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Rußlands Wahlen und die NATO-Osterweiterung / Henrik Bischof. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 35 S. = 110 Kb, Text . - (Studie zur Außenpolitik ; 70). - ISBN 3-86077-512-X
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


  1. Die Machtstrukturen
  2. Die wirtschaftliche und soziale Lage
  3. Das Zentrum und die Regionen
  4. Die Außen- und Sicherheitspolitik
  5. Die Parlamentswahlen

II. Die NATO-Osterweiterung
  1. Die künftige Rolle der NATO
  2. Die Interessen der NATO-Mitgliedstaaten
  3. Wendepunkt: Der Krieg in Ex-Jugoslawien
  4. Die Interessenlage Mittelosteuropas
  5. Der GUS-Einflußbereich

Abstract

This study deals with the Russian elections and the planned admittance of East European countries into NATO. On the eve of the Russian parliamentary and presidential elections an analysis is made of the existing power structures, the economic and social situation, the relationship between the centre of power and the peripheral regions as well as Russian foreign and security policy. The study also deals with the results of the Duma-elections of December 1995.

The second part refers to the future role of NATO, the particular interests of individual NATO member countries, the interests of Central East European countries and the NATO engagement in Bosnia.

Die Wahlen in Rußland sowie die Osterweiterung der NATO waren Ende 1995 die herausragenden Themen für die Baumeister einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur. Beide Themen sind im Grunde unabhängig voneinander. Trotzdem haben westliche Politiker sie ohne zwingenden Grund miteinander gekoppelt. Die NATO-Erweiterung ist eine Angelegenheit, die erstens die NATO als Institution, zweitens die 16 NATO-Mitgliedstaaten, drittens die interessierten mittelosteuropäischen Länder als Beitrittskandidaten und erst in vierter Linie Drittstaaten wie Rußland angeht. Der Westen rückte jedoch bei seiner Entscheidungsfindung nicht die Abwägung der Eigeninteressen der NATO, der NATO-Mitgliedstaaten und der Beitrittskandidaten in den Mittelpunkt, sondern die Interessen Rußlands. In Erwartung der russischen Parlamentswahlen vom Dezember 1995 und der geplanten Präsidentschaftswahlen vom Juni 1996 wurde das Thema NATO-Osterweiterung zunächst auf das Jahr 1997 vertagt. Dies geschah, obwohl der Ausgang der russischen Wahlen von vielen Faktoren, am wenigsten jedoch von der NATO-Osterweiterung, abhängt. Je mehr sich jedoch die Entscheidung, ob NATO-Osterweiterung Ja oder Nein, verzögert, um so mehr sinken die Chancen für die Schaffung einer europäischen Sicherheitsarchitektur im Sinne westlicher Vorstellungen. Das größte Dilemma der NATO dabei betrifft die Frage, was mit Rußland werden soll.

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I. Rußlands Wahlen

Auf einer Pressekonferenz vom 13. Oktober 1995 stellte der Berater des russischen Präsidenten für nationale Sicherheit, Jurij Baturin, zu Recht fest, daß die nationale Sicherheit der Russischen Föderation mehr von innen als von außen bedroht ist. Tatsächlich stellen die inneren Entwicklungen wie die wirtschaftliche und soziale Lage, das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie sowie der anhaltende Machtkampf zwischen alten und neuen Eliten, liberalen Reformern und konservativ-restaurativen Kräften, Westlern und Slawophilen ein erhebliches Bedrohungspotential für die Stabilität Rußlands dar. Indem die Gefahren von außen, wie z.B. die NATO-Osterweiterung, hochgespielt werden, wird eine keineswegs neue Methode praktiziert, um von Faktoren, die die nationale Sicherheit Rußlands von innen bedrohen, abzulenken.

Schon nach den letzten Wahlen vom Dezember 1993 wurde deutlich, daß sich Rußland für einen eigenen russischen Entwicklungsweg entschieden hat, nachdem das kurzzeitige Liebäugeln mit dem westlichen Entwicklungsmodell (liberale Demokratie und freie Marktwirtschaft) den Zerfallsprozeß von Staat und Gesellschaft eher beschleunigt hatte (vgl. Henrik Bischof, Rußland - Auf zum letzten Gefecht, Friedrich-Ebert-Stiftung, Studie zur Außenpolitik Nr. 61, Juni 1994). Es zeigte sich allzu offensichtlich, daß ein einfaches Kopieren westlicher Modelle und seiner Varianten, die in bestimmten historischen Situationen geboren wurden, in Rußland keinen Erfolg haben kann. Die Aneignung der gesellschaftlichen Prinzipien der pluralistischen Demokratie und der Regeln der Marktwirtschaft hängt im wesentlichen davon ab, in welchem Maße ein Land diese Prinzipien und Regeln schon vor der kommunistischen Machtergreifung in seine Kultur integriert hatte. Es ist daher davon auszugehen, daß die russische Zivilisation erst nach einer sehr langen Periode - wenn überhaupt - fähig sein wird, sich dem atlantisch-westeuropäischen Wertesystem anzupassen.

