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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
18./24. Sept. 1921

SPD-Parteitag in Görlitz mit 376 stimmberechtigten Teilnehmern, davon 277 Delegierten. Tagesordnung: Die Wirkung des Versailler Friedensvertrages auf die innere und äußere Politik Deutschlands (H. Müller); das Parteiprogramm (H. Molkenbuhr).
Der Parteitag nimmt gegen 5 Stimmen ein neues Programm, das sogenannte »Görlitzer Programm« an. Mit diesem reformistischen Programm verläßt die SPD die theoretische Grundlage des Erfurter Programms von 1891. Die Partei versucht darin auch nichtproletarische Kreise anzusprechen: »Die SPD ist die Partei des arbeitenden Volkes in Deutschland. Die kapitalistische Wirtschaft hat den Klassenkampf für die Befreiung des Proletariats zur geschichtlichen Notwendigkeit und zur sittlichen Forderung gemacht.
Der Weltkrieg und die ihn abschließenden Friedensdiktate haben die Konzentration der Betriebe und des Kapitals beschleunigt, die Kluft zwischen Kapital und Arbeit, Reichtum und Armut erweitert. Mächtiger denn je erhebt sich der Wille, das kapitalistische System zu überwinden und durch internationalen Zusammenschluß des Proletariats, durch Schaffung einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung, eines wahren Bundes gleichberechtigter Völker, die Menschheit vor neuer kriegerischer Vernichtung zu schützen.
Diesem Willen den Weg zu weisen, den notwendigen Kampf der schaffenden Massen zu einem bewußten und einheitlichen zu gestalten, ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei. Die Sozialdemokratische Partei ist entschlossen, zum Schutze der errungenen Freiheit das Letzte einzusetzen. Sie betrachtet die demokratische Republik als die durch die geschichtliche Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform, jeden Angriff auf sie als ein Attentat auf die Lebensrechte des Volkes.
Die Sozialdemokratische Partei kann sich aber nicht darauf beschränken, die Republik vor den Anschlägen ihrer Feinde zu schützen. Sie kämpft um die Herrschaft des im freien Volksstaat organisierten Volkswillens über die Wirtschaft, um die Erneuerung der Gesellschaft im Geiste sozialistischen Gemeinsinns. Die Überführung der großen konzentrierten Wirtschaftsbetriebe in die Gemeinschaft und darüber hinaus die fortschreitende Umformung der gesamten kapitalistischen Wirtschaft erkennt sie als notwendiges Mittel, um das schaffende Volk aus den Fesseln der Kapitalherrschaft zu befreien, die Produktionserträge zu steigern, die Menschheit zu höheren Formen wirtschaftlicher und sittlicher Gemeinschaft emporzuführen . . . Sie kämpft nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller, ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung.«
F. Krüger erklärt als Berichterstatter zum Geschäftsbericht, die Hauptdifferenz zwischen den beiden sozialdemokratischen Parteien liege jetzt in der Frage, ob eine sozialdemokratische Partei gemeinsam mit bürgerlichen Parteien in eine Regierung eintreten könne. Die Frage der Regierungsbildung sei die wichtigste, die die Partei in der nächsten Zeit beschäftigen werde. Ph. Scheidemann betont, daß unter allen Umständen alle Kräfte auf die Sicherung der Republik zu konzentrieren seien. »Wir lassen uns an Liebe zu unserem Vaterland und zu unserem Volke von niemand übertreffen.«
Nach einer Diskussion über eine Koalition mit der Deutschen Volkspartei erklärt der Parteitag mit 290 gegen 67 Stimmen, darunter die von R. Görlinger, J. Leber und M. Seydewitz, seine Bereitschaft, Koalitionen mit anderen Parteien im Reich und in den Ländern einzugehen, wenn diese folgenden Grundforderungen zustimmen: Anerkennung und Verteidigung der Republik; Sicherung des demokratischen Selbstbestimmungsrechts des Volkes in Reich, Staat und Gemeinde; Demokratisierung der Verwaltung und Republikanisierung der Reichswehr und der Polizeiorgane; Sicherung und Ausbau der Sozialgesetzgebung; Politik der Völkerverständigung; loyale Erfüllung des Friedensdiktates in den Grenzen unserer Leistungsfähigkeit und Aufbringung der dadurch bedingten Lasten in erster Linie durch weitestgehende Heranziehung des Besitzes.
