Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. -
[Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
SPD-Parteitag in Kiel; 415 Delegierte. Tagesordnung: Das Agrarprogramm (F. Baade und F. Krüger); die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik (R. Hilferding); Bericht über die SAI (A. Crispien).
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
22./27. Mai 1927
In seinem Kassenbericht teilt K. Ludwig mit, daß die in der Konzentration zusammengefaßten Parteibetriebe ca. 42 Millionen Mark an Werten repräsentierten. Nach Abzug der Hypotheken und Darlehen blieben etwa 26 Millionen Mark Werte, die der Partei gehörten und von den 144 einzelnen Firmen in Deutschland als Treuhänder für die Gesamtpartei verwaltet würden. Der Parteivorstand sei dabei mit etwa vier Millionen Mark beteiligt.
In der allgemeinen Diskussion werden der Vergleich Preußens mit den Hohenzollern, die Beamtenfrage, die Jungsozialisten und das Verhalten oppositionell eingestellter Parteimitglieder, vor allem die Levi-Korrespondenz behandelt.
R. Hilferding bezeichnet in seinem Referat die Organisation der Produktion in den Konzernen und Trusts und die internationalen monopolistischen Zusammenschlüsse als den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion. Mit Hilfe der Gesetzgebung könne auch im bestehenden bürgerlich-demokratischen Staat die Lage der Arbeiterklasse verbessert werden.
Der Parteitag stellt fest, daß der Kampf und die Behauptung der Republik und die Ausgestaltung der Demokratie, die Abwehr der sozialen Reaktion und die Erringung der Wirtschaftsdemokratie die Vereinigung aller Arbeitenden in einer politischen Partei, in der Sozialdemokratie, erfordere.
Als politische Partei lehne die Sozialdemokratie jede Spaltung der Arbeiterbewegung aus konfessionellen Gründen ab. Die politischen und sozialen Ziele der Arbeiterbewegung seien völlig unabhängig von der religiösen Überzeugung und den weltanschaulichen Meinungen ihrer einzelnen Glieder.
Der Kampf um die Eroberung der Staatsmacht mache die Erringung und Behauptung möglichst vieler Machtpositionen in Gemeinde, Staat und Reich notwendig. Allein durch aktive Betätigung in der Verwaltung könne deren notwendige Republikanisierung und Demokratisierung erreicht werden.
Ein Antrag von S. Aufhäuser, Toni Sender und anderen, daß nur durch Opposition der Klassenkampf Sozialismus gegen Kapitalismus zu führen sei, wird mit 255 gegen 83 Stimmen abgelehnt. Die Sozialdemokratie sieht in den allenthalben auftretenden faschistischen Tendenzen nicht nur eine nationale, sondern auch eine internationale Gefahr. Ihnen entgegenzutreten und die Demokratie zu verteidigen, betrachtet sie auch um der Erhaltung des Friedens willen als eine ihrer wesentlichsten Aufgaben.
»In dem Bestreben der Sozialdemokratischen Partei, den Befreiungskampf der Arbeiterklasse zu einem einheitlichen und bewußten zu gestalten, gilt es vor allem, Arbeiter, Angestellte und Beamte politisch wie gewerkschaftlich zum gemeinsamen Handeln zu befähigen.
Die Beamten, deren Grundrechte unter führender Mitwirkung der Sozialdemokratie in der Weimarer Verfassung gesichert wurden, bedürfen der Verbindung mit der übrigen werktätigen Bevölkerung in erhöhtem Maße. Der Kaufwert ihrer Besoldung ist davon abhängig, inwieweit es der organisierten Arbeiterschaft gelingt, preissteigernde Zölle sowie Kartellwucher abzuwehren und zu einer konsumentenfreundlichen Wirtschaftspolitik zu gelangen. Die sozialen Beamtenrechte stehen in innigster Wechselwirkung mit dem übrigen Arbeitsrecht der Arbeiter und Angestellten. Die staatsbürgerlichen Freiheiten der Beamten, die freie Entfaltung ihrer Berufsverbände sind nur im freien Volksstaat gewährleistet, dessen stärkster Schutz wiederum durch die Arbeiterschaft gegeben ist.
Diese Gedanken der Solidarität aller Arbeiter, Angestellten und Beamten finden im Zusammenwirken des >Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes<, des >AfA-Bundes< und des >Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes< mit ihren angeschlossenen Verbänden ihren lebendigen Ausdruck. Diese Entwicklung sollte jeder Sozialdemokrat durch Zugehörigkeit zu einer freien Gewerkschaft fördern. Aufgabe der Parteiorganisationen und der Parteipresse ist es, die freien Gewerkschaften in ihrer Tätigkeit zu unterstützen.«
Die SPD erstrebe die Weltlichkeit des gesamten öffentlichen Schul-, Erziehungs- und Forschungswesens unter bedingter Aufrechterhaltung der staatlichen Schulhoheit. Die Ausschaltung der trennenden religiös-weltanschaulichen Gegensätze sei eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung leistungsfähiger Schulkörper und für die Erzielung pädagogischer Höchstleistungen.
Der Parteitag verlangt auf Grund des Artikel 138 der Reichsverfassung die Ablösung der auf Gesetz oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften.
Die SPD erkennt an, daß der neue Strafgesetzentwurf den das geltende Strafrecht beherrschenden Strafzweck der Vergeltung hinter dem Strafzweck der Besserung und Erziehung zurücktreten lasse. Der Strafgesetzentwurf schütze aber diejenigen Rechtsgüter nicht hinreichend, die die Existenz und Entwicklungsgrundlage des Proletariats bilden - Freiheit, Arbeitskraft und Gesundheit -.
Der vorgeschlagenen Erweiterung des richterlichen Ermessens könne die SPD nicht zustimmen, da das Vertrauen der deutschen Arbeiterschaft zur Rechtsprechung zu sehr erschüttert sei.
Die Altersgrenze für die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) wird vom 18. auf das 20. Lebensjahr erhöht.
Das am 12. Januar 1927 veröffentlichte Agrarprogramm wird angenommen.
Für die Wahlen zum Parteivorstand und zur Kontrollkommission werden 378 Stimmzettel abgegeben. Als Vorsitzende werden gewählt: O. Wels (298 Stimmen), H. Müller (332), A. Crispien (285); Kassierer: F. Bartels (352), K. Ludwig (318); Sekretäre: Marie Juchacz (342), J. Stelling (347), W. Dittmann (306), H. Vogel (371), M. Westphal (272); Beisitzer: H. Molkenbuhr (284), A. Braun (294), R. Hilferding (305), J. Moses (257), Anna Nemitz (256), Elfriede Ryneck (241), O. Frank (247), K. Hildenbrand (260), H. Schulz (271), E. Stahl (244), F. Stampfer (263); Kontrollkommission: Lore Agnes (248), W. Bock (338), A. Brey (305), F. Brühne (311), C. Hengsbach (313), P. Löbe (322), H. Müller/ Lichtenberg (307), A. Schönfelder (289), M. Treu (275); Vorsitzender F. Brühne.