Die Entwicklung in Rußland verläuft zunehmend nach eigenen Gesetzen. Es ist eine Illusion zu glauben, daß der Westen diese Entwicklung in irgendeiner Weise entscheidend beeinflussen kann, z.B. indem er die warnenden und drohenden Stimmen aus Moskau in Sachen NATO-Osterweiterung für "bare Münze" nimmt in der Annahme, ein Verzicht auf die NATO-Osterweiterung, der faktisch einem russischen Vetorecht bei der westlichen Bündnispolitik gleichkommt, würde in Rußland die "Demokraten" stärken und die "Nationalisten" und "Reaktionäre" schwächen. Mit oder ohne NATO-Osterweiterung betreibt Rußland gegenüber dem Westen schon heute eine teilweise konfrontative Außenpolitik, sei es bei der Infragestellung von bestehenden Abrüstungsabkommen (KSE, START, ABM), sei es durch einseitige Parteinahme im Jugoslawien-Krieg oder eine teilweise autonom-autarke Wirtschaftspolitik. Das heißt: Rußlands Verhalten auf der internationalen Bühne unterliegt einer eigenen Gesetzmäßigkeit. Und diese ist, was die Tiefe der Sache angeht, nicht beeinflußbar. Das Liebäugeln mit dem Westen bedeutete niemals, daß die russische Gesellschaft zu irgendeinem Zeitpunkt bereit gewesen wäre, westliches Denken und Verhalten sowie westliche Formen der Demokratie bedingungslos zu übernehmen. Andererseits heißt dies wiederum auch nicht, daß ein Teil der russischen Intelligenz nicht versucht hätte - und noch heute versucht -, westliche Formen des Liberalismus zu übernehmen. Diese Kräfte unterlagen jedoch, wie die jüngsten Parlamentswahlen gezeigt haben, den hierarchischen und unterdrückerischen Machtstrukturen in Rußland, und sie werden diesen auch künftig nicht gewachsen sein. Die innere Stabilität Rußlands wurde und wird vor und nach den Parlamentswahlen vor allem bedroht durch die entstandenen Machtstrukturen.

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1. Die Machtstrukturen

Zwar ist die Behauptung, daß die liberale Demokratie für Rußland "von vornherein" fremd ist, unbewiesen, wahr ist jedoch, daß die liberale Demokratie in Rußland in der Praxis noch nie verwirklicht werden konnte. "Nur mit Spott kann unsere Macht seit 1991 als demokratisch bezeichnet werden, also als Macht des Volkes", schrieb Alex-ander Solschenizyn (FAZ, 23.7.1994, S. 23). Daß Rußland aus seiner autoritären Periode herausfindet und sich doch noch nachhaltig reformiert, ist heute nicht einmal als Möglichkeit zu erwägen. Die möglichen drei Alternativen für Rußland sind vielmehr: ein nationalistisch-faschistisches Regime, das den Kapitalismus akzeptiert, ein restauratives kommunistisches Regime, das den Kapitalismus verwirft, oder die Fortsetzung der Herrschaft der gegenwärtigen Machteliten mit oder ohne Boris Jelzin. Im Endergebnis handelt es sich bei allen drei Varianten um ein auf das Militär gestütztes konservativ-nationalistisches autoritäres Regime, das die Spielregeln der klassischen Demokratie mißachtet und die demokratischen Institutionen nur als Fassade beibehält. Die Frage ist nur, auf welcher ideologischen Grundlage ein solches Regime stehen wird. Methoden und Strukturen, die in Richtung einer eingeschränkten Willkürherrschaft weisen, entstanden bereits unter der Präsidentschaft Boris Jelzins und wurden kürzlich durch die Aufnahme Rußlands in den Europarat legitimiert. Eine westliche Politik, die Präsident Jelzin als Garant für eine demokratische Entwicklung stützt, obwohl seine Politik in die entgegengesetzte Richtung zielt, wirkt kontraproduktiv, denn damit läßt man ausgerechnet die zarten Anfänge einer demokratischen Opposition im Stich.

Der russische Politologe Prof. Fjodor Burlatskij klagte: Wie zu Zeiten der großen "Reformatoren" Chruschtschow und Gorbatschow könne es auch in der gegenwärtigen Periode des "späten Jelzinismus" keine Antwort auf die Hauptfrage geben, wohin Rußland letztendlich steuert (Nezavisimaja Gazeta, 17.2.1995, S. 3). Klar zu sein scheint vorerst, daß das demokratische Experiment in Rußland mißlungen ist und die Ära des einstigen Volkshelden Boris Jelzin sich ihrem Ende nähert. Präsident Jelzin, der im Machtkampf und in Konfliktsituationen anstelle von Kooperation und Kompromissen stets die Konfrontation wählt, scheiterte mit seinem Konfrontationskurs spätestens im Tschetschenien-Krieg. Während Jelzin im Westen noch immer als glühender Reformdemokrat und Garant für Stabilität gepriesen wird, verlor er gänzlich, worauf es eigentlich ankommt, nämlich das Vertrauen der russischen Bevölkerung. In Wirklichkeit handelte Boris Jelzin stets als ein "Machtapparatschik" und war nie ein Demokrat. Die Entschuldigungen für Jelzin in westlichen Medien nahmen geradezu groteske Züge an, als er im Januar 1996 auch den letzten liberalen Vorzeigereformer (Tschubais) aus dem exekutiven Machtapparat entfernte und der einzige wirkliche Demokrat Rußlands, Sergej Kowaljew, seine Arbeit als Menschenrechtler aufgeben mußte, nachdem Jelzin die Kommission für Menschenrechte aufgelöst hat. Schuld daran sei nicht Jelzin, sondern das neugewählte Parlament, hieß es in der Berichterstattung, obwohl das mehrheitlich oppositionelle neue Parlament (wie das alte) mangels Kompetenzen die Machtfülle des Präsidenten und damit auch seine "Reformpolitik" - sollte es ihm damit wirklich ernst sein -, gar nicht gefährden kann.

Das demokratische Experiment erlitt bereits im Herbst 1993 den ersten Rückschlag. Das, was im Westen als Verteidigung der Demokratie gepriesen wurde, nämlich die Auflösung und Beschießung des russischen Parlaments, erwies sich auch nach Jelzins eigenen Worten als Verfassungsbruch. Was Jelzins Demokratieverständnis angeht, so lassen sich die im Oktober 1993 in Moskau und im Tschetschenien-Krieg im Dezember 1994 eingesetzten Panzer vom Typ T-72 durchaus miteinander vereinbaren. Für den Pakt, den Jelzin zur Ausschaltung des Parlaments mit den Militärs schloß, zahlte er einen hohen Preis. Er wurde, wie der Tschetschenien-Krieg zeigt, "Gefangener" der Interessen russischer Militärs.