Die Reichstags- und sämtliche Landtagsfraktionen werden beauftragt, in den Parlamenten dahin zu wirken, daß endlich die alten Wahrzeichen der Monarchie, wie Fahnen und Stempel in den Reichs- und Landesbehörden eingezogen und durch die in der Verfassung vorgesehenen ersetzt werden.
Den Parteimitgliedern wird empfohlen, die Zahl und die Macht der Anhänger der Republik durch das Anlegen eines Abzeichens in den Farben der deutschen Republik sichtbar zu machen, um der äußerlichen Propaganda des Monarchismus wie Tragen schwarz-weiß-roter Abzeichen, Hakenkreuze und anderer Dekorationen entgegenzutreten.
An die Reichsregierung soll das Ersuchen gerichtet werden, die Verordnung des Reichspräsidenten vom 29. August sofort auf alle sogenannten Arbeitsgemeinschaften und Freikorps auszudehnen, alle Waffen- und Munitionslager sowie -transporte unter die Mitkontrolle der Arbeiterorganisationen zu stellen, mit dem Zwecke, sämtliche nicht unbedingt notwendigen Waffen- und Munitionsbestände umgehend zu vernichten.
Parteivorstand und Reichstagsfraktion werden beauftragt, unverzüglich an die Lösung der Reichswehrfrage im Sinne der Ausmerzung der monarchistischen Offiziere und der Schaffung einer wahrhaft republikanischen Wehrmacht heranzutreten.
1. Mai und 9. November sollen gesetzliche Feiertage werden.
Die Revision des Versailler Vertrages wird gefordert. Vor allem sei eine baldige, auf eine Abstimmung gegründete Entscheidung über das für Deutschland lebenswichtige oberschlesische Industriegebiet erforderlich. Ferner müsse die sofortige Aufhebung der völkerrechtswidrigen, überdies auch dem Versailler Vertrag widersprechenden militärischen und wirtschaftlichen Sanktionen im Westen gefordert werden. Sie lieferten den deutschen Nationalisten Wasser auf die Mühlen und erschwerten damit der deutschen Sozialdemokratie ihren Kampf für eine Politik der Völkerverständigung.
Der Parteitag verurteilt auf das allerschärfste den brutalen Überfall Sowjetrußlands auf die demokratische Republik Georgiens und deren Vergewaltigung. Er brandmarkt »das blutige Regime der Soldateska« in Ungarn, das mit der monarchistischen Reaktion in Bayern liebäugele. Die Beseitigung dieses Systems sei ein dringendes Erfordernis für den Frieden in Europa.
Unter dem Schutze der richterlichen Unabhängigkeit habe sich in der deutschen Republik eine Justiz erhalten, die sich als ein obrigkeitsstaatlicher Fremdkörper im sozialen Volksstaat darstelle. Es sei Pflicht der Justizministerien, durch sorgfältige Auslese des justizamtlichen Nachwuchses, durch tatkräftige Leitung und Sichtung der Staatsanwaltschaft für die Erneuerung des Geistes in der
Justiz Sorge zu tragen.
