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Berlin - Offenbach - Washington - Bonn : Das Offenbach Archival Depot und die Gewerkschaftsbestände der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung / Rüdiger Zimmermann - [Electronic ed.] - 40 KB, Text
Erschienen in: AKMB-News : Informationen zu Kunst, Museum und Bibliothek, Jg. 8 (2002), H. 2, S. 11 - 17
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2002

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




Berlin -> Offenbach -> Washington -> Bonn

Das Offenbach Archival Depot und die Gewerkschaftsbestände der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

Im bibliothekarischen Alltag gehen die Bücher ohne Aufsehen "über die Theke". Erst das neuentfachte Bewusstsein und die intensive Diskussion über "Beutekunst" und "Spoils of War" haben Recherchen auch in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung angestoßen.

Das Interesse an "lost art", an scheinbar oder tatsächlich "verloren" gegangenen Kunstwerken, Archiven und Büchern hat in den letzten Jahren auffällig zugenommen. Indikatoren dafür gibt es viele. Verzeichnete die erste Auflage der "Beutekunst" von Peter Bruhn im Jahr 1997 1.153 Titel, dokumentiert die jüngste Literaturzusammenstellung des ehemaligen Bibliothekars am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin 4.037 Titel. 1 Die Gründe für das exponenzielle Wachstum der einschlägigen Literatur liegen auf der Hand.

Der Zusammenbruch der vordergründig so fest gefügten Systeme der alten Comecon-Länder hat die politische Landschaft radikal und nachhaltig verändert. Vorher nicht für möglich erachtete Recherchen können seit der großen politischen Wende durchgeführt werden. Das ganze Ausmaß der Verwerfungen von Raub, Beschlagnahme, Verbringung und Vernichtung kultureller Güter während des letzten Weltkriegs kann neu beleuchtet werden. Und: Wissenschaft ist auch von Interessen geleitet. Die Chance, verloren gegangene Kunst- und Kulturgüter wieder "zurück" zu bekommen, hat viele Museen, Archive und Bibliotheken beflügelt, intensive Nachforschungen anzustellen, aber auch Gegenveröffentlichungen provoziert, genau diese Ansprüche "abzuwehren". Der Diskurs wird mit Unterstützung staatlicher und quasistaatlicher Institutionen und Einrichtungen in Europa und den Vereinigten Staaten geführt – hart, politisch und alles andere als wertfrei. 2

Und Fragen drängen sich auf: Warum etwa bekommen holländische Einrichtungen ihre Bibliotheken nicht zurück, die von Nationalsozialisten geraubt und anschließend durch sowjetische Trophäenkommissionen in die Sowjetunion verbracht wurden? Warum sind genuin russisch jüdische Kultgegenstände nach 1945 nicht der Sowjetunion zurückgegeben worden, sondern wurden in die USA transferiert? Das Thema "Beutekunst" fand und findet in den Massenmedien breiten Widerhall. Allerdings dreht es sich dort in der Regel nicht um das Schicksal großer Bibliotheken. Vielmehr macht sich das Interesse an dem legendären "Bernsteinzimmer", dem wieder aufgetauchten "Schatz des Priamus" oder der Rückführung des Domschatzes von Quedlinburg fest. Auch in der Wissenschaftsszene überwogen die spektakulären Themen, die Rückführung von 100.000 Bänden aus Georgien nach Deutschland fand dabei eher geringes Interesse. 3 Wenn überhaupt eine stattfand, dann drehte sich die öffentliche bibliothekarische Berichterstattung um den Verbleib wertvoller Inkunabeln und Handschriften.


Restititutionen unmittelbar nach dem Krieg

Das lebendige Interesse an verlorener Kunst und die weltweiten Bemühungen um gerechte Lösungen haben nahezu verdeckt, dass es bereits in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg enorme Aktionen gab, zusammengeraubte Büchergebirge den legitimen Besitzern zurückzugeben. In der Regel handelte es sich um Bestände, die die siegreichen westlichen Alliierten in zahlreichen Ausweichquartieren und Verstecken vorfanden. Bücher wurden an einer Stelle in Offenbach zusammengeführt. Buchstäblich tonnenweise wurden sie in Offenbach am Main (Offenbach Archival Depot) "umgeschlagen". Zu Recht wurde die Aktion als "the biggest book-restitution operation in library history" 4 beschrieben. Oft, aber leider nicht immer ging es dabei ganz gerecht zu.