Die liberalen Reformer, in Rußland als "Demokraten" bezeichnet, die sich anfänglich in der "Bewegung Demokratisches Rußland" versammelten, im "Privatkrieg" mit Gorbatschow Jelzin unterstützten und ihn an die Macht brachten, befanden sich 1995 plötzlich in der Opposition, in Sachen Tschetschenien sogar in einer gemeinsamen Front mit ihrem Erzfeind, den Kommunisten. Die Präsidialmacht ist andererseits von den Kräfteverhältnissen im Parlament nahezu völlig unabhängig. Sie kann die verschiedenen Interessengruppen beliebig manipulieren. Der Regierung Jelzin fiel es im Sommer 1995 leicht, einem Mißtrauensvotum des Parlaments durch eine stillschweigende Zusammenarbeit mit Schirinowskijs Ultranationalisten und Schenkungsversprechen an die Agrarpartei zu entgehen. Auch im neuen Parlament erwiesen sich die Ultranationalisten Schirinowskijs als wertvolle Stütze für Jelzins Tschetschenien-Krieg. Die Kommunisten waren mit der Entfernung der liberalen Reformer aus der Regierung zufrieden und verzichteten darauf, gleich auf der ersten Duma-Sitzung die Vertrauensfrage zu stellen.

Rußland ist kein Rechtsstaat und bewegt sich auch nicht in Richtung Rechtsstaat. Die demokratischen Einrichtungen wurden geschaffen, um den Staat mit dem Attribut "demokratisch" versehen zu können. Die Macht des Staates, der alles darf, steht über dem Gesetz. Der Machtfülle des Präsidenten, der nicht einmal die Vorschriften seiner eigenen Verfassung beachtet, steht ein schwaches Parlament gegenüber. Nur mit Einschränkungen läßt sich das russische Regierungssystem als Präsidialdemokratie wie etwa in Frankreich und den USA bezeichnen, da die russische Verfassung eine wirksame Kontrolle der Exekutive durch die Legislative - ein Wahrzeichen funktionierender Demokratie - nicht zuläßt. Zwar nährte die Freisprechung der Putschisten vom August 1991 und der "Verteidiger" des Parlaments (Rutzkoj, Chasbulatow u.a.) den Glauben an die Unabhängigkeit der Justiz, schließlich waren es jedoch nicht die Putschisten, sondern Jelzin mit seinen Präsidentenkollegen aus Belarus und der Ukraine, die die Sowjetunion aufgelöst hatten. Jelzin war es auch, der das Parlament im Oktober 1993 - nach der damals gültigen Verfassung gesetzeswidrig - auflöste. Erst heute wird jedoch allmählich klar, daß Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit in Rußland relative Begriffe sind. Präsident Jelzin war seither derjenige, der mit seinen Verordnungen am häufigsten gegen die Vorschriften der von ihm entworfenen neuen Verfassung verstieß, so z.B. mit dem Dekret zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens vom Sommer 1994. Ohnehin verfügt Präsident Jelzin aufgrund des Verfassungsreferendums vom Dezember 1993 nur über eine sehr begrenzte Legitimation. Da der Verfassung kaum mehr als 40% der stimmberechtigten Bevölkerung zustimmten, wird heute sogar die Legitimität der Verfassung selber in Frage gestellt.

Daß Rußland kein Rechtsstaat ist, liegt nicht zuletzt auch am Fehlen eines Rechtsbewußtseins seitens der Machthaber. Verstöße gegen die Menschenrechte, Willkür, Einschüchterung, Folter, Mißbrauch der Amtsgewalt und Korruption sind an der Tagesordnung. Die Gerichte sind von den Mächtigen abhängig. Die Zivilbevölkerung muß heute vor der Brutalität der Polizei mehr Angst haben als vor Kriminalität (vgl. hierzu den Bericht in: Izvestija, 1.9.95, S. 3). Die Wiedervereinigung der Geheimdienste am 5. April 1995 und ihre Ausstattung mit Sonderrechten verstärkte die Tendenz zum Polizeistaat. Ohne einen richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Beschluß wurden z.B. in Moskauer Wohnungen - lediglich aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation - systematisch Hausdurchsuchungen durchgeführt. Der durch Medien bekanntgewordene Fall der am 16. Oktober 1994 verhafteten Dichterin Alina Wituchnowskaja läßt nur ahnen, wieviele Menschen in Rußland gesetzeswidrig unter katastrophalen Haftbedingungen in Gefängnissen sitzen und jahrelang auf ihren Prozeß warten (vgl. Süddeutsche Zeitung, 19.10.95, S. 3).

Ob Jelzin, die demokratischen Regeln mißachtend, in Rußland herrscht oder seine wirkliche Macht bereits verloren hat und "Gefangener" von starken Männern des Machtapparates geworden ist, bleibt eine akademische Frage. Fest steht, daß Boris Jelzin vor wichtigen Entscheidungen nicht die Vertreter der Regierung Tschernomyrdins und des Parlaments konsultiert, sondern die ihm direkt unterstellten Chefs der sog. "Macht"-Organisationen, darunter Sicherheitsdienstchef Michail Barssukow, Verteidigungsminister Pawel Gratschow, Innenminister Anatolij Kulikow, Sicherheitsratssekretär Oleg Lobow und den Chef des Sicherheitsdienstes des Präsidenten, Alexander Korschakow. Zur "Kriegspartei" zählen auch die stellvertretenden Ministerpräsidenten, (bis Januar 1996) Ex-Reformer Sergej Schahraj und der den Militär-Industrie-Komplex vertretende Oleg Schoskowez. Der Sicherheitsrat, der quasi die Rolle des alten sowjetischen Politbüros spielt, entschied nicht nur über die Invasion in Tschetschenien, er versuchte auch, die Wirtschaft zu kontrollieren. Dies kam durch die oft widersprüchlichen Dekrete Jelzins zur Wirtschaftsregulierung deutlich zum Ausdruck. Die Machtverhältnisse zwischen Cliquen und Personen sind jedoch noch weitgehend ungeklärt. Dies zeigten u.a. die "Schlacht" zwischen Präsidenten-Leibgarde, Sonderpolizei (OMON) und Spionageabwehr am 2. Dezember 1994 in der Moskauer Most-Bank sowie der Versuch von Ministerpräsident Tschernomyrdin, der als Hauptfigur der Energie-Lobby objektive Wirtschaftsinteressen vertritt, den Tschetschenien-Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen.