Die Reichstagsfraktion solle für eine gründliche Umgestaltung des vorliegenden Schulgesetzentwurfes eintreten. Hierbei sei nicht nur der Wille der Erziehungsberechtigten zu berücksichtigen, wie es die Reichsverfassung unter dem Zwang der überlieferten konfessionellen Gliederung Deutschlands verlange, wie es aber auch die innere Neugestaltung der Schule wünschenswert erscheinen
lasse, sondern es müsse auch eine möglichst hohe und einheitliche Leistungsfähigkeit des deutschen Schulwesens im vollsten Maße gesichert werden. Die verfassungsmäßigen Rechte der Lehrer dürften nicht beeinträchtigt werden. Der Parteitag sieht nach wie vor in der weltlichen Schule die beste Form der Gemeinschaftsschule, da sie allein die von dem modernen Volksstaat allen Bekenntnissen und Weltanschauungen gegenüber zu übende Duldsamkeit gewährleiste und zugleich alle wertvollen Forderungen einer neuzeitlichen Schulreform am besten zu verwirklichen vermöge.
In den Fortbildungsschulen soll im staatsbürgerlichen Unterricht Verfassungskunde mit besonders gründlicher Behandlung der bestehenden verfassungsrechtlichen Grundlagen des Deutschen Reichs erteilt werden.
Der Parteitag protestiert entschieden gegen eine neunjährige höhere Schule, wie sie vom Reichsschulausschuß als Regel beschlossen sei. Er erblickt darin einen Vorstoß gegen die vierjährige Grundschule und sieht darin eine große Erschwerung des Aufstieges der Begabten aus den breiten Volksschichten. Die Ausbildung der Begabten aus allen Kreisen des werktätigen Volkes soll durch Schulgelderlaß und sonstige Beihilfen sichergestellt werden.
Aus den Lehrbüchern der Schule soll die Kaiserverherrlichung verschwinden.
Die Reichstagsfraktion wird beauftragt, alle Mittel anzuwenden, um das Reichsjugendschutzgesetz zu verabschieden.
Vorhandene finanzielle Mittel im Reich, in den Ländern und Gemeinden sollen in steigendem Maße für kulturpolitische Zwecke verwendet werden.
Die Reichstagsfraktion soll sich dafür einsetzen, daß die Trennung von Staat und Kirche endlich Gesetz werde und sich energisch gegen jede Presse- und Literaturunterdrückung wenden, da bestimmte Kreise unter dem Vorwand der Bekämpfung von Schund und Schmutz die Gelegenheit suchen, der Freiheit ernsten künstlerischen Schaffens Fesseln anzulegen.
In einer Resolution zur Steuerfrage wird zur Befreiung von der zügellosen Devisenspekulation, zur Hebung des deutschen Auslandskredits, zur Stabilisierung der deutschen Währung und zur Balancierung des Reichshaushaltes gefordert, daß das Reich das gesetzliche Verfügungsrecht über einen ausreichenden Teil des privaten Sachvermögens und über seinen Ertrag unter Schonung des kleingewerblichen und kleinbäuerlichen Besitzes bekomme.
Den Parteimitgliedern wird es zur Pflicht gemacht, mehr als bisher die Frauen zu allen Arbeiten in öffentlichen Ämtern, Körperschaften und Funktionen heranzuziehen.
Zur Ausarbeitung eines Agrarprogramms wird eine Kommission gewählt.
Zu Vorsitzenden der Partei werden H. Müller (320) und O. Wels (300), zu Kassierern F. Bartels (320) und O. Heinrich (318), zu Beisitzern R. Fischer (321), K. Hildebrand (320), A. Ritter (317), Elfriede Ryneck (312), O. Frank (318) und H. Schulz (311), zu Sekretären H. Molkenbuhr (317), W. Pfannkuch (308), O. Braun (298), A. Braun (290), F. Krüger (255) und Marie Juchacz (308) gewählt.
In die Kontrollkommission werden gewählt: A. Brey (306), F. Brühne (Vors.) (306), F. Fischer (316), Helene Grünberg (195), K. Hengsbach (304), H. Müller/Lichtenberg (300), P. Löbe (316), K. Pinkau (273) und A. Schönfelder (294).
Dem Zentralbildungsausschuß gehören an: H. Schulz, H. Heimann, G. Radbruch, K. Schreck, C. A. Hellmann, J. Sassenbach und A. Köster.



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