Die nationalsozialistischen Machthaber hatten planlos wie auch planvoll Bibliotheken in Deutschland, West- und Osteuropa zusammengeraubt, um ihren Überlegenheitsanspruch zu dokumentieren. Die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung besitzt Tausende von Büchern aus Gewerkschaftsbibliotheken, die durch das Offenbach Archival Depot gelaufen sind und heute nach einer spektakulären Odyssee wieder der allgemeinen Nutzung überregional zur Verfügung stehen.


Beschlagnahmt, verbracht, verbrannt:
die Büchersammlungen der Gewerkschaften

Nationalsozialistische Literaturpolitik zeichnete sich durchgängig durch einen irrationalen Zug aus. Ziel war es, das geistige Erbe des politischen Gegners und des scheinbar "rassisch" Unterlegenen zusammenzutragen und es gleichsam zu beherrschen. Michael Kuntz hat diesen Irrationalismus treffend beschrieben. Ein wichtiger Aspekt dabei war nicht nur der ökonomische, sondern auch der psychologische Terror. 5 Naturgemäß waren ihre politischen Gegner in den großen Parteien der Arbeiterbewegung und in den Gewerkschaften schnell ins Visier geraten. Zu den großen kulturellen Gesamtleistungen der Arbeiterbewegung zählt der Aufbau bedeutender Bibliotheken.

Gewöhnlich wird nationalsozialistische Kulturpolitik gegenüber "feindlichen Büchern" mit Bücherverbrennung gleichgesetzt. Als "Grundlage für die symbolische Handlung im Verbrennungsakt", "Gegen Klassenkampf und Materialismus. Für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung" wurden im Mai 1933 in den sog. "Feuersprüchen" als erste Karl Marx und Karl Kautsky genannt. 6 Und Karl Kautskys Schriften "Was ist Sozialisierung?", "Richtlinien für ein sozialistisches Aktionsprogramm" und "Der Arbeiterschutz" auf den Scheiterhaufen können getrost als Synonym für das Verbrennen gewerkschaftlicher Literatur angesehen werden.

Dennoch galt das Hauptaugenmerk der "Verbrenner" der Belletristik: Vorwiegend Romane aus Gewerkschaftsverlagen fielen dem Autodafé zum Opfer, dagegen wurde die politische Gewerkschaftsliteratur als Trophäe behandelt und hemmungslos zusammengeraubt.

Diese Gier des Raubens und Besitzens betraf Kunst- und Kulturgüter aller Art: Gemäldesammlungen, Archive, Altäre, Bibliotheken, Münzsammlungen. Während der nationalsozialistischen Herrschaft beschlagnahmten unterschiedliche "Spezialeinheiten" jedweder Provenienz, alles, was ihnen in die Hände fiel. Insgesamt zeigte sich bei diesen Raubaktionen das hinlänglich bekannte Bild nationalsozialistischer Herrschaftsausübung. Sich eifersüchtig bekämpfende Konkurrenzgruppen, unterschiedlichen Potentaten von Partei und Staat zur Loyalität verpflichtet, suchten "ihren" Teil der Beute auf "ihre" Seite zu schlagen. Oft genug ging es um hemmungslose persönliche Bereicherung. 7 Anderen Ortes ging es "nur" um die Gier, den größten intellektuellen Schatz des niedergeschlagenen Gegners zu besitzen.

Auch die zahlreichen beschlagnahmten Gewerkschaftsbibliotheken gerieten in den Interessenskonflikt konkurrierender NS-Einrichtungen, in diesem Fall zwischen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und der NSDAP selbst. Die DAF hatte das Haus des freigewerkschaftlichen Dachverbandes Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund (ADGB) in Berlin für ihre Zwecke besetzt. Hier entstand im Januar 1934 das "Parteiarchiv der NSDAP und der DAF". Archive, Kataloge, Bibliotheken der verbotenen Arbeiterorganisationen sollten zusammen geführt und so erhalten bleiben, um schließlich in einer "Reichshalle der NSDAP" den endgültigen Sieg der Bewegung zu dokumentieren. 8

Im ersten Zugriff hatte das Reichsarchiv sich die Bibliothek des Bundesvorstands des ADGB und der Sassenbach-Bibliothek einverleibt. Johann Sassenbach, ehedem Vorsitzender des "Allgemeinen deutschen Sattlervereins", Gründer und Vorsitzender der Berliner Volkshochschule und Sekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes und auch der erste Bibliograph gewerkschaftlichen Schriftgutes 9 hatte seine Bibliothek der lokalen Berliner Gewerkschaftsbewegung 1919 uneigennützig zur Verfügung gestellt, sie galt als die größte und bedeutendste Arbeiterbibliothek der Welt.

