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TEILDOKUMENT:


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Das gedruckte Gedächtnis der Arbeiterbewegung bewahren:
Die Geschichte der Bibliotheken der deutschen Sozialdemokratie


In den folgenden Kapiteln soll die Geschichte der sozialdemokratischen Parteibibliothek dokumentiert werden, ihre Entstehung und ihr Wachstum unter dem Sozialistengesetz in Zürich, ihre Überführung nach London und Berlin, ihr Aufbau und ihre Erschließung in der Weimarer Republik, die Zerstreuung der Bücher während Nationalsozialismus und Krieg und ihr Wiederaufbau im Nachkriegsdeutschland. Zum Abschluss sollen die Übergabe der Bestände an die Friedrich-Ebert-Stiftung skizziert und der Aufschwung zu einer der größten historisch-sozialwissenschaftlichen Spezialbibliotheken knapp dokumentiert werden. [Fn 1: Die Darstellung stützt sich für die Zeit bis 1945 primär auf Sekundärliteratur und gedruckte Quellen. Für die Zeit nach 1945 wurde die Altregistratur des Parteivorstandes der SPD im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Rate gezogen. Interne Akten der Friedrich-Ebert-Stiftung ergänzten die Quellen grundlagen. Mündliche Überlieferungen von beteiligten Zeitzeugen und das „eigene Gedächtnis„ tragen die Darstellung in den Schlusskapiteln.]

Lange Jahre ist die Bibliothek Teil des „Parteiarchivs„ [Fn 2: Eine Skizze der Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs (im heutigen Sinne), das Grundstock des heutigen Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist, bietet Ulrich Cartarius, Die SPD und ihre Archive, Bonn 2001.] gewesen, so dass man fragen könnte, warum die „Geschichte der Bücher„ hier separat untersucht werden soll. Genügt es nicht, die Bibliothek als Teil der Geschichte des „Parteiarchivs„ zu betrachten? Die Antwort fällt leicht.

Private und öffentliche Bibliotheken, ihr Funktions- und Strukturwandel im 19. und 20. Jahrhundert, sind seit langem Objekt zahlreicher fachwissenschaftlicher Detailstudien und „übergreifender kultur- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen„. [Fn 3: Die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels. Annotiertes Verzeichnis des ermittelten Bestandes. Bearb. von Hans-Dieter Harstick [u.a.]. Berlin, 1999, S . 9 (MEGA, 4. Abt., Vorauspublikation zu Bd. 32).]
Ihr Bestandsaufbau, ihre Erschließung, ihre Nutzung, ihre finanzielle Ausstattung und ihre Struktur sind in einer Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten in Köln, Göttingen, Leipzig, Wolfenbüttel, Mainz, Berlin und anderen buchwissenschaftlichen Zentren analysiert und beschrieben worden.

Die Buchforschung in der alten DDR widmete sich diesem Thema genauso intensiv wie Sozial- und Kulturhistoriker des „Westens„. Nach der deutschen Wiedervereinigung hielt dieser Trend der Bibliotheksforschung ungebrochen an. Was macht die Faszination des Gegenstandes Bibliothek aus? Warum beschäftigen sich Menschen mit der Geschichte von Büchern? Bücher, ihre Sammlungen, ihr Aufbau und die damit verbundenen Intentionen spiegeln gleichsam den Charakter ihres Trägers. Man kann überspitzt sagen: Zeige mir deine Bibliothek, und ich sage dir, wer du bist.

Unter dieser Fragestellung gewinnt die Darstellung der Büchersammlungen im Umfeld der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands eine besondere Bedeutung. Diese kleine Bibliotheksgeschichte versteht sich somit auch als kleiner Beitrag zur Kulturpolitik der ältesten und größten Partei Deutschlands.

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Am Anfang war August Bebel

August Bebels programmatischer Aufruf „Die Notwendigkeit der Gründung einer allgemeinen Parteibibliothek„ ist in den letzten Jahren oft nachgedruckt worden. [Fn 4: Archiv der sozialen Demokratie : Archiv der sozialen Demokratie - Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn-Bad Godesberg, 1978, S. 28; Bebel, August: Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 1: 1863-1878. Bearb. von Rolf Dlubek und Ursula Herrmann. Berlin, 1970, S. 480 f. Schönhoven, Klaus: Auf dem Weg zum digitalen Dienstleistungszentrum. 30 Jahre Archiv der sozialen Demokratie und Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung. Vortrag anlässlich einer Jubiläumsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 7. Juni 1999 in Bonn. Bonn, 1999, S. 24 f. Erstabdruck des Bebelschen Textes: Vorwärts , Nr. 21 (20. Februar 1878).]
Ebenso sind in der Sekundärliteratur die Ideengeber, die hinter diesem Vorschlag standen (Johann Philipp Becker, August Geib), angemessen gewürdigt worden. Der Appell August Bebels mutet heute noch ausgesprochen modern an. Die zu gründende Bibliothek sollte als Sammelstätte der nationalen und internationalen sozialistischen Literatur dienen. Weitere Sammelsegmente beschrieb Bebel sehr präzise: die wichtigste ökonomische und sozialwissenschaftliche Literatur und eine Sammlung zentraler Parlamentsschriften.

Vor allem sollte die künftige Parteibibliothek nach Bebels Willen die Partei- und Gewerkschaftsliteratur außerhalb des Verlagsbuchhandels zu sammeln. Die Bedeutung, die der Parteivorsitzende dieser heute so genannten „grauen Literatur„ beimaß, war ganz erstaunlich. Seine Ausführungen zu diesem Thema waren die ersten bekannten Äußerungen zu diesem Thema überhaupt. Sie sollten es für lange Zeit auch bleiben. Bebel war mit seinen - in einfachen Worten vorgetragenen Handlungsanweisungen - den wissenschaftlichen Bibliothekaren seiner Zeit weit voraus. Es sollte ein knappes Jahrhundert verstreichen, ehe seine Vorschläge und Ideen im wissenschaftlichen Bibliothekswesen Allgemeingut wurden.

Auch über „Erwerbungsstrategien„ machte Bebel erstaunlich konstruktive Detailvorschläge, wie er sich Gedanken über Lücken bei den Zeitschriften und der Finanzierung des Bibliotheksprojekts machte: „Um die Geldausgaben nach Möglichkeit zu vermeiden, müssten die Parteiblätter, welche zur Aufbewahrung gelangen, wie sämtliche Parteischriften und Broschüren von den Verlegern gratis geliefert werden. Zweifellos würden auch alle Parteigenossen, welche Doppelexemplare älterer bezüglicher Schriften und Werke im Besitz haben, bereit sein, ein Exemplar an die Bibliothek abzugeben. Auch dürfte der Fall eintreten, dass mancher seine Privatbibliothek für den Fall seines Ablebens der Parteibibliothek vermacht.„ [Fn 5: Ebda.]