Die Machtverschiebungen zuungunsten der liberalen Reformer im Präsidialapparat zeigten sich im nachlassenden Einfluß des inzwischen entlassenen Leiters der Präsidialverwaltung, Sergej Filatow, sowie im Ausscheiden von Sergej Aleksejew, Sergej Kowaljew, Jegor Gajdar und Otto Lazis aus dem Präsidialrat. Die Berater des Präsidenten der ersten Stunde wie die Akademiker Jurij Baturin (für nationale Sicherheit) oder Georgij Satarow (für Parlamentsarbeit) werden bei wichtigen Entscheidungen kaum mehr herangezogen. An ihre Stelle traten politische Hardliner wie der Kosake Nikolaj Jegorow (für Nationalitäten), der inzwischen zum neuen Chef der Präsidialverwaltung aufstieg. Ähnlich wie im Präsidialapparat entwickelten sich die Dinge im Regierungsapparat. Mit dem Rücktritt des 1. stellvertretenden Ministerpräsidenten Anatolij Tschubais verschwand auch der letzte liberale Reformer aus der Exekutive.

Die Legislative basiert nicht auf einem funktionierenden Parteiensystem, sondern einer festgefügten Nomenklatura aus alten und neuen Eliten, deren Vertreter im Zentralparlament und den regionalen Parlamenten - mit Privilegien und Pfründen korrumpiert - von der Macht abhängig sind. In der Exekutive spielen die von der Sowjetherrschaft übernommenen und nicht reformierten Machtapparate - Armee, Sicherheitsdienst, Regierungs- und Verwaltungsbürokratie - die bestimmende Rolle. Der neuformierten Nomenklatura der alten Staats- und Wirtschaftsfunktionäre gelang es, ihren Einfluß durch Besitzmehrung aufrechtzuerhalten, Reformversuche zu verhindern oder zu verschleppen. Die Zahl der Ministerien und Staatskomitees (73) ist kaum geringer als in der Ex-UdSSR. Die Zahl der Verwaltungsbeamten pro 100.000 Einwohner ist anderthalbmal größer als zur Sowjetzeit (vgl. Trud, 21.7.95, S. 6). Der weder vom Parlament noch vom Verfassungsgericht kontrollierte Präsident regiert mit seinem Präsidialapparat (mehr als 2.000 ständige Mitarbeiter) parallel und über den Regierungsapparat hinweg.

Dabei versucht die zentrale Macht nicht nur die Wirtschaft zu kontrollieren, sondern auch die Zensur der Medien zu restaurieren. Zwar tragen vom Staat unabhängige Zeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehsender zur Stärkung des demokratischen Experiments, zumindest zur Meinungsfreiheit, bei, ohne daß jedoch die freie Presse zu einem Bestandteil der russischen Nationalkultur geworden wäre. Und die Eingriffe der Staatsmacht in die Medienpolitik nehmen zu. So wurden im öffentlichen Fernsehen (ORT) bereits Sendungen gestrichen, die der Staatsmacht mißfielen, darunter das politische Magazin "Versionen" oder die Sendung mit Alexander Solschenizyn. Dagegen lief das Programm des Ultranationalisten Alexander Njewsorow ("Dikoje Pole") unverändert weiter. Sein Dokumentarfilm über Tschetschenien ("Die Hölle"), im ORT am 11. Januar 1995 gesendet, wurde als "brutale Reichskriegspropaganda" kritisiert. 1994 und 1995 wurden in Rußland jeweils 15 Anti-Korruptions-Journalisten umgebracht. Im Westen wurde nur die Ermordung des Journalisten Dmitrij Cholodow (Moskovskij Komsomolec) im Oktober 1994 bekannt, der dem stellvertretenden Verteidigungsminister, General Matwej Burlakow, Korruption nachwies. Mit seinem stellvertretenden Chefredakteur, der Verteidigungsminister Gratschow Korruption vorwarf, ging man ein Jahr später glimpflicher um: Er wurde von einem Gericht wegen Beleidigung Gratschows zu einem Jahr Zwangsarbeit verurteilt.

Das russische Militär nimmt in den entstandenen Machtstrukturen eine besondere Stellung ein. Es ist zwar leicht beeinflußbar, gleichzeitig ist jedoch nicht auszuschließen, daß die Armee eines Tages ihr eigenes Schicksal sowie das des Landes in die Hände nehmen wird. Die Etablierung einer Militärdiktatur setzt jedoch eine starke und disziplinierte Armee voraus. Die - auf dem Papier - 2,9 Mill. Soldaten zählende russische Armee ist jedoch durch den Mangel an Ersatzteilen, Unterkunft und Lebensmitteln desorganisiert und durch Korruption und Diebstähle demoralisiert. Eine demokratische Reform des Militärs - wie z.B. die Trennung des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs der Armee sowie die Ernennung eines zivilen Verteidigungsministers - ist nicht in Sicht. Die enorm hohen Militärausgaben verschlingen 10% des Bruttoinlandproduktes (Süddeutsche Zeitung, 11.10.95, S. 8). Den Hauptanteil der Aufwendungen aus dem Staatshaushalt erhalten die in Moskau und Umgebung stationierten Elite-Divisionen sowie Gratschows Lieblingskinder, die Fallschirmjäger. Im Verhältnis zur Anzahl der Soldaten gibt es in Rußland mehr Generäle (rund 2.500) als in jedem beliebigen lateinamerikanischen Land. Sie beschäftigen sich - wie ihre Kollegen in Lateinamerika - weniger mit der Kriegskunst als vielmehr mit Politik. Am Vorabend der Parlamentswahlen tobte ein heftiger politischer Kampf um die Gunst der Armee. Jedermann war klar, daß in Rußland derjenige die Macht besitzen wird, dem die Armee gehorcht. Auf der Seite der bisherigen Macht mobilisierte Verteidigungsminister Gratschow seine Armee, um mit seinen Kandidaten das Parlament - nicht wie im Oktober 1993 mit Waffen, sondern durch Wahlen - einzunehmen und dort eine Armeefraktion zu bilden. (Von 118 Offizieren gewannen jedoch nur drei ein Direktmandat.) Auf der anderen Seite stellten sich Politiker-Generale wie Alexander Lebed als Kandidaten der Oppositionsparteien zur Wahl. Lebed galt angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage des Landes für nicht wenige als geeignet, die Rolle eines russischen "Pinochet" zu erfüllen.