Nun unterlag die DAF der NSDAP im internen Machtkampf und musste ihre Archivbestände mit der Sassenbach-Bibliothek nach München geben, wo sie künftig im "Hauptstaatsarchiv der NSDAP" verwahrt wurde. 10 Große Teile dieses Bestandes blieben erhalten und gelangten später in das Offenbach Archival Depot. auf diesem Weg kam der eine Teil der gewerkschaftseigenen Bücher nach Offenbach


Die amerikanische "Library of Congress Mission" und die "Monuments, Fine Arts and Archives Section"

Den Verlust, den die DAF durch Abgabe an das NSDAP-Hauptarchiv hatte hinnehmen müssen, suchte ihr Chef, Robert Ley, durch diverse Anordnungen wettzumachen, und besonders durch Gründung der wissenschaftlichen Zentralbibliothek der DAF. Sie bestand in Wirklichkeit aus der Bibliothek des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und aus den Beständen angehäufter Gewerkschaftsbibliotheken bei untergeordneten Dienststellen der DAF und zählte vor dem Krieg – 1938 – 336.000 Bände. 11 1943 begann die DAF mit der Auslagerung ihrer Bibliotheksbestände. Vieles spricht dafür, dass ein Drittel der Bestände nach Polen verlagert wurde. Der Hauptbestand überlebte jedoch wie ein Wunder das Berliner Inferno in der Immelmannstraße, dem wunderschönen Jugendstilgebäude der verbotener Druckergewerkschaft.

Schon bald nach dem Krieg geriet die gerettete Bibliothek in den Blick der konkurrierenden Siegermächte. 12 Zunächst schien die sowjetische Besatzungsmacht alleine über das Schicksal "des Schatzes" zu bestimmen: Früh hatte der Oberste Chef der Sowjetischen Militäradministration in seinem Befehl Nr. 2 die neugegründeten Gewerkschaften zu Treuhändern für das Gesamtvermögen der Deutschen Arbeitsfront eingesetzt. In einem Schreiben der Abteilung Volksbildung des Magistrats der Stadt Berlin vom 18. Juli 1945 hatte dieser dem Transport der geretteten Bücher aus dem Haus in der Immelmannstraße in den Ostsektor der Stadt zugestimmt, wo der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund in der Wallstraße sein neues Domizil fand. Treuhänder in der britischen und amerikanischen Zone hatten im September des gleichen Jahres nicht widersprochen. 13

Jacob Zuckerman, der erste nach Berlin entsandte Beauftragte der Library of Congress (LoC), sah das allerdings ganz anders. Im April 1946 hatte die amerikanische Besatzungsmacht eine so genannte "Library of Congress Mission" begonnen. Sie sicherten herrenloses NSDAP-Schriftgut, indem sie es nach Washington transportierten und von dort auf amerikanische Bibliotheken aufteilen wollten. Der erste Berliner Beauftragte, interpretierte seine Mission großzügig: In Verhandlungen mit den innerstädtischen Behörden und dem neu gegründeten Freien Deutschen Gewerkschaftsbund "sicherte" Zuckerman über 100.000 Bände für seine Kongressbibliothek. Und auch diese gewaltige Büchersendung hat einen "Umweg" über das Offenbach Archival Depot genommen. 14

Formal handelte es sich zwar um Bücher aus dem Besitz von ehemaligen nationalsozialistischen Organisationen, rechtmäßige Eigentümer waren indes die deutschen Gewerkschaften. Nach kurzem Zögern hatte sich auch die amerikanische Administration auf den Standpunkt gestellt, Kulturgüter seien nicht als "Reparationsmasse" anzusehen. Damit unterschied sie deutlich von der sowjetischen und französischen Sicht der Dinge. 15 Zuckerman hatte mit der Vorbereitung des Abtransportes der Bücher nach Offenbach seine Kompetenzen also erheblich überschritten.

