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Die sowjetische Gesellschaftsstruktur läßt sich von oben mit Hilfe der Perestrojka weder ausmustern noch modernisieren. Nur die Gesellschaft selber ist in der Lage, die verkrusteten Strukturen zu zerschlagen. Die sowjetische Gesellschaft ist jedoch (noch) nicht bereit, dies zu tun. Die Eröffnung der Perestrojka traf sie 1985 völlig unvorbereitet. Für die Verkündung der Perestrojka waren nicht innere Gründe, sondern äußere Notwendigkeiten maßgebend. Der gerade Weg der sowjetischen Gesellschaft von der Perestrojka in die freie Marktwirtschaft und die parlamentarische Demokratie westlichen Typs ist deshalb eine Illusion. Hierfür fehlen nicht nur in der Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Gesellschaft die notwendigen Voraussetzungen. Es gibt keine demokratische Umgestaltung und Marktwirtschaft ohne den Willen der Menschenmassen, die die sowjetische Gesellschaft bilden. Der Willen der Massen kam bereits am ersten Stolperstein auf dem Weg zur Marktwirtschaft zu einem Halt. Viel zu groß sind noch die politischen Barrieren des Konservativismus in der sowjetischen Gesellschaft. Ebenso groß ist die Zahl derjenigen, die die Schuld für alles, was schlecht ist, der Perestrojka zuschieben. Den von der Perestrojka enttäuschten Massen ist heute nichts mehr heilig, weder das bolschewistische Ideensystem, noch die Person Lenins, noch die versprochene herrliche Zukunft. Unter den Arbeitern und Bauern kam es zu einer früher undenkbaren alltäglichen Erscheinung: dem Antikommunismus. 70 Jahre Einparteiendiktatur wirkten auf die Entwicklung der Gesellschaft jedoch nicht einheitlich. Die Gesellschaft zerfiel in einzelne Inseln, die häufig zu Widerstandszentren wurden. Die Präsidentschaftswahlen in Rußland haben gezeigt, daß Boris Jelzin für einen großen Teil der Bevölkerung zum Symbol des Widerstandes gegenüber dem Zentrum und der kommunistischen Partei geworden ist. Der Wahlsieg Jelzins darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, wie tief die "alten Reflexe" in der russischen Gesellschaft verwurzelt sind. Zwar erhielt Jelzin von den 109 Millionen Wahlberechtigten rund 45,5 Millionen Stimmen. Fast 23 Millionen stimmten jedoch für den Mann des konservativen Apparates, Ryschkow, den monarchistisch-neostalinistischen Schirinowskij und den stalinistischen General Makaschow. Eine Erscheinung, die in der russischen Gesellschaft zunehmend um sich greift, ist die Russophobie. Zwar drohte im Laufe der Geschichte der UdSSR zahlreichen Nationalitäten (Krim-Tataren, Tschetschenen, Inguschen, Kalmyken, Messeten u.a.) die kulturelle Vernichtung. Heute jedoch fühlt sich das größte Volk der UdSSR (die Russen) in [Seite der Druckausg.: 31] seiner nationalen Existenz bedroht. Das von den Russen aufgebaute Imperium zerfällt, der Antirussismus nimmt zu, Russen in den nicht russischen Republiken wurden zweitklassige Bürger. Es kam zu antirussischen Pogromen, den ersten russischen Flüchtlingswellen. Der mit Frustration gepaarte nationale Chauvinismus erzeugt den Mythos der Russo-phobie. Zu seiner Verbreitung trugen russische Schriftsteller wie Rasputin, Prohanow und Proskurin sowie die Pamjat-Bewegung, die Russische Volkspartei und die Prawo-slawische Völkische Bewegung "Rußland" bei. Der Mythos der Russophobie hat sowohl eine antisemitische als auch eine antiislamische Ausrichtung. Er ist Produkt der gegenwärtigen Krise des russischen