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2. Die wirtschaftliche und soziale Lage

Einige Wirtschaftsdaten Rußlands werden sich für das Jahr 1995 verbessern. Das Bruttoinlandprodukt wird sich voraussichtlich nicht mehr um 15% wie 1994, sondern nur noch um 4% verringern. Die monatliche Inflationsrate ging von 18% im Januar 1995 auf 4,5% Anfang 1996 zurück. Hierauf stützte sich der Zweckoptimismus der Regierung Tschernomyrdin vor den Duma-Wahlen im Dezember 1995: Es ginge nicht mehr um das nackte Überleben, vielmehr würden die Gesetze des Marktes in der russischen Wirtschaft zu greifen beginnen. Die Wirklichkeit zeigt jedoch ein anderes Bild. Die Veränderungen sind der Ausdruck eines ungebremsten und politisch-gesellschaftlich unkontrollierten Frühkapitalismus, gekennzeichnet durch Spekulation, Wirtschaftskriminalität, Ausnutzung der Rechtsunsicherheit und der Lücken in der Wirtschaftsregulierung sowie Vernetzung mit der Unterwelt. Aufgrund dieser Entwicklung setzt die Mehrzahl der russischen Durchschnittsbürger den Kapitalismus, mit dem sie hohe Illusionen verbunden hatten, heute mit Kriminalität und Spekulation gleich.

Tatsächlich ist das organisierte Verbrechen - Erpressung, Bestechung und Auftragsmord - in der russischen Wirtschaft und Politik allgegenwärtig. 1993 wurden 22 Bankiers und 94 Geschäftsleute sowie 1994 weitere 47 Geschäftsleute Opfer von bestellten Morden durch Mafia-Gruppen. 1995 wurden bereits rund 2.500 Auftragsmorde verübt. Die bekanntesten Opfer des Jahres 1995: der in der Krassnojarsker Aluminiumindustrie involvierte Geschäftemacher Felix Lwow, der Direktor der "Jugorskij"-Bank, Oleg Kantor, der Direktor der "Rosbusiness"-Bank, Iwan Kiwelidi, der Direktor der "Lesprombank", Pawel Ratoni, der Präsident der Fischereigesellschaft "Primorrybprom" in Wladiwostok, Andrej Sacharenko, der Vorsitzende der Ostseeschiffahrtslinie in St. Petersburg, Iwan Ljusinskij, der Generaldirektor der Fernsehanstalt ORT, Wladislaw Lisstew, der Duma-Abgeordnete Sergej Markidonow und der Duma-Abgeordnete und Wodka-Hersteller Sergej Skorotschkin. Hinzu kam ein Anschlag auf den Präsidenten der Mosstrojbank, Michail Schurawlew. Der Auftragsmord hat sich zu einem florierenden "Industriezweig" entwickelt. Das Eindringen der Kriminalität in die Politik sowie den Regierungs- und Verwaltungsapparat dokumentieren Fälle wie der des Duma-Abgeordneten und Chefs der undurchsichtigen Investitionsfirma MMM, Sergej Mawrodi, die Zypern-Connection des Vorsitzenden der Interregionalen Handelsbank (MICB), des Entertainers und "Politikberaters" Iosif Kobzon sowie die Verbindungen eines fernöstlichen Mafia-Bosses (Chabarowsk) zum Außenministerium (vgl. Izvestija, 28.9.95, S. 5), des Generalstaatsanwalts Iljuschenko zu "Balcar Trading" (vgl. Kommersant-Daily, 26.9.95, S. 14) oder des ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten Oleg Schoskowez zur Firma Wlastilina in Podolsk (vgl. Argumenty i Fakty, Nr. 38/95, S. 5), ferner die Rolle, die der erste stellvertretende Ministerpräsident Wladimir Schumejko beim Verkauf der Tabakfabrik Krasnodar an Phillip Morris spielte (vgl. Komsomolskaja Pravda, 29.9.95, S. 5)

Erst vor diesem Hintergrund ist die Gesamtlage der russischen Wirtschaft zu verstehen. Die Industrieproduktion Rußlands ging im Vergleich zu 1990 um die Hälfte zurück. Nicht wenige Vertreter der russischen Intelligenz befürchten heute ernsthaft, daß der Westen, nachdem er die Stärke des sowjetischen Nuklearpotentials brach, nunmehr das riesige russische industrielle und wissenschaftlich-technische Potential unbedeutend machen und das Land zum kolonialen Rohstofflieferanten degradieren will. Aus ihrer Sicht verlor die auf dem Weltmarkt ohnehin wettbewerbsunfähige russische Verarbeitungsindustrie aufgrund des übertrieben liberalisierten Imports auch im Inlandmarkt ihre Positionen. Die knapp 20 konvertierten Rüstungsbetriebe sind wegen des Importwettbewerbs nicht in der Lage, ihre Zivilprodukte abzusetzen. Im Falle einer WTO-Mitgliedschaft würde die russische Industrie mit Ausnahme einiger Zweige (Erdöl-, Gas-, Holz- und Aluminiumindustrie sowie Rüstungstechnik) nicht überleben. Die Eingriffe des Staates haben mit einer konzeptionellen Struktur- und Industriepolitik wenig zu tun. Die russische Regierung vertritt zwar monetaristische Prinzipien, in der Praxis ist sie jedoch nicht in der Lage, die Subventionierung der Produktion einzustellen. Sie gewährt den nicht lebensfähigen Betrieben nach wie vor günstige Staatskredite. Dabei spielen nicht die ökonomische Rationalität, sondern die informellen Beziehungen die Hauptrolle. Die Betriebe nutzen diese Vergünstigungen meist zur Valutaspekulation oder anderen finanziellen Manövern. Die Betriebsdirektoren mehren dadurch ihre Privatkonten im Ausland. Aus historischer Sicht erfolgte die Modernisierung sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion stets von oben. Der Staat spielte die Hauptrolle. Der russische Staat von heute brach in seiner Agonie mit diesen Traditionen und überließ die Aufgabe der Modernisierung spontanen Prozessen.