Gegen Ende des Krieges kam es in den Vereinigten Staaten zu verschiedenen Initiativen, kulturelle Güter durch den Vormarsch der westlichen Alliierten nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Unterschiedliche Bemühungen auf staatlicher Ebene mündeten in der Gründung der "Monuments, Fine Arts and Archives Section" (MFA&A). In Wirklichkeit handelte es sich um einen kleinen Kreis fachlich ausgebildeter amerikanischer Offiziere – von der kämpfenden Truppe meist misstrauisch beäugt –, der trotz verschwindend kleiner Zahl unglaublich viel für die Rettung der Kulturgüter bewirken konnte. 16 Rasch nach Überschreitung der deutschen Grenzen stieß die MFA&A auf eine Fülle von Verstecken und bombensicheren Ausweichlagern aller Art. Die Soldaten fanden hier sowohl erbeutete Kulturgegenstände wie vor den Alliierten in Sicherheit gebrachte Materialien aus deutschem Besitz. Vieles stammte aus den verbrecherischen Aktivitäten des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (ERR). 17

Der ERR war im Juli 1940 begründet worden und arbeitete in enger Kooperation mit der deutschen Wehrmacht. In Konkurrenz zu anderen von diversen Nazipotentaten legitimierten "Räuberbanden" durchkämmte der Einsatzstab in Ost- und Westeuropa systematisch Bibliotheken, Archive und Museen, um Kulturgegenstände zu rauben. Hitler selbst hatte dem Einsatzstab im März 1942 einen Freibrief erteilt, die Requirierungen für die geplante "Hohe Schule" vorzunehmen. Die "Hohe Schule" sollte aus einem System verteilter Bibliotheken bestehen, um die "aktuelle geistige Kriegsführung" 18 gegen alle Gegner des Nationalsozialismus zu stützen.

Als erster Zweig der "Hohen Schule" wurde bereits im März 1941 das "Institut zur Erforschung der Judenfrage" gegründet. Als die ersten Luftangriffe Frankfurt erreichten, lagerten die Verantwortlichen des Instituts 1,3 Millionen Bände und Kunstgegenstände in die nähere Umgebung der Mainmetropole aus. Der vorrückenden amerikanischen Armee fielen in Frankfurt selbst 130.000 Bände in die Hände. Diese wurden provisorisch in der ehemaligen Rothschild Bibliothek (dem heutigen Jüdischen Museum) eingelagert. Die Rothschild Bibliothek diente als einer der vielen collecting points, die das MFA&A angelegt hatte. Als die Bibliothek durch permanente Bücherlieferungen aus diversen Verstecken und Schutzräumen überquoll, wurden die Bücher in ein leer stehendes Gebäude der IG Farben weiter östlich nach Offenbach überführt. 19


Das legendäre Offenbach Archival Depot: zu Unrecht in Vergessenheit geraten

Es ist wortwörtlich zu nehmen: Es trafen in Offenbach in kürzester Zeit Tausende von Tonnen Bücher ein. Nach schwierigen Verhandlungen gelang es den Archivaren und Historikern in amerikanischer Uniform Offenbach ab Mai 1946 zum zentralen Depot für die amerikanische Zone (Hessen, Bayern. Bremen, Nordwürttemberg/Nordbaden, amerikanischer Sektor in Berlin) zu machen. Der Sammelauftrag des Offenbach Archival Depot bezog sich ausdrücklich auf Bücher. Kunstgegenstände waren davon nicht betroffen.

In der Offenbacher Großsammelstelle für Literatur wurden von der amerikanischen Besatzungsmacht ca. 4 Millionen Bände unterschiedlichster Provenienz zusammengeführt, vor allem, um ihren rechtmäßigen Besitzern zurück gegeben zu werden. Meist handelte es sich um jüdische Bibliotheken aus den Beutezügen der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg. Allerdings befanden sich bald auch Bestände aus Arbeiterbibliotheken in dem Depot. 20

Die Geschichte des Offenbach Archival Depot hat in der deutschen bibliothekarischen Literatur und in der wissenschaftlichen Diskussion eine erstaunlich geringe Rolle gespielt Intensiver haben sich ausländische Wissenschaftler mit der legendären Sammel- und Verteilungsstelle auseinander gesetzt. Dies ist kein Wunder, ist doch die Geschichte vieler holländischer, französischer und belgischer Bibliotheken eng mit der Restitution aus dem Offenbacher Depot verbunden. 21