Bebels Vorschlag, das gedruckte Gedächtnis der Arbeiterbewegung und die wichtigsten sozialökonomischen Veröffentlichungen des In- und Auslandes in eigener Regie zu sammeln und als „Rüstkammer„ für die eigenen Emanzipationsbestrebungen zu nutzen, wurzelte in den unmittelbaren Erfahrungen, die die sozialdemokratische Arbeiterbewegung mit dem wilhelminischen Klassenstaat und seiner Kultur- und Bibliothekspolitik gemacht hatte. Mit den Argumenten, die staatlichen Bibliotheken würden „meist nach ganz anderer Richtung ihre Vervollständigung suchen„, umschrieb der belesene Drechsler den Tatbestand, dass öffentlich zugänglichen Bibliotheken der Erwerb sozialdemokratischer Literatur untersagt war. [Fn 6: Schönhoven, a.a.O., S. 11.]

Mochte das Sammeln von „Umsturzliteratur„ aus der Sicht der die Arbeiterbewegung überwachenden Polizeiorgane noch Sinn machen, so war die intransigente Haltung staatlicher Bibliothekare gegen die ökonomische und sozialwissenschaftliche Literatur kaum zu erklären. 1909 fällte das theoretische Organ der deutschen Sozialdemokratie, „Die Neue Zeit„, über den

Illustriertes Zwischenenblatt (Seite 8a/b)

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Bestandsaufbau deutscher Bibliotheken ein vernichtendes Urteil. Der spätere Herausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe, N. Rjazanov, bemerkte dort lapidar: „Es genügt, das kürzlich erschienene ‚Systematische Verzeichnis’ der periodischen Ausgaben der Königlichen Bibliothek zu durchblättern, um zu bemerken, dass die Königliche Bibliothek die besten der in Frankreich, England und Amerika herausgegebenen ökonomischen Zeitschriften nicht enthält. Von der sozialistischen und Arbeiterliteratur muss schon ganz abgesehen werden. Jeder Ausländer, der die Erwartung hegt, in der größten Bücherei des klassischen Landes der Sozialgesetzgebung eine vollständige Sammlung der einschlägigen Literatur, wenn auch nur in deutscher Sprache zu finden, würde sich bitter enttäuscht sehen. In der Bibliothek fehlt zum Beispiel fast gänzlich die ungeheure gewerkschaftliche und sozialdemokratische Literatur.„ [Fn 7: Die Neue Zeit, Jg. 27, Bd. 1, Nr. 24 (12. März 1909), S. 383 f.]

Zwei Jahre später beklagten sich die beiden renommierten Historiker Georg Adler und Gustav Mayer ebenso bitter, dass der Benutzer die „primären Quellen über die Geschichte der Sozialdemokratie […] in den öffentlichen Bibliotheken fast ausnahmslos vergeblich sucht.„ [Fn 8: Adler, Georg und Gustav Mayer: „Sozialdemokratie„. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 3. Aufl., Jena, 1911, S. 603.]
Diese Kritik mutet nur auf den ersten Blick grotesk an. Das preußische Bibliothekswesen hatte sich mit großen und kühnen Reformen an die Spitze des europäischen Bibliothekswesens gesetzt. Kluge Regelwerke, richtungsweisende Katalogarbeiten, Zentralisation des Wissens, Austausch von Literatur der Bibliotheken untereinander begleiteten den Aufstieg Deutschlands zur großen Industrie- und Wissenschaftsnation. Das interessengeleitete gebundene Handeln und die ideologische Verwurzelung im herrschenden Wertekodex machten jedoch die gelehrten Bibliothekare gleichsam „blind„ gegenüber anderen Strömungen.

Formal war die sozialdemokratische Parteispitze mit ihrer „niederen„ Bildung natürlich den ernannten Professoren und Bibliotheksleitern unterlegen. Es scheint indes, dass Volksnähe und die echte Parteinahme für die Interessen der arbeitenden Schichten zu einer anderen Sicht der Dinge führten, die den Einsichten der „offiziellen„ Kultur- und Wissenschaftspolitiker in manchen Bereichen deutlich überlegen war.

Bebel kannte natürlich die Beschränktheit „klassengebundener„ Kulturpolitiker. Mit seiner Vorstellung, die Bibliothekspolitik in die eigenen Hände zu nehmen, suchte er Weichen zu stellen. Die Arbeiterbewegung war ein Kind der Aufklärung. Ihr bedeuteten Bücher und Bibliotheken viel. Das Gefühl, „mit der Geschichte im Bunde zu sein„ und aus dem Wissen um die historischen Prozesse die eigene Kraft für die eigene Emanzipation zu ziehen, war den Repräsentanten der jungen Bewegung allgegenwärtig: „Daß diese Bewegung selber als eine Kraft von historischer Dimension wirke, war vielen ihrer Anhänger bewußt und verpflichtete sie, dafür zu sorgen, daß diese Erkenntnis in der Geschichtsschreibung ihren adäquaten Niederschlag finden könne. Dafür mußten die entsprechenden Einrichtungen geschaffen werden.„ [Fn 9: Miller, Susanne: „Geschichtsbewußtsein und Sozialdemokratie„. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 41 (1994), S. 307. ]

Bebels Vorschlag konnte in Deutschland zunächst nicht verwirklicht werden. Im Herbst 1878 machte der Bismarckstaat die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften mundtot. Es sprach aber „für die erstaunlich politische Zuversicht und den wissenschaftlichen Weitblick der

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Sozialdemokratie„ [Fn 10: Schönhoven, a.a.O., S. 12.]], dass sie 1882 in der Schweizer Emigration „eine möglichst vollständige Sammlung aller auf das Parteileben bezüglichen Dokumente und Schriftstücke„ anlegte. [Fn 11: So der Beschluss der Parteikonferenz, die vom 19. bis 21. August 1882 in Zürich tagte. Zitiert nach Mayer, Paul: „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs und das Schicksal des Marx-Engels-Nachlasses„. In: Archiv für Sozialgeschichte, VI/VII (1966/67), S. 13.]