Der ungeregelte Import aus dem Westen und das Fehlen eines Marktschutzes gefährden nicht nur die russische Industrie, sondern auch die Landwirtschaft. Der Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion hat sich seit 1993 beschleunigt. Die Getreideernte erreichte 1995 mit 66 Mill. t. im Vergleich zu 83 Mill. t. 1994 einen Tiefpunkt. Die Agrarindustrie-Investitionen haben sich gleichzeitig um die Hälfte verringert. Die Eigentumsverhältnisse sind nach wie vor ungeregelt. Während in China die Agrarreform den Grundstein für den raschen wirtschaftlichen Aufschwung gelegt hat, ist in Rußland eine brennend notwendige Reform der Landwirtschaft nicht in Sicht.

Die am 30. Juni 1994 abgeschlossene erste Phase der Privatisierung wurde zwar sowohl von der russischen Regierung als auch von westlichen Beobachtern als Erfolg dargestellt. Die entscheidende Frage ist jedoch, nach welchen Kriterien sie als Erfolg anzusehen ist. In bezug auf eine Bereinigung der Eigentumsverhältnisse war die Privatisierung kein Erfolg. Die praktizierten Privatisierungsmethoden begünstigten eindeutig die Betriebsdirektoren, die ihre faktische Macht durch die erworbenen Eigentumsrechte (Vouchers) ausgebaut und die Betriebskollektive dabei auf vielfältige Weise manipuliert haben. Nun sollen diese alten/neuen Eigentümer die für die russische Wirtschaft verantwortlichen Wirtschaftsträger darstellen. Zwar wird die andere Hälfte des russischen Staatseigentums erst in einer zweiten Phase privatisiert. Doch ist davon auszugehen, daß die Betriebsdirektoren der ersten Privatisierungsphase die Zeit bis dahin nicht zur erfolgreichen Unternehmenstätigkeit, sondern zur Stärkung ihrer Machtpositionen und zur eigenen Bereicherung nutzen werden.

Auch in bezug auf die Staatseinnahmen kann die bisherige Privatisierung nicht als Erfolg verbucht werden. Es spricht für sich, daß die Riesenunternehmen Rußlands (Gasprom, Nickel Norilsk, Ölunternehmen Orenburg u.a.) erst am letzten Tag (30.6.94) der ersten Privatisierungsphase zur Veräußerung kamen. Dabei übertraf das Kapitalangebot die Nachfrage in einem Ausmaß, das dem Staat zigtausend Milliarden Rubel Einnahmensverluste brachte. So gesehen hat die bisherige Privatisierung lediglich die neuentstandene wirtschaftliche Machtstruktur legalisiert. Die Kritik aus der Bevölkerung liegt nicht weit von der Wahrheit entfernt, wenn sie meint, die Regierungsmacht habe zunächst ihre Ersparnisse (durch die Preisfreigabe am 1.1.92) und jetzt ihr Eigentum genommen. Da die russische Wirtschaft weitgehend unorganisiert ist, sind kriminelle Machenschaften in Zusammenhang mit der Privatisierung Tür und Tor geöffnet. Nicht wenigen Betriebsdirektoren gelang es dabei, zu einem riesigen Privatvermögen zu kommen.

Der desolate Zustand der russischen Wirtschaft zeigt sich am deutlichsten im Staatshaushalt. Die schwache Finanzlage der Unternehmen, die fehlenden Steuerzahlungen, die zahlreichen örtlichen Abgaben sowie die unübersichtlichen und häufig widersprüchlichen Verordnungen machen das Umfeld für Wirtschaft und Wirtschaftspolitiker unberechenbar. Der größte Schuldner ist der Staat, der nicht in der Lage ist, seine Rüstungsaufträge oder landwirtschaftlichen Aufkäufe sowie die Löhne und Gehälter für Beamte, Angestellte und Arbeiter in Staatsunternehmen zu bezahlen. Die potenten Steuerzahler retten ihre Einkünfte ins Ausland. Die Auslandsguthaben werden auf etwa 50 Mrd. Dollar geschätzt. Der Tschetschenien-Krieg, der wöchentlich 3.000 Mrd. Rubel kostet, erhöht die Staatsausgaben zusätzlich. Ob das Haushaltsdefizit 1995 bei den vorgesehenen 8,2% des Bruttoinlandproduktes gehalten werden kann, ist fraglich. Einerseits stieg der Finanzierungsbedarf, andererseits ist nicht mit den geplanten Einnahmen zu rechnen. Der finanzwirtschaftliche Stabilisierungskurs geht vor allem auf Kosten des Lebensstandards der Bevölkerung.

Die Einkommensbildung verschob sich von der Bevölkerun zugunsten des Business-Sektors, der, als privilegierte Klasse der "neuen Russen" in etwa 20 Elite-Klubs (Interaktion Reform Klub, VIP Klub, Susdal-Klub, Klub der Realisten, Rat für Außen- und Verteidigungspolitik u.a.) organisiert, Lobbyismus und politische Aktivität entfaltet. Die russische Geschäftswelt wünscht sich verständlicherweise innenpolitische Stabilität. Welcher Art diese Stabilität sein soll, war daraus abzulesen, welche Parteien im Wahlkampf von welchen Banken und Unternehmen unterstützt wurden.