Von Juli 1945 bis Februar 1946 gab es jedoch noch keine Restitution an die rechtmäßigen Besitzer. Als der sprachkundige Archivar Seymour J. Pomerenze die Leitung des Depots übernahm, änderte sich dieses Defizit schlagartig. Er verzichtete sofort auf eine Detailkatalogisierung durch das völlig überforderte Personal. Gleichzeitig konnte er binnen Jahresfrist den Stab der amerikanischen und deutschen Mitarbeiter von 6 auf 140 Personen erhöhen. Pomerenze ließ unkonventionell durch Augenschein, ersichtlich zusammengehörige Kollektionen erstellen und drängte auf rasche Wiedergutmachung. Bereits im März 1946 schickten man über 225.000 Bücher nach Frankreich zurück. Während eines einzigen Jahres konnte auf diese Weise die unglaubliche Zahl von nahezu 2,5 Millionen Bücher "behandelt" werden, 22 über 1,9 Millionen Bücher waren im März 1947 restituiert. Ca. 300.000 Bände hatten keinen Besitzvermerk, über 200.000 zwar einen Besitzstempel, indes waren ihre rechtmäßigen Besitzer nicht mehr zu ermitteln.

Zur besten Zeit arbeiteten im Jahr 1946 176 Mitarbeiter an den Offenbacher Bücherbergen. Pomerenzen Nachfolger, Isaac Bencowitz arbeitete mit vielen ehrenamtlichen jüdischen Helfern zusammen, die der osteuropäischen und der hebräischen Schrift mächtig waren. Phasenweise waren außerdem 21 Verbindungsoffiziere aus 11 Staaten in Offenbach akkreditiert, um die Rückführaktionen zu steuern. 23 Bencowitz verfeinerte 1947 das Recherchesystem: Er setzte Arbeitsgruppen hoch qualifizierter "Stempelsucher" ein, die zeitweise bis zu 30.000 Bände täglich identifizierten. 24 Während des Rechercheprozesses strömten unablässig Bestände aus den "Collecting Points" in Berlin, Büdingen, Frankfurt am Main, Gießen, Nürnberg, Reichelsheim, Schloss Banz, Pommersfelde, Wallau, Waidenfeld, Wiesbaden, Bremen und anderen Städten nach Offenbach in das OAD. 25

Die Wiedergutmachungsaktionen implizierten jedoch erhebliche völkerrechtliche Folgen: Die Entscheidung, Materialien aus ehemals russisch jüdischem Besitz nicht in die Sowjetunion zu transferieren, sondern weltweit jüdischen Organisationen zu überlassen, bedeutete faktisch eine Neuinterpretation existierender völkerrechtlicher Normen.


Arbeiterbewegung ohne starke Lobby

Zur Politik der Offenbacher Verantwortlichen gehörte es, ohne "wenn und aber" Materialien an deutsche Einrichtungen zu übergeben, wenn der Besitz rechtmäßig war. Die Arbeiterbewegung hatte natürlich keine "Verbindungsoffiziere" in Offenbach. Dennoch kam es zu kleineren Rückführaktionen an die SPD und die KPD, und in Einzelfällen gab das Depot verstreute Materialien an diverse deutsche Gewerkschaften zurück. Bücher aus dem "Munich Central Collecting Point" trafen in Offenbach aber erst im Jahre 1947 und damit ziemlich spät ein. Darunter müssen sich große Teile der Sassenbach-Bibliothek befunden haben. Allerdings kam es nicht zu einer umfassenden Restitution an die deutschen Gewerkschaften.

Warum? Die "große Politik" verhinderte dies. Gemäß der amerikanischen Besatzungsphilosophie" zogen sich die Militärbehörden früh aus der administrativen Alltagsarbeit zurück. Das traf auch auf das Offenbacher Depot zu. Nicht nur amerikanische Soldaten wurden abgezogen, auch deutsche Hilfskräfte wurden entlassen. Im Dezember 1947 war der Stab auf 41 Mitarbeiter zusammengeschrumpft. Ende 1948 arbeiteten nur noch 19 Deutsche im Depot. 26 Viel Arbeit blieb liegen.

Schon warf die Souveränität des westdeutschen Separatstaates seine Schatten voraus. 1948 übergab die amerikanische Besatzungsmacht die noch nicht verteilten Bücher an das Land Hessen, offiziell handelte es sich dabei um 286.610 Bände. Die Militärbehörden regelten peinlich genau, wie die Deutschen zu verfahren hatten. Details ergingen im Befehlston an den Hessischen Ministerpräsidenten: "You will be responsible for return to their owners of publicly-owned books and archives belonging to state, municipal or other institutional libraries and archives located in the American and British zones." 27 Der hessische Staat seinerseits verteilte die Bücher an hessische Bibliotheken.