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Bibliotheksaufbau im Exil

Treibende Kraft für den Aufbau von Archiv und Bibliothek in der Schweiz war Hermann Schlüter, der den Bebelschen Vorschlag immer wieder ins Spiel brachte, in der Exilpresse nachdrücklich für dieses Projekt warb und sich schließlich für sein Engagement auch belohnt sah. [Fn 12: Zur Person Schlüters und seiner Rolle s. Mayer, ebda. S. 14 ff.] In einem überaus klugen, weitsichtigen und von großer Sachkenntnis geprägten Artikel hatte Schlüter die Vorbereitung des „Parteiarchivs„ in Angriff genommen. [Fn 13: H. Sch.: „Zur Frage eines Partei-Archivs„. In: Der Sozialdemokrat, Nr. 18 (27. April 1882).] Schlüter machte aus seiner Aversion gegen „höfische Bibliotheken„, die „in Bezug auf revolutionäre Bewegungen möglichst wenig und möglichst Schlechtes bieten„, keinen Hehl. Er wollte Besseres.

Neben übrigen Parteiaufgaben übernahm Schlüter im August 1884 von Eduard Bernstein die Leitung des Parteiarchivs, das in der Volksbuchhandlung im Züricher Vorort Hottingen seine Heimstatt fand. Seit den frühen achtziger Jahren bürgerte sich der Name „Archiv„ als Sammelstelle historischer Quellen ein; man verstand darunter Archivmaterial im klassischen Sinne wie auch Bücher. In Briefen und Berichten finden sich in den kommenden Jahren auch Bezeichnungen wie „Archiv-Bücherei„ oder „Anwesenheits-Bibliothek„. Auf den Titelseiten der Bücher selbst prangte ein graphisch einprägsamer Lilienstempel mit der Bezeichnung „Bibliothek der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands„. Bis in die Weimarer Republik hinein verstand man unter dem Parteiarchiv weitgehend eine moderne Gebrauchsbibliothek.

Karl Kautsky hat diesen Sachverhalt in einem Dankschreiben an Hermann Schlüter 1889 auf den Begriff gebracht: „Das Archiv ist Deine Schöpfung, Du hast aus dem Plunder eine ansehnliche Bibliothek gemacht.„ [Fn 14: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 19.] Schlüter selbst sammelte bewusst Archivalien (private Korrespondenzen, Nachlässe etc.) und Bücher gleichermaßen. Seine Praxis gilt heute als modern: Archive, Museen und Bibliotheken werden zu Recht als eine „Dokumentationseinheit„ gesehen. [Fn 15: Rogalla von Bieberstein, Johannes: Archiv, Bibliothek und Museum als Dokumentationsbereiche. Einheit und gegenseitige Abgrenzung. Pullach, 1975.] Die Entwicklung in Deutschland ging aber seinerzeit in eine andere Richtung. Hier entwickelten sich Archive und Bibliotheken auseinander. Die deutsche Sozialdemokratie schlug jedoch einen anderen Weg ein.

Auch die Zeit des Parteiverbots durch das Sozialistengesetz ging (1890) vorbei. Als knapp zwanzig Jahre später die Parteibibliothek in Berlin der sozialdemokratischen Parteiöffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden konnte, musterte diese Bibliothek etwa 8.000 Bände. Dies war eine beeindruckende Zahl. Diese „große Zahl„ hatte zwei Wurzeln. Die eine Wurzel reichte in die beiden Exilländer des Parteivorstandes. Sie wurde von den Verantwortlichen der „Archivbücherei„ gehegt und gepflegt. Die andere Wurzel war identisch mit den Privatbibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels. Zu einem Stamm vereinigten sich beide nach

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dem Tode Friedrich Engels’. Beide Wurzeln sind wichtig und bedeutend. Beide sollen unabhängig voneinander angeschaut werden.

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Gesucht – Quittiert

Die Idee, gezielt unter den Parteimitgliedern nach Literatur zu suchen, stammte von August Bebel selbst. Er hatte 1878 in seinem Gründungsaufruf angeregt, über alle eingehenden Schriften regelmäßig im „Vorwärts„ „Quittungen„ zu veröffentlichen. Den „Vorwärts„ gab es nicht mehr; seine Rolle hatte in der Zwischenzeit die im Exil erscheinende Parteizeitung „Sozialdemokrat„ eingenommen. Im Dezember 1883 meldete sich Hermann Schlüter dort erstmals zu Wort: „Das Partei-Archiv bringen wir unseren Genossen und Freunden wiederholt dringend in Erinnerung und werden demnächst das bisher eingegangene Brauchbare, katalogisch geordnet quittieren.„ [Fn 16: Der Sozialdemokrat, Nr. 52 (20. Dezember 1883).] Bereits im Januar 1884 dokumentierte das Exilsprachrohr der Partei die erste Sendung des 48er Revolutionärs Johann Philipp Becker. Neben wertvollen Briefen und „Reliquien„ („Zwei Schilder von Ferd. Lassalle’s Todtensarg„) stellte Becker eine Vielzahl seiner Schriften zur Verfügung. [Fn 17: Der Sozialdemokrat, Nr. 2 (10. Januar 1884).] Die „Quittungen„ machen deutlich, in welch kurzer Zeit ein Literaturstrom von wertvollen Zeitschriften, Zeitungen, Protokollen, Broschüren und Büchern nach Zürich floss.

Aus Stuttgart wurden sämtliche erschienenen Nummern der „Süddeutschen Volkszeitung„ und der Zeitschrift „Vaterland„ abgeliefert. Ein Schenkender, der sich hinter der Bezeichnung „Schweizer Professor„ verbarg, stellte Freidenkeralmanache zur Verfügung. [Fn 18: Der Sozialdemokrat, Nr. 4 (24. Januar 1884).] Die Schweizer Parteizeitung „Tagwacht„ wurde vollständig an das Parteiarchiv abgeliefert. Ganze Jahrgänge der Blätter „Reichsbürger„, Leipzig, „Demokratisches Wochenblatt. Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei„, „Duisburger Freie Zeitung„, „Panier. Organ der Metallarbeiter-Gewerksgenossenschaft„ und „Pfälzisch-Badisches Volksblatt„ gingen per Post in die Schweiz. Auch das von Friedrich Engels aus dem Nachlass von Karl Marx der Redaktion des Züricher „Sozialdemokrat„ zur Verfügung gestellte „Komplett-Exemplar„ der „Neuen Rheinischen Zeitung. Organ der Demokratie„ wurde als Zugang penibel registriert.

