialismus befreit werden. Diesen Befreiungskampf zu führen und dafür die Arbeiterklasse zu organisieren, ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei und der mit ihr verbundenen Gewerkschaften.

Dabei ist sich der Parteitag bewußt, daß der Sturz des Kapitalismus nicht ein einmaliger kurzer Akt sein kann: er vollzieht sich als ein Umwandlungsprozeß im steten Kampf zwischen der organisierten Arbeiterklasse und den großkapitalistischen Wirtschaftsmächten. Der Kampf für den Sozialismus kann nicht geführt werden, ohne gleichzeitig den Kampf um die Verbesserung der Arbeiterlage in der Gegenwart zu führen.

Der Parteitag fordert die gesetzliche Verkürzung der zulässigen Arbeitszeit auf 40 Stunden in der Woche. Er brandmarkt die Lohnabbauoffensive des Unternehmertums als Ausfluß sozialer Brutalität und als unvereinbar mit den volkswirtschaftlichen Interessen, die zur Überwindung der Krise eine Stärkung der Massenkaufkraft erfordern. Die Sozialpolitik und die sozialen Einrichtungen müssen geschützt und erweitert werden.

Der Parteitag ist sich bewußt, daß die Durchsetzung dieser Gegenwartsforderungen ebenso wie die Verwirklichung des Sozialismus politische Machtfragen sind. Er beklagt aufs tiefste, daß das Proletariat, das als Volksmehrheit nach der demokratischen Verfassung der Republik dazu berufen ist, die entscheidende politische Macht zu sein, von diesem Rechte noch keinen ausreichenden Gebrauch gemacht hat. Die Verteilung der politischen Macht steht deshalb noch im Gegensatz zur sozialen Struktur. Diesen Widerspruch aufzuheben, ist die wichtigste Voraussetzung für die Durchführung einer sozialen Politik und der schnelleren Überwindung des Kapitalismus.«

Die SPD bekämpft aufs schärfste die Hetze gegen die arbeitende Frau - gleichviel, ob sie ledig oder verheiratet ist. Sie bekennt sich erneut zu der bereits im Heidelberger Programm aufgestellten Forderung »Gleiches Recht der Frau auf die Erwerbsarbeit«. Daß bei Entlassungen die soziale Lage des einzelnen Berücksichtigung finden muß, und daß vor allem der wirtschaftlich Schwächere seinen Arbeitsplatz behalten soll, ist selbstverständlich und sowohl von der Partei wie auch von den Gewerkschaften zu wiederholten Malen zum Ausdruck gebracht worden. Ebenso selbstverständlich ist es aber auch, daß der wirtschaftlich Stärkere absolut nicht die Frau, auch nicht die verheiratete Frau sein muß.

Der Parteivorstand soll auf die Republikanisierung der Verwaltung und der Justiz sein besonderes Augenmerk richten.

Der Parteitag verabschiedet Richtlinien für eine »Sozialistische Hochschulgemeinschaft«. Diese soll die Hochschulpolitik der SPD fördern und ihre studierende Jugend geistig, gesellschaftlich und wirtschaftlich stützen. In der »Sozialistischen Hochschulgemeinschaft« sollen alle bestehenden oder in Bildung begriffenen Vereinigungen eingegliedert werden, die die sozialistischen Studenten und ihre Einrichtungen unterstützen oder die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der sozialistischen Praxis fördern.

Das Recht der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) als Erziehungsorganisation auf pädagogische und organisatorische Selbständigkeit im Sinne der Parteitagsbeschlüsse von Weimar und Kiel wird anerkannt. Diese Selbständigkeit entbinde die Parteiorganisation jedoch nicht von der Verantwortung für die Parteimitglieder, die in der Jugendorganisation tätig seien. Diese Parteimitglieder müßten für ihre Tätigkeit in der Jugendorganisation das Vertrauen der Jugend und der Partei besitzen.

Der Beschluß des Kasseler Parteitages über die Organisation von Jungsozialisten-Gruppen wird aufgehoben.

Zur Herbeiführung größerer organisatorischer Einheitlichkeit und sachgemäßer Mitarbeit in der Partei und zur wirksameren Werbung wird der Reichsausschuß für sozialistische Bildungsarbeit, die Arbeitsgemeinschaften der sozialdemokratischen Lehrer und Lehrerinnen, Ärzte, Juristen, die Sozialistische Hochschulgemeinschaft und ähnliche Arbeitskreise in geeigneter Form in sein Arbeitsgebiet einbeziehen. Im Rahmen des Reichsausschusses nehmen die Arbeitskreise an den allgemeinen Aufgaben der sozialistischen Bildungsarbeit teil. Die »Sozialistische Bildung« wird gemeinsames Organ der Arbeitskreise.

Bei der Wahl zum Parteivorstand stimmen 387 Delegierte ab. Gewählt werden: O. Wels (332), A. Crispien (318), H. Vogel (318) zu Vorsitzenden; F. Bartels (366), K. Ludwig (362) zu Kassierern; M. Westphal (332), Marie Juchacz (331), J. Stelling (328), W. Dittmann (301) zu Sekretären; R. Breitscheid (326), F. Stampfer (312), R. Hilferding (306), Anna Nemitz (302), J. Moses (295), K. Hildenbrand (293), E. Stahl (292), H. Schulz (275), Elfriede Ryneck (273), C. Litke (270), O. Frank (226) als Beisitzer. P. Löbe (350), W. Bock (324), M. Treu (322), C. Hengsbach (313), A. Brey (307), A. Schönfelder (297), H. Müller/Lichtenberg (275), S. Crummenerl (248) und R. Lipinski (187) als Kontrolleure. Vorsitzender der Kontrollkommission wird C. Hengsbach.
Von der Parteiopposition entfallen auf M. Seydewitz als Vorsitzenden 54, W. Oettinghaus 67 als Sekretär, H. Fleißner 99, A. Siemsen 92, K. Böchel 80, H. Ströbel 69 und K. Rosenfeld 59 Stimmen als Beisitzer.



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