Erst im September 1953 erfüllte die Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt den ursprünglichen Auftrag der amerikanischen Besatzungsmacht. Dort war der Antifaschist Professor Hanns Wilhelm Eppelsheimer, den die Nazis 1933 in Darmstadt aus seinem Amt gejagt hatten, Direktor geworden. Eppelsheimer nahm den Wiedergutmachungsauftrag von Anfang an sehr ernst. So bekam der bekam der Dachverband der deutschen Gewerkschaften in Düsseldorf völlig überraschend Post aus der Mainmetropole. Die Bibliothek teilte mit, in ihren Magazinen befänden sich Kisten der Bibliothek Sassenbach und andere Materialien, die die Frankfurter Bibliothek wieder ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben wolle: "Diese Bestände wurden bei der Auflösung des Archival Depot Offenbach im Auftrag des Hess. Ministeriums für Kultur und Unterricht an uns zur treuhänderischen Aufbewahrung übergeben. Wir bitten Sie, über diese Bestände zu verfügen und sie im Märze (spätestens innerhalb von 4 Wochen) gegen Abgabe einer entsprechenden Vollmacht und Quittung abholen zu lassen." 28


Berlin, Offenbach, Washington, Bonn – mit Umwegen über München, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und Stuttgart.

Im Oktober 1953 trafen in Düsseldorf 20 Kisten ein mit einer Notiz der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt: "Bibliothek Sassenbach 8 Kisten (statt 6), Gewerkschaftsfahnen 6 Kisten, Gewerkschaft Berlin 2 Kisten, Gewerkschaft Leipzig 2 Kisten, Bücher aus Gewerkschaftseinrichtungen 2 Kisten." Beim Hautvorstand des DGB wurde der Inhalt grob gesichtet. Teile der Bücher verblieben in Düsseldorf, die anderen Bestände wurden auf die übrigen Mitgliedgewerkschaften verteilt. Zwanzig Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und einem abenteuerlichen Umweg über das Offenbach Archival Depot waren die geraubten Bücher wieder ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben worden. In der Bundesrepublik Deutschland nahm davon kaum einer Notiz: Die öffentliche Diskussion drehte sich zwischen "Wirtschaftswunder" und Wiederaufrüstung um andere Themen.

Über das Offenbach Archival Depot hatte Zuckerman während der "Library of Congress Mission" Teile der zusammengeraubten DAF-Bücherei nach Washington verschiffen lassen. Seine aktive Rolle bei der Verbringung dieser Bücher in die USA war offensichtlich von Anfang an umstritten. 29 In Washington selbst kamen die Bücher in einem ziemlich chaotischen Zustand an. 30 Unter den amerikanischen Bibliotheksverantwortlichen wuchs rasch der Zweifel, ob die Gewerkschaftsbücher in Washington am richtigen Platz seien. Auch auf der Leitungsebene der Library of Congress stellten sich Skrupel ein. Reuben Peiss, Chefbibliothekar der LoC persönlich machte sich zum Anwalt der Rückführung der deutschen Gewerkschaftsmaterialien. In einem Memorandum an seinen Erwerbungschef Luther H. Evans, stellte der Leiter der größten Bibliothek der Welt bereits 1948 unumwunden fest: "It is estimated that approximately 60.000 books and pieces of other library material will be found to have marks of labor union ownership or may reasonably be assumed to have come from such collections. I have directed that the material from any union library be segregated from the material being distributed to the participating American research libraries. Although facilities are not available here to reassemble the material belonging to a particularly library, it is possible that the newly established German labor unions would welcome the return of this materials for their collections and be willing to sort this material after its arrival." 31 So trafen im Herbst 1948 zwei Wagons mit 60.000 Büchern in 387 Kisten und einem Gesamtgewicht von über 24.000 Kilogramm in Düsseldorf ein. 32

Ungefähr 40.000 Gewerkschaftsbände blieben in den Vereinigten Staaten "hängen". Man kann nur vermuten, in welchen Bibliotheken sie sich heute befinden: die Hoover Institution on War, Revolution and Peace an der Stanford University, der Labadie Collection in der Harlan Hatcher Library an der University of Michigan in Ann Arbor oder der Marthin P. Catherwood Library an der Cornell University in Ithaca im Bundesstaat New York. Den "Löwenanteil" – nämlich 92 von 127 Kisten – erhielt nach der genauen Sichtung aller Bestände 1950 die IG Druck und Papier in Stuttgart. Sie war der eigentliche "Gewinner" der amerikanischen Bücherrückführaktion. Der Reichtum dieser Bestände ist auch heute noch beeindruckend.