Der Absender A.B. aus Leipzig blieb niemandem unbekannt. Dafür sorgten schon die vielen Broschüren des Verfassers August Bebel, die der Sendung im Spätsommer beilagen. [Fn 19: Der Sozialdemokrat, Nr. 40 (2. Oktober 1884).] Bebel steuerte eine Fülle gedruckter Untersuchungen zur Fabrikgesetzgebung, zur Zollpolitik und zur allgemeinen Sozialgesetzgebung bei. Ferner befanden sich bei seiner ersten Sendung diverse Protokolle und Statuten. Die Zusendung des Begründers der Parteibibliothek wurde naturgemäß besonders genau unter die Lupe genommen. Bebel hatte u.a. die Zeitschrift „Die Waage„ mit den Jahrgängen 1873 bis 1879 eingesandt, was Schlüter mit seinem mittlerweile hohen Bibliotheksethos kritisch kommentierte: „Mit Ausnahme des kompletten Jahrganges 1878 fehlen bei sämtlichen Bänden einzelne Nummern.„ [Fn 20: Ebda.]

Im Frühsommer 1884 war der Literaturstrom so stark, dass die „Archivverwaltung„ es sich erlauben konnte, gezielte Suchwünsche auszusprechen: „Wir suchen von folgenden Zeitungen Komplettexemplare und Einzelnummern: ’Waage’, ‚Sozialpolitische Blätter’ (1. und 2. Jahr-

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gang), ‚Rundschau’, ‚Wähler’, ‚Agitator’, ‚Rothe Fahne’, ‚Nußknacker’, ‚Lassallsche Westentaschenzeitung’, alle Gewerkschaftsblätter und von den frühen Lokalblättern der Partei alle außer jenen, die in Berlin, Leipzig, Dresden, Stuttgart und Crimmitschau erschienen.„ [Fn 21: Der Sozialdemokrat, Nr. 28 (10. Juli 1884).] Diese systematische Erwerbungspolitik trug ganz deutlich die Handschrift Hermann Schlüters. In seinem programmatischen Artikel im April 1883 hatte er bereits überzeugend ausgeführt, „daß allein schon die Erhaltung möglichst sämtlicher Parteiorgane die Schaffung eines Archivs rechtfertigt„. [Fn 22: H. Sch.: „Zur Frage eines Parteiarchivs„, a.a.O.] Schlüter beschränkte sich nicht auf bloße Suchaufrufe, sondern entfaltete eine intensive Korrespondenz „besonders mit den älteren Parteigenossen„. [Fn 23: Niederschrift zur Geschichte des Parteiarchivs von Anna Hoppe (gesch. Schlüter). 1908. IISG Amsterdam. Bestand SPD Partei-Archiv.]

Die Reaktion auf die gezielten Aufrufe überschritten die kühnsten Erwartungen. Eine „Gabenliste„ aus Hamburg liest sich stellenweise wie eine Bibliographie der frühen sozialdemokratischen Presse. Nahezu vollständige Jahrgänge gingen in Zürich ein: „Hamburg-Altonaer Volksblatt„ aus dem Verlag Dietz, „Mecklenburg-Pommerscher Arbeiterfreund„, „Thüringer Freie Presse„, „Volkswille„, Augsburg, „Der Zeitgeist. Organ für das arbeitende Volk„, „Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund„, „Volksfreund„, Frankfurt, „Chemnitzer Freie Presse„, „Glauchauer Nachrichten„, „Märkischer Volksfreund. Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes der Mark Brandenburg„, „Die Fackel. Volks-Organ für Leipzig und Umgebung„, „Sozialpolitische Blätter„, „Nürnberg- Fürther Socialdemokrat„, „Anhalthischer Volksfreund„, „Westfälische Freie Presse. Organ des arbeitenden Volkes„, „Magdeburger Freie Presse„, „Bremer Freie Zeitung„, „Kölner Freie Presse„, „Pionier„, Zentralorgan der deutschen Gewerkschaften, „Königsberger Freie Presse„, „Der Botschafter„, „Schleswig-Holsteinische Volkszeitung„, „Vorwärts„, „Volksstaat„. [Fn 24: Der Sozialdemokrat, Nr. 49 (4. Dezember 1884).]

Warum waren die Zeitungen für das Parteiarchiv so wichtig? Das überragende Interesse der jungen deutschen Arbeiterbewegung galt von Anfang an der Zeitungspublizistik. Der Zeitung maß man eine große aufklärerische Funktion bei. In die Zeitungsunternehmungen steckte die junge deutsche Arbeiterbewegung ihre ganze Kraft: Die Sozialdemokratie war „geradezu ‚pressegläubig’ zu nennen„. [Fn 25: Loreck, Jochen: Wie man früher Sozialdemokrat wurde. Das Kommunikationsverhalten in der deutschen Arbeiterbewegung und die Konzeption der sozialistischen Parteipublizistik durch August Bebel. Bonn-Bad Godesberg, 1977, S. 95. (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, 130). ] Aus den Presserzeugnissen ließen sich ihre Ideen, ihre Alltagsagitation, ihr Organisations- und Kommunikationsverhalten ablesen. Diese Bestände für die Parteibibliothek zusammengetragen zu haben, war eine der großen kulturellen Leistungen während der Emigrationszeit.

Bereits im Sommer konnte Schlüter seine Suchlisten „zur Kompletirung„ deutlich reduzieren. Er fahndete „nur„ noch nach ganz speziellen Einzelnummern, darunter nach dem Augsburger/Münchner „Proletarier„ und dem von Johann Baptist von Schweitzer herausgegebenen „Agitator„. [Fn 26: Der Sozialdemokrat, Nr. 34 (11. April 1884).] So erfolgreich das Suchkonzept bei sozialdemokratischen Blättern griff, so wenig erfolgreich war es bei den Gewerkschaftsblättern. Offensichtlich waren Parteiloyalität und Identität groß genug, um den emigrierten Parteivorstand mit „politischen Materialien„ zu versorgen. Den Gewerkschaftsmaterialien maßen die Mitglieder im Reich nicht die gleiche Bedeutung bei.

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Beachtenswerte Sammlungen kamen aus dem Ausland. Schweizer, österreichische und italienische Parteiorganisationen schickten reiche Kollektionen nach Zürich. Eine weitere Quelle waren die nach Amerika ausgewanderten politischen Emigranten, die ihr Verhältnis zur Mutterpartei nur selten lösten. So schickte Marx’ alter Kampfgefährte Friedrich Adolph Sorge 150 Broschüren, Bücher und Protokolle, die die Geschichte der deutschsprachigen Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten und die Entwicklung der amerikanischen Arbeiterbewegung dokumentierten. [Fn 27: Der Sozialdemokrat. Nr. 49 (3. Dezember 1885).] Bebels Vision bekam Konturen.