Sendungsbewußtseins und tief in gesellschaftlichen Prozessen verwurzelt. Die russische Gesellschaft steht mehrheitlich unter dem Einfluß von drei politischen Strömungen: dem westlich ausgerichteten Populismus um Boris Jelzin, den nationalistischen, monarchistischen und rechtsgerichteten Bewegungen (Pamjat) sowie der reaktionären zentralen Partei-, Staats- und Verwaltungsbürokratie. Der historische Kompromiß, den die bürokratischen Eliten, gestützt auf die drei politischen Strömungen, schließen, führt Rußland in das Herrschaftssystem einer formal parlamentarisch bürokratischen Diktatur. Christdemokratische, liberale und sozialdemokratische Strömungen repräsentieren nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft. Teile der Gesellschaft, vor allem die Bergarbeiter, lassen sich jedoch bereits von unten organisieren. Sie führen Streiks und Kundgebungen durch. Das Schweigen der Arbeitermehrheit kann jederzeit in eine offene Protestaktion umschlagen. Die offiziellen Gewerkschaften der Sowjetunion funktionieren trotz Erneuerungsversuchen noch heute als Transmissionsriemen für Partei und Regierung. Zwar hat der Zentralrat der sowjetischen Gewerkschaften auf dem 19. Kongreß im Oktober 1990 seine Unabhängigkeit von der KPdSU erklärt und sich in "Allgemeine Gewerkschaftskonföderation" umbenannt, doch blieb die konservative Gewerkschaftsbürokratie und die Monopolstellung der gewerkschaftlichen Hierarchie unangetastet. Auch der im März 1990 gegründete Russische Unabhängige Gewerkschaftsbund ist eher ein Stützpunkt der neuen Elite der Gewerkschaftsbürokratie, die die Regierung um Boris Jelzin unterstützt und Verbindung zu den alten Kadern der Gewerkschaftszentrale hält, als Vertreter von Arbeitnehmerinteressen. [Seite der Druckausg.: 32] Die im Juni 1989 gegründete konservative russisch-nationalistisch ausgerichtete "Vereinte Front der Werktätigen" (OFT) läßt sich leicht zu politischen Zwecken im zentralen Staats- und Parteiapparat mißbrauchen. Die OFT bekämpft die Reformen des Übergangs zur Marktwirtschaft sowie die Entstehung privater Kooperativen und arbeitet mit den Interfront-Bewegungen, die die russischen Minderheiten in den Republiken vertreten, zusammen. Dabei geht es um die Bewahrung der privilegierten sozialen Stellung russischer Arbeitnehmer in den Republiken, die unabhängig werden wollen. Angesichts des Unvermögens offizieller Gewerkschaften, Arbeitnehmerinteressen zu vertreten, sind inzwischen mehrere alternative Gewerkschaftsorganisationen auf lokaler, Republik- oder Unionsebene entstanden. Dazu gehören die im Februar 1990 in Moskau gegründete Vereinigung der Sozialistischen Gewerkschaften ("Sozprof"), die unter dem Vorsitz von S. A. Chramow 36 unabhängige Gewerkschaftsorganisationen mit 20.000 Mitgliedern vertritt, sowie die im Mai 1990 in Nowokusnewzk gegründete Konföderation der Arbeit, die sich aus Arbeiter- und Streikkomitees von Kusbass, Donezk, Karaganda, Workuta und Sachalin sowie Arbeiterclubs und unabhängige Organisationen zusammensetzt. Der 1. und 2. Kongreß der Bergarbeiter im Juni bzw. Oktober 1990 stellte nicht nur politische Forderungen (Rücktritt der Ryschkow-Regierung), sondern ebnete auch den Weg zur unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft. Die Streikbewegung der letzten Jahre hat gezeigt, daß die Gesellschaft durchaus in der Lage ist, sich selbst zu organisieren. Nachdem die Erdölarbeiter Westsibiriens ihre Forderungen mit Streiks