Sicherer Hafen Friedrich-Ebert-Stiftung

In den späten 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatte die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung das "Archiv der sozialen Demokratie" eingerichtet. Bewusst war dieser altertümliche Name gewählt worden. Er erinnerte an emanzipatorische Bestrebungen des frühen 19. Jahrhunderts. Die neutrale Namensgebung sollte Weichen stellen und Gewerkschaften und Sozialdemokratie gleichermaßen einladen, ihre historischen Materialien der Stiftung zu überlassen. Es dauerte aber noch bis zum Ende der 70er-Jahre, bis Gewerkschaftsorganisationen sukzessiv ganze Spezialbibliotheken an die Friedrich-Ebert-Stiftung abgaben. Bibliothek und Archiv der sozialen Demokratie wuchsen stetig, und in allen übernommenen Bibliotheken befand sich eine Fülle von Materialien, die einerseits über das Münchener NSDAP-Hauptarchiv, den "Munich Collecting Point" nach Offenbach und von dort über den Umweg der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt nach Düsseldorf und andererseits via Offenbach und Washington nach Deutschland zurückgebracht wurden. Niemand nahm bislang von der hochspannenden Bestandsgeschichte dieser Teilsammlungen so recht Notiz. In keiner Veröffentlichung wurde ihr Schicksal bislang beschrieben.

Gleichwohl: Viele Zeitschriften und Zeitungen der deutschen Gewerkschaftsbewegung sind in Deutschland nicht mehr zu finden. Viele müssen als verschollen gelten, dennoch geht die Suche weiter. In Frankreich, den USA und Russland hat die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung gesucht oder suchen lassen. Nicht immer waren die Ergebnisse ermutigend.

Bücherverbrennungen, der Sturm auf die Häuser der Arbeiterbewegung, Ausrauben der Bibliotheken, Rettung der Bestände: Keine Aktion darf isoliert und für sich alleine gesehen werden. Die Friedrich-Ebert-Stiftung fühlt sich dem Schicksal der "bedrohten" und "verfolgten" Bücher in besonderem Maße verpflichtet. Ihre Anstrengungen zur Sicherung des demokratischen Erbes der deutschen Arbeiterbewegung gehen weiter.

Rüdiger Zimmermann
(Bibliothek der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung)


    1 - S. Bruhn, Peter: "Beutekunst". Bibliographie des internationalen Schrifttums über das Schicksal des im Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee in Deutschland erbeuteten Kulturgutes (Museums-, Archiv- und Bibliotheksbestände) 1990-2000. – 3., wiederum verm. und verb. Aufl. – Berlin, 2000.

    2 - Die Artikel in der Internetzeitschrift "Spoils of War" belegen dies ausführlich: http://www.lostart.de/forum/spoilsofwar.php3?nummer=1

    3 - Kolasa, Ingo: "A splendid gesture. Chronology of a restitution". In: Spoils of War, Nr. 3 (December 1996 ) S. 53-56.

    4 - Poste, Leslie I.: " Books Go Home From the Wars",. In: Library Journal, 73 (1948), 1. Dec., S. 1704.

    5 - "The Nazis were motivated by the lust for total control, greed, and the need to replenish state and Nazi coffers. A key element in this onslaught was the seizure of artistic, literacy, and cultural property, ranging from the merely sentimental to the priceless. This aspect of the Nazi was not only economic, but also psychological." In: Kurtz, Michael J.: Nazi contraband. American policy to the return of European cultural treasures, 1945-1955, New York, 1985, S. 13.

    6 - Krummsdorf, Juliane: Verbrannt, verboten, verbannt, vergessen? Zur Erinnerung an die Bücherverbrennungen 1933. Bibliographie zur Schwarzen Liste/Schöne Literatur. 3., überarb. und erw. Aufl., Dresden, 1996, S. 2.

    7 - Siehe besonders die Arbeit von Nicholas, Lynn H.: Der Raub der Europa. Das Schicksal europäischer Kulturschätze im Dritten Reich. München, 1995.

    8 - Braun, Heinz: "Zum Schicksal der Archive und Bibliotheken der deutschen Gewerkschaften". In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IK). – (1998) 1.

    9 - Sassenbach, Johann: Verzeichnis der in deutscher Sprache vorhandenen gewerkschaftlichen Literatur. Nachtrag zur 4. Ausg. Berlin, 1912. Zu Sassenbachs Biographie s. Scheugenpflug, Otto: Johann Sassenbach. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, Hannover, 1959.