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London

Im Frühjahr 1888 beschloss der Schweizer Bundesrat auf Intervention des deutschen Reichskanzlers von Bismarck die Exilleitung der deutschen Sozialdemokratie nach England auszuweisen. Mit ihr ging das Parteiarchiv. Darunter befand sich die Bibliothek mit über 3.200 Bänden und eine Sammlung von 160 Periodika in 373 Bänden. Das Material füllte16 Kisten. [Fn 28: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 17 f.]

Die nach Großbritannien verbrachte Sammlung war beeindruckend. Das gedruckte Gedächtnis der Partei - ihre Parteizeitungen - waren in hoher Vollständigkeit zusammengetragen. Ein solider Grundstock der gedruckten Agitationsbroschüren zählte zum Bestand. Die „Klassiker„ der sozialistischen Bewegung waren in der Bibliothek gut vertreten. Bei den ausländischen und den deutschen sozialistischen Gewerkschaftsmaterialien klafften große Lücken. Ungünstig sah es bei der in- und ausländischen wissenschaftlichen Literatur aus. Die ökonomisch-statistischen und sozialpolitischen Werke, auf die Bebel so viel Wert gelegt hatte, fehlten weitgehend im Bestand. In diesem Bereich klafften Anspruch und Wirklichkeit am weitesten auseinander.

In London konnte das Parteiarchiv mit seiner Bibliothek im Hause Eduard Bernsteins nur beengt untergebracht werden, und „auch die sonstigen Umstände waren einer gedeihlichen Entwicklung nicht günstig„. [Fn 29: Ebda. S. 18.] Eine wirkliche Benutzung der Bücher hat in London wohl nicht stattgefunden. Der Kontakt zur Heimat war weitgehend unterbunden. Von London aus quittierte Schlüter nur einen einzigen Neuzugang. Friedrich Leßner, der einst das „Kommunistische Manifest„ zum Drucker gebracht jatte, bereicherte den Bibliotheksbestand mit einem Jahrgang des Chicagoer Blattes „Stimme des Volkes„. Von einem anonymen Parteifreund aus London gingen ferner „diverse Broschüren„ ein. [Fn 30: Der Sozialdemokrat, Nr. 50 (9. Dezember 1888).]

Wie sah es nun mit der Erschließung der Bestände aus? Bücher und seltene Zeitschriften zu sammeln macht Freude. Man kann die Leidenschaft und den Genuss Hermann Schlüters leicht teilen, die dieser beim Zusammentragen einer Bibliothek empfand. Nur: Die „Kunst„, aus einer einmaligen Büchersammlung eine Bibliothek zu machen, besteht in der Erschließung der Bestände. Nur durch Sach- und Formalkataloge werden aus wunderschönen Büchersammlungen nützliche Gebrauchsbibliotheken, die ohne pädagogische Anleitung zu benutzen sind.

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Schlüter wich dieser - eher unangenehmen Seite des Bibliothekswesens - nicht aus. Er musste indes, wie viele Bibliothekare vor und nach ihm, schmerzlich bekennen, dass er diese Arbeit „unterschätzt habe„. Nur die „eigentliche Parteiliteratur„ sei katalogisiert und auffindbar. [Fn 31: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 19.] Als Schlüter dieses selbstkritische Resümee zog, war er bereits auf dem „Sprung„ nach Amerika. In der Londoner Emigration war es zu schweren Konflikten zwischen ihm und Julius Motteler, dem „roten Feldpostmeister„, gekommen. Dieser hatte stets großes Interesse am Parteiarchiv gezeigt. In einem schwelenden Konflikt, in dem es um Temperament, Personen und Sachen gleichermaßen ging, wählte Schlüter den „Ausweg„ Auswanderung. Der Schöpfer des Parteiarchivs und seiner Bibliothek begleitete sein Werk in den kommenden Jahren nur noch aus dem fernen Amerika.

Weder der Interimsbetreuer Eduard Bernstein, noch der eigentliche Leiter Karl Kautsky fanden neben ihrer literarischen Betätigung Zeit und Muße für die Katalogisierung der Bestände. Die Londoner Zeit war für die Bibliothek eher eine tote Zeit, ehe sie im Februar und März 1891 nach Fall des Sozialistengesetzes nach Berlin verfrachtet werden konnte. In London war jedoch zwischenzeitlich eine andere reiche Privatbibliothek herangewachsen, deren exzellente Bestände sich stets vermehrten. Es war die Privatbibliothek von Friedrich-Engels, in die ihrerseits große Teile der wertvollen Privatbibliothek von Karl Marx integriert worden waren. Wenige Jahre später sollte die Engelssche Sammlung mit der Parteibibliothek von Marx und Engels vereinigt werden. Diese einzigartige Privatbibliothek soll deshalb gesondert gewürdigt werden.

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Die Privatbibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels

Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts - parallel zu den Vorbereitungsarbeiten an der ersten historisch-kristischen Marx-Engels-Gesamtausgabe - bemühten sich Forscher, die Privatbibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels zu rekonstruieren, Lesespuren in ihren Büchern zu entdecken und die Bedeutung ihrer Bibliotheken bei der Genesis ihrer historisch-materialistischen Weltanschauung zu dokumentieren.

In der Ära des Hochstalinismus ließ das Forschungsinteresse zeitweise nach. In den fünfziger Jahren erlebte das Aufspüren von Büchern Exlibris Marx und Engels in der Sowjetunion und der DDR eine Renaissance. Westliche Forscher spürten dem Lesefeld der beiden großen Wissenschaftler und Revolutionäre nach, um Verbindungen zwischen ihrem Werk und ihren Bibliotheken als Arbeitsinstrument und Werkstätte aufzuzeigen. In der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe wurde der Rekonstruktion der Bibliotheken der beiden „Altmeister„ und der Dokumentation von Anstreichungen und Lesespuren einen hohen Stellenwert beigemessen. Die Marx-Engels-Forscher in Ost und West haben viel für die Aufhellung der Geschichte der SPD-Parteibibliothek getan. Ihren Arbeitsergebnissen verdankt die Bibliotheksforschung viel. [Fn 32: 1999 bündelten sich die verschiedenen Forschungsansätze in dem Werk: Die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels a.a.O.]

Warum unterzogen sich ganze Forschergruppen dieser Mühe? Die Antwort fällt nicht schwer: „Die persönlichen Bibliotheken bildeten eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen

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von Ideen und Werken. In ihnen bündelten sich die sachlich-biographischen und die historisch-gesellschaftlichen Grundlagen der Arbeit eines Autors.„ [Fn 33: Ebda., S. 18.]