Zu den fünf einflußreichsten Unternehmern zählen die Chefs der Most-Finanzgruppe, Gusinskij, der Stolitschnyj-Bank, Smolenskij, von Gasprom, Wjachirew, der Inkombank, Winogradow, und von Lukoil, Alekperow. Die fünf größten Unternehmen Rußlands sind: "JeES Rossii" (Elektrizität), Gasprom (Erdgas), Lukoil-Holding (Erdöl), AvtoVAZ (Kraftfahrzeuge) und Surgutneftegas (Erdöl). Einige von den mehr als 3.000 Banken spielen nicht nur auf den Kredit- und Devisenmärkten, sondern auch in der Gesamtwirtschaft Rußlands eine bestimmende Rolle. Doch haben die meisten Banken, auch die großen wie Inkombank oder Menatep, bereits Liquiditätsprobleme. Jede sechste Bank dürfte zahlungsunfähig sein. Auch der Bankensektor bleibt durch Steuerhinterziehung, Vergabe ungedeckter Kredite oder rechtswidrige Devisengeschäfte nicht von der Wirtschaftskriminalität verschont. Auf der anderen Seite nimmt der Einfluß der Banken auf den Staat und die Regierungspolitik - etwa durch die Schaffung von Finanz-Industrie-Gruppen (FPG) - kontinuierlich zu. Im Frühjahr 1995 zeigte sich z.B. ein Konsortium von neun russischen Banken bereit, die Anteile des Staates an wertvollen Großunternehmen zu übernehmen. Im Austausch bot das Konsortium der Regierung einen Kredit in Höhe von 9.000 Mrd. Rubel an.

Die Entwicklungstendenzen zeigen, daß eine Staatspolitik verwirklicht wird, die die Merkmale eines wilden Kapitalismus duldet und sogar unterstützt, jedoch nicht mehr in der Lage ist, die sozialen Dienstleistungen oder selbst die klassischen Funktionen des Staates zu erfüllen. Daß nicht alle Menschen Not leiden, ist vor allem auf die Schattenwirtschaft zurückzuführen, deren Anteil am offiziellen Bruttosozialprodukt bis zu 45% geschätzt wird. Ende 1995 waren 2,2 Mill. Menschen, 3% der arbeitsfähigen Bevölkerung von rund 70 Mill., offiziell als arbeitslos gemeldet. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit dürfte allerdings fünfmal höher liegen (nach ILO-Berechnung: ca. 13 Mill. = 17%). Mehr als die Hälfte der russischen Bevölkerung lebt in Armut, darunter etwa 42 Mill. Menschen (28% der Bevölkerung) unter der Armutsgrenze. Die durchschnittliche Lebenserwartung der russischen Männer ist heute 58, der Frauen 64 Jahre. Die Geburtenrate nimmt ab, die Sterberate nimmt zu. Die Zahl der Eheschließungen sinkt, die Zahl der Scheidungen steigt. Jährlich werden 3,5 Mill. Schwangerschaftsunterbrechungen registriert. Die Industrieproduktion ging zwar zurück, nicht aber der Grad der Umweltverschmutzung. Doch ist es der russischen Regierung schwer glaubhaft zu machen, daß Rußland durch seine sozialen Probleme viel größere Gefahren drohen als durch eine eventuelle NATO-Osterweiterung.

Zwar sind die Staatseinnahmen aus dem Außenhandel beträchtlich, doch ist das Außenhandelsvolumen im Vergleich zur Größe des Landes sehr gering. Die Struktur der russischen Exporte (Erdöl, Erdgas, NE-Metalle und Diamanten) ist seit Jahren unverändert. Nur der Handel mit den westlichen Industrieländern zeigt eine steigende Tendenz. Der größte Handelspartner ist Deutschland mit einem Anteil von 13% am russischen Gesamtaußenhandel 1994. Der Handelsumsatz Rußlands mit den Entwicklungsländern, den ehemaligen RGW-Staaten und den GUS-Staaten hat sich dagegen verringert.

Inzwischen hat zwar ein gewisser Rückfluß der von der alten/neuen Nomenklatura und der Mafia ins Ausland geretteten Milliarden eingesetzt, doch die erwarteten westlichen Auslandsinvestitionen sind weitgehend ausgeblieben. Die gewünschte Strukturveränderung in Rußland würde Auslandsinvestitionen in einer Größenordnung von 40-50 Mrd. Dollar erfordern. Ausländische Investoren legten 1994 nur 1,1 Mrd. Dollar an, die Hälfte davon im Energie- und Brennstoffsektor. Mehr als 15.000 Firmen mit ausländischem Kapital (Joint Ventures und 100%ige Auslandsgesellschaften) sind in Rußland registriert, von denen knapp 9.000 auch arbeiten. Die meisten dieser Firmen haben jedoch ein Stammkapital von weniger als 75.000 Dollar. Nur 4% von ihnen verfügen über ein Startkapital von mehr als 1 Mill. Dollar. Die größten Investitionen leisteten 1994 Joint Ventures aus den USA, Hongkong, Italien, der Schweiz, Kanada, Großbritannien, Spanien, der Türkei, Belgien und China. Ein bevorzugtes Tätigkeitsfeld des Auslandskapitals ist die russische Börse. Auf dem russischen Aktienmarkt waren bisher vor allem Investitionsfonds aus den USA und Großbritannien aktiv.

Ein ernstzunehmendes Problem für Rußlands Integration in die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit sind die russischen Auslandsschulden, die sich zum 1. Januar 1994 einschließlich der von der früheren UdSSR geerbten Schulden auf 112,78 Mrd. Dollar beliefen, darunter 34,82 Mrd. gegenüber dem Pariser Klub und 26,34 Mrd. gegenüber dem Londoner Klub. Bis Ende 1995 wird die Gesamtverschuldung Rußlands voraussichtlich 130,3 Mrd. Dollar betragen. Zur Zeit bemüht sich Rußland, eine Umschuldungsvereinbarung für die Schulden der ehemaligen UdSSR zu erreichen.