    10 - Braun 1998, S. 13 f.

    11 - Ebda, S. 22.

    12 - Roth, Karl Heinz und Karsten Linne: "Searching for lost archives. New documentation on the pillage of trade union archives and libraries by the Deutsche Arbeitsfront (1938-1941) and on the fate of trade union documents in the postwar era". In: International Review of Social History, 38(1993) 2, S. 169 ff.

    13 - Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR. Sassenbach-Stiftung. Archiv der Gewerkschaftsbewegung. Archivsignatur 3201.38.

    14 - "17. April 1946. Appointment of Dr. Jacob Zuckermann [!], Library of Congress Mission Representative, to supervise move of books and other library materials from Berlin to Offenbach". S. Sammlung und Restbestände des vom Einsatzstab Rosenberg geraubten Kulturgutes ab 1946 in Offenbach/Main. Hg. Helmut Keiber. Giessen, 1993, S. 3.

    15 - Grimsted, Patricia Kennedy: "Displaced archives and restitution problems on the eastern front in the aftermath of the Second World War". In: Contemporary European History, 6(1997), 1, S. 27 ff.

    16 - Poste, Leslie Irlyn: The development of United States protection of libraries and archives in Europe during World War II. Diss. Chicago, 1959, S. 114

    17 - S. zu den Aktivitäten Manasse, Peter M.: Verschleppte Archive und Bibliotheken. Die Tätigkeit des Einsatzstabes Rosenberg während des Zweiten Weltkrieges, St. Ingbert, 1997. S. auch DeVries Willem: Kunstraub im Westen 1940-1945. Alfred Rosenberg und der "Sonderstab Musik". Frankfurt am Main, 2000.

    18 - S. Hoogewoud, S. F. J.: "The nazi looting of books and its American ‚antithesis’. Selected pictures from the Offenbach Archival Depot’s photographic history and its supplement". In: Studia Rosenthaliana, 26 (1992) 1/2, S. 158-192, hier S. 160 f.

    19 - Pomerenze, Seymour: "Offenbach Reminiscences", In: Spoils of War (Juli 1996), Nr. 2, S. 18-20.

    20 - Weber, Franz Konrad: "Die Rückführung der in den Jahren 1938 bis 1945 verschleppten österreichischen Bücherbestände". In: Biblios, 28(1979) 1, S. 29-31.

    21 - Populär beschreibt dies Anton Jakob Weinberger: "Thorarollen, meterhohe Bücherstapel, wertvolle Handschriften. Im Offenbacher Archival-Depot wurden jüdische und deutsche Kulturgüter gesammelt". In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (1992) Nr. 209, S. 38. Siehe auch Hougewoud 1992. Die Dissertation von Leslie Irlyn Poste (s. FN 16), ist streckenweise der Augenzeugenbericht eines Handelnden. Poste war der einzige ausgebildete Bibliothekar in der MFA&A.

    22 - Festschrift aus Anlass des einjährigen Bestehens, Hg. Offenbach Archival Depot, Offenbach 1947 (im Besitz des Stadtarchiv Ofenbach), unpag.

    23 - Poste 1959, S. 367.

    24 - Hougewoud 1992, S. 168.

    25 - Festschrift 1947, unpag.

    26 - Poste 1959, S. 374ff.

    27 - Responsibility for certain categories of books now held in the Offenbach archival depot. National Archives of the United States, RG/260/OMGUS. Für die entsprechenden Kopien aus dem OMGUS-Bestand bin ich Herrn Ruppel vom Stadtarchiv Offenbach dankbar.

    28 - So die zuständige Fachreferentin Dr. Anni Binder (DGB-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Organisation, Handakten.) Vgl. auch: Arbeitsbilder. Dokumente zwischen Symbolik und Alltag. Hrsg. von Willy Buschak. Hamburg, 1990, S. 18.

    29 - Rothe/Linne 1993, S 171.

    30 - Mündliche Mitteilung an den Verfasser von A.R.L. Gurland, ein jüdischer Emigrant, der damals als wissenschaftliche Aushilfskraft in der LoC arbeitete.

    31 - Roth/Linne 1993, S. 203 f.

    32 - DGB-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Nachlass Richard Seidel. Meinem Kollegen Klaus Mertsching bin ich für diesen zentralen Quellenhinweis besonders dankbar.


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