Der Aufbau der Marxschen Privatbibliothek war von seinen wechselnden Forschungsschwerpunkten bestimmt, allerdings auch von den Verwerfungen seines Emigrantendaseins. Die bis zu seiner Ausweisung aus Köln im Februar 1849 zusammengetragene Arbeitsbibliothek enthielt das gängige sozialreformerische, philosophische und frühsozialistische Schriftgut des 18. und des 19. Jahrhunderts. Von Campanellas „Sonnenstaat„ bis hin zu Hegels „Vorlesungen über die Philosophie„ war darin „alles„ vertreten. Ein Gutteil seiner frühen rheinischen Studienbibliothek konnte auf abenteuerliche Weise nach London gerettet werden. [Fn 34: Ebda., S. 28 f.]

Neben juristischen und philosophischen Titeln konzentrierten sich seine Buchkäufe auf ein breit angelegtes historisches Spektrum, „zentriert auf Frankreich, die Revolution von 1789 und die Ideengeschichte der sozialen Bewegung„. Selbstverständlich schlug sich auch seine Hinwendung zur „Politischen Ökonomie„ in seinem Buchbestand nieder. Die Durchleuchtung der kapitalistischen Produktionsweise, seine naturwissenschaftlichen und agrarwissenschaftlichen Studien dokumentieren sich in seiner Bibliothek ebenso wie seine Hinwendung zur „russischen Frage„. Seit 1869 erwarb Marx alle Neuerscheinungen im Bereich der russischen Rechts-, Wirtschafts- und Finanzgeschichte. Damit nicht genug: „Durch antiquarische Erwerbungen, Bestellungen über den Buchhandel sowie Geschenke und Widmungsexemplare aus aller Welt, die ihm auf Grund seiner wissenschaftlichen und gewachsenen politischen Reputation als de facto führender Kopf der 1864 gegründeten [internationalen] Arbeiterassoziation vermehrt zugingen, wuchs der Bestand der Marxschen Privatbibliothek in den Folgejahren beträchtlich.„ [Fn 35: Ebda., S. 44.]

Als Marx 1883 starb, sah sich sein Freund Engels nicht in der Lage, die Bibliothek in toto zu übernehmen. Er sichtete die Bibliothek gründlich und gab nichts aus der Hand, was er nicht besaß. Teile gingen an einen Londoner Arbeiterverein, Teile an Marx’ Tochter Eleanor Aveling und deren Mann, Teile an enge politische Kampfgefährten. [Fn 36: Ebda., S. 45.]

Der Schwerpunkt der Engelsschen Arbeitsbibliothek war durchaus anders gesetzt. Seine kriegs- und militärwissenschaftlichen Interessen und seine diesbezüglichen Veröffentlichungen benötigten als „Rüstkammer„ eine große militärwissenschaftliche Arbeitsbibliothek, deren Aufbau er im Februar begann und in den kommenden Jahren beträchtlich erweiterte. [Fn 37: Ebda., S. 53.]

Als Friedrich Engels seine testamentarische Verfügung traf, war er sich des einzigartigen Wertes der beiden zusammengelegten Privatbibliotheken bewusst. Die vereinigten Bibliotheken umfassten ca. 2100 Titel in 3200 Bänden. [Fn 38: Ebda., S. 23.] Engels schätzte den Bestand als einzigartig für das Studium des modernen Sozialismus mit all seinen Grundlagen ein. Es sei eine Schande, diesen einzigartigen Bestand zu zerstreuen. Engels kam deshalb dem lange gehegten Wunsche August Bebels nach und vermachte seine Privatbibliothek und die seines Freundes der deutschen Sozialdemokratie.

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Zweieinhalb Monate nach seinem Tode konnten die Mitglieder der Partei in ihrem Zentralorgan Engels’ letzte Verfügung nachlesen: „Wie unseren Lesern bekannt ist, hat Friedrich Engels seine Bibliothek sowie einen namhaften Geldbetrag der Partei letztwillig vermacht. Den als Erben eingesetzten Genossen Bebel und Singer sind von den Testamentsexekutoren die beiden Vermächtnisse übergeben worden. Die reichhaltige Bibliothek ist im Auftrag der Erben an das Parteibureau adressiert worden und vor einigen Tagen, in 27 Kisten verpackt auf dem hiesigen Zollamt angelangt.„ [Fn 39: Vorwärts, Nr. 246 (20. Oktober 1895).]

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Zwei große Bibliotheken werden vereinigt: Ordnung durch Hugo Heimann

Es gehört zu den unglücklichen Entscheidungen der Verantwortlichen innerhalb des Parteivorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, von den übernommenen Materialien kein spezielles Verzeichnis angefertigt zu haben. Erst eine Generation später erkannten Vorstandsmitglieder dieses Versäumnis als einen schmerzlichen Verlust der eigenen Wurzeln. Aber auch sonst war es der Parteibibliothek nach der Rückführung von London nach Berlin nicht besonders gut ergangen. Auf dem Parteitag in Köln im Oktober 1893 wurde über mangelnde Räumlichkeiten geklagt; man habe gerade erst mit dem Auspacken der Materialien begonnen. [Fn 40: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Köln a. Rh. vom 22. bis 28. Oktober 1893. Berlin, 1893, S. 144.]

Ein Jahr später in Frankfurt am Main waren die Töne optimistischer. Das Archiv werde „in kurzer Zeit den Interessenten zugänglich gemacht werden„. [Fn 41: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Frankfurt a. M. vom 21. bis 27. Oktober 1894. Berlin, 1894, S. 35. ] Ob der gepriesene Katalog mit seinen „4000 Nummern„ tatsächlich ein angemessenes Instrument zur Erschließung der Bestände war, darf man mit Fug und Recht bezweifeln, denn sieben Jahre später gestand der Vorstandsbericht offenherzig das „Fehlen des Katalogs„ ein. [Fn 42: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Lübeck vom 22. bis 28. September 1901. Berlin, 1901, S. 31.]

August Bebel war ganz offensichtlich mit der Ordnung von Archiv und Bibliothek zutiefst unzufrieden. [Fn 43: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 46.] Und es war pikanterweise der mit den Anarchisten sympathisierende Max Nettlau, der den Sozialdemokraten die liberalen Zugangsbedingungen staatlicher Bibliotheken vor Augen hielt: „Wenn selbst der Staat die Bibliotheken bedingungslos zur Verfügung stellt, sollte es die Sozialdemokratie auch in annehmbarer Form thun.„ [Fn 44: Nettlau, Max: „Das Parteiarchiv und seine Benutzung„. In: Die Neue Zeit, Jg. 17, Bd. 1, Nr. 18 (1898-1899), S. 566.]