weitgehend durchsetzen konnten, legten im Juli 1989 über 300.000 Kumpel der Kohlegruben von Donbass, Kusbass, Workuta und Karaganda die Arbeit nieder. Die Streiks weckten das Selbstbewußtsein der Arbeiter. Die spontan entstandenen Streik- und Arbeiterkomitees übernahmen in den Bergarbeiterstädten praktisch die Macht anstelle der Partei- und Verwaltungsbürokratie. Sie haben die Möglichkeit, eine "Solidarnosc"-Bewegung nach polnischem Muster zu schaffen. Nachdem die Regierung ihre Zusagen nicht erfüllt hatte, kam es am 11. Juli 1990 zu politischen Warnstreiks in den Kohlerevieren. Gefordert wurden u.a. der Rücktritt Gorbatschows und seines Ministerkabinetts, die Auflösung des Obersten Sowjets und die Enteignung der KPdSU. Eine neue Streikwelle der Bergarbeiter begann im März/April 1991. Hinzu kamen Streiks in den Betrieben Belorußlands, nachdem die Re- [Seite der Druckausg.: 33] gierung die Einzelhandelspreise erhöht hatte. Die Bergarbeiter des Kusbass beendeten erst im Mai 1991 ihren zweimonatigen Ausstand, nachdem Boris Jelzin ihnen die Selbständigkeit ihrer Betriebe nach den Gesetzen der RSFSR zugesagt hatte. Dies geschah nach dem sogenannten Gorbatschow-Jelzin-Pakt vom 23. April und vor den Präsidentschaftswahlen am 12. Juni in Rußland. Ob und wann sich die Bergarbeiter auch von Jelzin abwenden, ist nicht nur eine Zeitfrage. Die Streik- und Arbeiterkomitees wurden nicht aufgelöst. Die Streikbewegung der Bergarbeiter mit der Forderung nach radikalen politischen und wirtschaftlichen Reformen zeigt, daß ein Rechtskurs Gorbatschows, gestützt auf die konservative Partei- und Verwaltungsbürokratie, wie sich dies im Dezember 1990 andeutete, von der Gesellschaft nicht ohne weiteres hingenommen wird. Die Arbeiterbewegung, die jahrzehntelang von der Einparteiendiktatur unterdrückt wurde, tritt heute als ein aktiver Faktor im innenpolitischen Kräfteverhältnis auf. Die Kraft der selbst organisierten und einheitlich auftretenden Arbeiterschaft erwies sich viel größer als die des Präsidenten Gorbatschow, der Reformintelligenz und der Medien zusammengenommen: Die zentrale Bürokratie hatte die Durchführung des Gesetzes über die Selbständigkeit der Unternehmen von 1987 erfolgreich sabotiert. Erst die Bergarbeiterstreiks von 1989 erreichten die Durchführung dieses Gesetzes im Sinne Gorbatschows. Aber die Bergarbeiterstreiks von 1990/91 richteten sich auch bereits gegen Gorbatschow, seine Regierung und das Parlament, die sich anstatt radikale Reformen durchzuführen hinter Scheinaktivitäten versteckten. Die Streik- und Arbeiterkomitees, die inzwischen zu echten kommunalen Einrichtungen geworden sind, forderten eine radikale Systemänderung. Sie wurden zum eigentlichen Kontrollorgan der Regierung, indem sie auf Schritt und Tritt feststellen, daß Gorbatschow seine Versprechen nicht eingehalten hat. Nachdem die streikenden Bergarbeiter zu einem politischen Faktor geworden waren, versuchten verschiedene politische Kräfte, sie zu beeinflussen. Dies gelang vor allem der Bewegung Demokratisches Rußland um Boris Jelzin auf Kosten des Zentrums um Gorbatschow. Bleibt Gorbatschow auf seiner harten Linie, gestützt auf den zentralen Partei- und Regierungsapparat sowie Armee und KGB, so scheint ein politisch motivierter Generalstreik und damit das Ende der Ära Gorbatschow unvermeidlich. Kommt es jedoch zwischen Gorbatschow und Jelzin zu einem Kompromiß über die Neuvertei- [Seite der Druckausg.: 34] lung der Macht, so wird es eher von der Stabilität und Dauerhaftigkeit dieses Kompromisses zwischen der alten und neuen Elite abhängen, ob und wann die formal parlamentarische bürokratische Diktatur von einer "Revolution von unten" hinweggefegt wird.