August Bebel und der Parteivorstand der SPD hatten - modern gesprochen - die Erschließung der Bibliotheksbestände einem Dienstleistungsunternehmen übertragen: der Heimannschen Öffentlichen Bibliothek und Lesehalle. Von allen Chronisten wird die Katalogisierung der Bestände in der renommierten Berliner Bibliothek eher stiefmütterlich behandelt. Paul Mayer spricht von der ersten Heimstatt der Heimannschen Bibliothek als einen Gartenhinterhaus und einem Provisorium. [Fn 45: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 47.] Andere Autoren lassen durchscheinen, der Verlust vieler Anmerkungen von Marx und Engels in ihren eigenen Bänden sei der Unachtsamkeit der Heimannschen Bib-

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liothekare geschuldet. [Fn 46: Harstick, Hans-Peter: „Zum Schicksal der Marxschen Privatbibliothek„. In: International Review of Social History, 18 (1973), S. 202 f.] Wer war Hugo Heimann? Was hatte es mit seiner Bibliothek auf sich, die jüngere Historiker zwei Generationen später „einen Vorgriff in die Zukunft„ nannten? [Fn 47: Langewiesche, Dieter und Klaus Schönhoven: „Arbeiterbibliotheken und Arbeiterlektüre im Wilhelminischen Deutschland„. In: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. XVI (1976), S. 158. ]

Der Sozialdemokrat Hugo Heimann (geb. am 15. April 1859 in Konitz in Westpreußen) hatte 1890 als gelernter Verlagsbuchhändler durch die Übernahme der Guttentagschen Verlagsbuchhandlung in Berlin ein kleines Vermögen erworben, das er nach Verkauf des gutgeführten Unternehmens wiederum der Berliner Arbeiterschaft zugute kommen lassen wollte. Mit August Bebel und Paul Singer war er eng befreundet. Heimann war belesen, hatte durch Fernreisen eine Menge von der Welt gesehen und verblüffte Freunde und politische Gegner durch seine breitgefächerte Allgemeinbildung. In Kaiserreich und Weimarer Republik nahm er eine Fülle von Funktionen für die Sozialdemokratie wahr. Diese Funktionen reichten vom Vorsitzenden des Zentralen Bildungsausschusses der SPD bis hin zu seinem Mandat als Mitglied der Nationalversammlung und zum Vorsitzenden des Haushaltsausschusses im Deutschen Reichstag. [Fn 48: Schröder, Wilhelm Heinz: Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933. Biographien, Chronik, Wahldokumentation. Ein Handbuch. Düsseldorf, 1995, S. 459. ]

Der Philanthrop Hugo Heimann hatte der Partei für die Gründung einer Berliner Arbeiterbibliothek die unglaubliche Summe von 600.000 Mark in Aussicht gestellt; dies war eine Summe, die selbst dem bildungsbeflissenen Bebel zu weit ging. [Fn 49: Heimann hat in seiner Autobiographie Vom tätigen Leben. Berlin, 1948, S. 18 die Einwände Bebels anschaulich dokumentiert. Die Geschichte der Heimannschen Bibliothek, ihr Aufbau und ihre Funktion hat in den letzten Jahren das Interesse von Bibliotheksforschern in Ost- und Westdeutschland gefunden. Siehe Gröters, Renate: Die Heimannsche Bibliothek und Lesehalle in Berlin 1899-1920, Dipl. Arbeit [West] Berlin, 1975; Stroscher, Norbert: Die Heimannsche „Öffentliche Bibliothek und Lesehalle zur unentgeltlichen Benutzung für jedermann„ 1899-1919. Diss. [Ost] Berlin, 1984. Die Bedeutung der Arbeit von Norbert Stroscher liegt darin, dass er aufgrund von neuerschlossenen Quellen eine Reihe neuer Fakten zur Erschließung der SPD-Parteibibliothek präsentiert.]
Heimanns Bibliotheksgründung unterschied sich wegen der besonderen Ausstattung von allen anderen gut gemeinten Projekten. Er hatte Public Libraries in Großbritannien besucht und sich vom späteren Direktor der Reichstagsbibliothek beraten lassen. Der bekannte sozialdemokratische Publizist und Redakteur Adolf Braun half bei der systematischen Erschließung der Bestände. [Fn 50: Stroscher, Die Heimannsche Bibliothek..., a.a.O., S. 29.]

Die Bibliothek war im Wilhelminischen Deutschland zunächst Eigentum der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die Parteivorsitzenden Paul Singer und August Bebel saßen im Kuratorium der Bibliothek. Ihre Eröffnung am 20. Oktober 1899 war in der Hauptstadt eine Sensation. Zeitweise musste die Bibliothek wegen Überfüllung geschlossen werden. Freunden und Feinden der Arbeiterbewegung galt sie als „sozialdemokratische Mustereinrichtung„. Die Besucherzahlen lagen schon bald nach der Jahrhundertwende bei über 100.000 pro Jahr. Wie Hugo Heimann stolz betonte, ergab die Berufsstatistik der Leser, „daß die Bibliothek in der Tat zum überwiegenden Teil von gewerblichen Arbeitern genutzt wird„. [Fn 51: Heimann, Hugo: „Vorwort zur ersten Auflage„. In: Bücherverzeichnis der Öffentlichen Bibliothek und Lesehalle in Berlin, 3. Aufl. Berlin, 1911. S. III.] Der Vorbildcharakter für alle anderen Arbeiterbibliotheken im Reich lag in der professionellen Art der Erschließung und der Modernität der Benutzung. Eine speziell entwickelte Systematik wurde rasch von den übrigen Arbeiterbibliotheken kopiert. [Fn 52: Winterstein, Benedikte: Beiträge zur Entwicklung der deutschen Arbeiterbibliotheken. Assessorarbeit Köln, 1974, S. 35.]

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Die gedruckten Kataloge der Heimannschen Bibliothek ernteten von Freund und Feind hohes Lob. [Fn 53: Buchholtz, Arnd: „Die Heimannsche Bibliothek in Berlin„. In: Die Nation, Jg. 22 (1905), S. 271 f.; „Ein Bücherverzeichnis„. In: Vorwärts, Nr. 105 (10. Mai 1905).] Im Januar 1899 kam es zu einem formalen Beschluss des sozialdemokratischen Parteivorstandes, Archiv und Bibliothek der Öffentlichen Bibliothek und Lesehalle in der Alexandrinenstraße 26 zu übergeben [Fn 54: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S.46.]].
De facto wechselten die Bestände von einer sozialdemokratischen Institution in eine andere.

Katalogisierungs- und Erschließungsarbeiten der SPD-Parteibibliothek gewannen in der Heimannschen Bibliothek schnell an Fahrt. Vieles verlief „bei Heimann„ nach bewährtem Muster, teilweise wurden neue Wege eingeschlagen. Speziell für die Bearbeitung der Parteibibliothek wurde neues Personal eingestellt. Unter den neuen Bibliotheksangestellten befand sich Alice Geiser, die Tochter Wilhelm Liebknechts. Alice Geiser war mit dem ehemaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Bruno Geiser verheiratet. [Fn 55: Zu Bruno Geiser und seinem kulturellen Wirken s. Emig, Brigitte: Die Veredelung des Arbeiters. Sozialdemo kratie als Kulturbewegung. Frankfurt/M., 1980, S. 247 f.] Nach dem Tode ihres Mannes verdiente sie sich mit der Katalogisierung der Parteibibliothek ihren Lebensunterhalt. [Fn 56: Stroscher, Die Heimannsche ..., a.a.O., S. 39.] Diese Personalentscheidung spricht für sich.

Bei der systematischen Erschließung der Bestände der SPD-Bibliothek mussten andere Wege als gewohnt beschritten werden. Zu unterschiedlich waren die große öffentliche Bibliothek und die sozialistische Spezialbibliothek strukturiert. „Formal„ war für die SPD-Parteibibliothek im Geschäftsverteilungsplan der Reichstagsabgeordnete Max Schippel zuständig. Nach außen trat der vielbeschäftigte Journalist und Parteischriftsteller kaum als „Parteiarchivar„ oder „Parteibibliothekar„ in Erscheinung. [Fn 57: Zu seinem literarischen Wirken s. „Die ‚Berliner Arbeiterbibliothek’ (1889-1893) und ihr Herausgeber Max Schippel„. In: Emig, Brigitte, Max Schwarz und Rüdiger Zimmermann: Literatur für eine neue Wirklichkeit. Bibliographie und Geschichte des Verlags J.H.W. Dietz Nachf. 1881 bis 1981 und der Verlage Buchhandlung Vorwärts, Volksbuchhandlung Hottingen/Zürich, German Cooperative Print. & Publ. Co. London, Berliner Arbeiterbibliothek, Arbeiterjugendverlag, Verlagsgenossenschaft „Freiheit„, Der Bücherkreis. Berlin/Bonn, 1981, S. 247 f. In der Weimarer Republik hatte Schippel eine ordentliche Professur für Staatswissenschaften inne.] Methodische Dinge gingen Schippel jedoch leicht von der Hand. Er fand die Zeit, die Systematik des Sachkataloges zu entwickeln , die einen inhaltlichen Zugriff zur Parteibibliothek ermöglichte. [Fn 58: Hinrichsen, Jonny: „Das Parteiarchiv„. In: Sozialistische Monatshefte, Jg. 34 (1928), Bd. 66, S. 117; Drahn, Ernst: „Das Archiv der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, seine Geschichte und seine Sammlungen„. In: Die Neue Zeit, Jg. 36 (1928), Bd. 2, S. 521.]

Auf der obersten Hierarchieebene war der systematische Katalog in 13 Klassen aufgefächert: Volkswirtschaft, Sozialwissenschaft, Sozialismus und Sozialdemokratie, Geschichte, Staatswissenschaften, Rechtswissenschaft, Kriegs- und Heerwesen. Militarismus. Abrüstungs- und Friedensbestrebungen, Bildungs- und Erziehungswesen, Religion und Philosophie, Geographie, Naturwissenschaft, Medizin, Sprach- und Literaturwissenschaft, Allgemeines, Zeitungen. Darunter verzweigte sich die Systematik in über 250 Notationen. Als Pendant zum gedruckten systematischen Katalog [Fn 59: Bibliothek der socialdemokratischen Partei Deutschlands. Systematischer Katalog. Berlin, September 1901.] wurde ein alphabetischer Zettelkatalog angelegt, der auch intern die SPD-Bibliothek zu einer modernen arbeitsfähigen Gebrauchsbibliothek machte. Erst nach Abschluss des Katalogsystems wurde die reiche und einmalige Sammlung „für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht„, wie der spätere Parteiarchivar und Parteibiblio-

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thekar Jonny Hinrichsen in der Weimarer Republik lapidar bestätigte. [Fn 60: Hinrichsen, „Das Parteiarchiv„, a.a.O., S. 117. ] Am 25. Oktober 1901 konnte die Bibliothek der Parteiöffentlichkeit übergeben werden. Herzstück war der neue, gedruckte Katalog, der gut 8.000 Bände dokumentierte. [Fn 61: Vorwärts, Nr. 251, 25. Oktober 1901. Die Bandangaben für die Bibliotheken schwanken in der Literatur. Die Gründe sind verständlich. Mehrbändige Werke lassen sich kaum als solche erkennen. Die mehrbändigen Zei tungsbände waren noch nicht restlos erfasst. Das gleiche gilt für die russischen Titel. Seriöserweise kann man den Bestand nur zwischen 8.000 und 10.000 Bänden schätzen.]

Die Parteibibliothek war der Massenbenutzung durch die Besucher der Heimannschen Bibliothek entzogen. Sie war über der eigentlichen Bibliothek untergebracht. Die Einschränkungen ergaben sich aus der Benutzungsordnung: „Die Benutzung der Bibliothek steht nur solchen Personen frei, denen der Parteivorstand (Bureau Berlin S.W., Kreuzbergstr. 30) die schriftliche Erlaubnis dazu erteilt hat.„ [Fn 62: Bibliothek der socialdemokratischen Partei..., a.a.O.] Benutzung war in der Regel nur als Präsenzbenutzung möglich. Mit dem Umzug des Parteivorstandes in das neue Parteigebäude, Lindenstraße, wurde auch das Archiv mit der Bibliothek dorthin verlegt. Der Umzug erfolgte in mehreren Etappen. [Fn 63: Stroscher, Die Heimannsche..., a.a.O., S. 86 f. ]

Die Gründe für die Rückführung lassen sich heute nicht mehr genau eruieren. Vielleicht war die Unterbringung bei Heimann von vorneherein als eine temporäre Maßnahme gedacht, um mit Hilfe der „Profis„ die Bibliothek überhaupt nutzbar zu machen. Knapp 5 % der SPD-Bibliothek (= 443 Titel) verblieben allerdings in der Heimannschen Bibliothek als Dauerleihgabe. Es waren meist wissenschaftliche Werke aus den Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels. Sie verbrannten restlos im Feuersturm des 2. Weltkriegs. [Fn 64: Die Bibliothek von Karl Marx ..., a.a.O., S. 59. ]


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