V. Ausblick
Was war die Perestrojka, als Gorbatschow 1985 seine Partei zum Kampf gegen die Stagnation unter Breschnew aufrief und was ist heute inhaltsmäßig von ihr geblieben? Der Plan Gorbatschows erschien grandios. Seine praktische Ausführung scheiterte. Von Anfang an war unklar, durch welche Art von Sozialismus Gorbatschow das stalinistische System von oben erneuern wollte. In Wirklichkeit hat es seit Stalin auch unter Gorbatschow keine wesentlichen Strukturveränderungen gegeben. Gorbatschow fand in der historischen Situation keine Lösung, weil er den Ausweg im Rahmen von Strukturen suchen mußte, die in der Weltgeschichte einzigartig sind. Zwar konzentriert sich in den Händen Gorbatschows, zumindest formell, mehr Macht als Stalin jemals besaß, doch war Gorbatschow nicht in der Lage, die sowjetische Gesellschaft auf Befehl von oben zu verändern. Vielmehr mußte er sich umgekehrt den bestehenden Verhältnissen anpassen. Die Perestrojka scheiterte letztlich an dem mißlungenen Versuch, eine 20 Millionen Mann starke Bürokratie abzubauen. Die Bürokratie wußte zu verhindern, daß Gorbatschow sich an die Spitze einer Massenbewegung stellte, um die Abschaffung der stalinistischen Strukturen von unten in Angriff zu nehmen. Die Strategie der Bürokratie läuft darauf hinaus, die Massenbewegungen, die die Abschaffung des alten Systems fordern, zu entzweien, auseinanderzudividieren und sogar neue Parteien und Gruppierungen zu gründen. Das alte Kommandosystem ist rasch auseinandergefallen ohne vorerst durch ein neues System ersetzt worden zu sein. Die Bürokratie weiß zwar, daß keine Rückkehr mehr zur stalinistischen Planwirtschaft möglich ist. Andererseits sehen die unterschiedlichen Gruppierungen der Bürokratie nur einen einzigen Ausweg aus dem Zustand der permanenten Krise, nämlich im Rahmen eines neuen autoritären Herrschaftssystems. Diese neue formal parlamentarisch-bürokratische Diktatur entsteht über die Köpfe der Bevölkerung hinweg. Die neue bürokratische Elite (aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur, Militär, Polizei usw.) geht zwecks Neuverteilung der politischen Macht [Seite der Druckausg.: 35] Kompromisse ein. Die marxistisch-leninistische Wertordnung wird durch neue Wertvorstellungen ersetzt. Ein Teil der bürokratischen Elite orientiert sich an den Wertvorstellungen der westlichen Konsumgesellschaften (z.B. Marxisten, neue Sozialisten, Liberale, Demokraten usw.). Die Wertorientierung des slawophilen Teils stützt sich auf die Wiedergeburt des traditionellen russischen prawoslawischen und nationalen Gedankengutes (z.B. konservative Kommunisten, Populisten, Nationalisten usw.). Die Neuverteilung der Macht vollzieht sich in parlamentarischer Form im Rahmen einer Präsidialdiktatur. Ob sie irgendwann, wenn überhaupt, von einem Massenaufstand hinweggefegt wird, hängt nicht zuletzt von der Stabilität der Kompromisse ab, die die neuen bürokratischen Eliten eingegangen sind. Sicher ist, daß das künftige Schicksal Rußlands und der gesamten Sowjetunion nicht von Gorbatschow oder Jelzin bestimmt wird, sondern von den Millionen, die sich bis heute noch gar nicht zu Wort gemeldet haben. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001 |