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3. Das Zentrum und die Regionen

Per Präsidentenerlaß vom 18. September 1995 ließ Boris Jelzin die Wahlen zu den regionalen Parlamenten in den 89 Subjekten der Russischen Föderation auf das Jahr 1997 verschieben. Ob hinter dieser Entscheidung die Überlegung steckt, in der Zwischenzeit die wachsende Macht der Regionen einzuschränken und das Moskauer Zentrum durch direkte Kontrolle der Regionen in Richtung Einheitsstaat zu stärken, bleibt abzuwarten. Fest steht, daß es im heutigen Rußland keinen echten Föderalismus gibt. Die Macht der Moskauer Zentrale reicht nicht bis in alle Regionen. Die russische Verfassung kann in der Realität nicht durchgesetzt werden. Konturen einer starken Zentripetalkraft bzw. einer vertikalen Struktur von der Basis zur Zentrale zeichnen sich nicht ab.

Besonderes Konfliktpotential zwischen Zentrum und Regionen bergen Wirtschaft und Finanzen. Viele Regionen weigern sich, Steuern für das Budget der Föderation abzuführen, denn sie sind mit - bis zu 35 verschiedenen - lokalen Steuern bereits voll ausgelastet. Die Gebiete (Oblast) wehren sich gegen die ungleiche Behandlung im Vergleich zu den Republiken der Föderation. Während die Gebiete mehr als 50% ihrer Steuereinnahmen an den Haushalt der Föderation abführen müssen, zahlt z.B. die Republik Baschkortostan nur 26% und die Republik Tatarstan gar nur 14%. Die Republik Sacha (Jakutien) zahlte 1994 keinen einzigen Rubel Steuern an die Zentrale. Eine neue Konfrontation zwischen Zentrum und Regionen bahnt sich in der zweiten Privatisierungsphase an, in der das Staatseigentum gegen Geld (und nicht gegen Vouchers wie in der ersten Phase) privatisiert wird. Streitpunkt ist die Verteilung der aus der Privatisierung erzielten Einnahmen. Erschwerend macht sich auch das Fehlen von Mechanismen zur Herausbildung überregionaler Institutionen bemerkbar.

Aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen erstreben die Regionen (49 Oblasti und sechs Kraji) ihre Umwandlung in Republiken und damit die Abschaffung der Asymmetrie innerhalb der Föderation. Als Moskau auf die Forderungen der Verwaltungsgebiete nach Gleichstellung mit den Republiken nicht reagierte, regte sich Widerstand. Vorreiter waren die lokalen Eliten des Gebiets Swerdlowsk unter Gouverneur Eduard Rossel, der im Sommer 1993 die Republik Ural ausrief. Zwar setzte Jelzin Rossel als Chef der Gebietsverwaltung ab, doch blieb sein Einfluß als Vorsitzender der Gebietsduma ungebrochen. Rossel setzte durch, daß der Gouverneur des Gebiets Swerdlowsk - quasi als "Ausnahmefall" - nicht mehr von Präsident Jelzin ernannt, sondern gewählt wird. Bei den Gouverneurswahlen vom 20. August 1995 wurde Rossel mit 60% der Wählerstimmen gewählt. Inzwischen wurde der "Ausnahmefall" zur Regel. Am 17. Dezember 1995 fanden in 13 weiteren Regionen Gouverneurswahlen statt.

Inzwischen ist Moskau kaum mehr in der Lage, die Zentralgewalt in den Regionen durchzusetzen. Der lokalen Nomenklatura (Verwaltungsbeamte, örtliche Wirtschaftsmanager und ehemalige Abgeordnete der Sowjets) ist es weitgehend gelungen, ihre Macht in den Regionen zu behaupten und auszubauen. Die lokalen Eliten bestimmen auch maßgeblich die Richtung der volkswirtschaftlichen Stabilisierung. Dort, wo es gelungen ist, durch Kompromisse zwischen den neuen liberalen und den alten konservativen Eliten (z.B. im Gebiet Nischnij Nowgorod) oder durch Homogenität der alten Nomenklatura (z.B. im Gebiet Uljanowsk) einheitliche korporative Interessen herzustellen, herrscht eine relativ stabile soziale Lage, und die Produktivität der Industrie liegt weit über dem Landesdurchschnitt, und zwar unabhängig vom Stand der Privatisierung. Im Gebiet Uljanowsk sind z.B. noch mehr als 90% der Industrie Staatseigentum, im Gebiet Nischnij Nowgorod wurde die Industrie bereits zu fast 65% privatisiert (vgl. Wostok, Nr. 6/95, S. 42/43).

Der Regionalismus als politischer Prozeß sowie der Einfluß der regionalen Eliten und ihrer Führer - wie von Boris Nemzow (Nischnij Nowgorod), Jurij Gorjatschew (Uljanowsk), Aman Tulejew (Kemerowo), Eduard Rossel (Swerdlowsk) u.a. - gewinnen an Bedeutung. Eduard Rossels Bewegung "Transformation des Ural" entwickelte sich zu einer Bewegung "Transformation des Vaterlandes", die ganz Rußland erfaßte. Ihre Stärke lag darin, daß sie nicht wie der Wahlblock des Zentrums ("Unser Haus ist Rußland" von Tschernomyrdin) von oben her geschaffen wurde, sondern an der Basis entstanden ist. Die erstarkte Position der lokalen Eliten zwang die Moskauer Zentralregierung zu weiteren Konzessionen. Sie war bereit - ähnlich wie mit den Republiken -, auch mit den Gebieten (Swerdlowsk, Kaliningrad) Abkommen über die Teilung der Vollmachten abzuschließen.

Solche Abkommen, durch die mehr Privilegien gewährt werden als in der Verfassung vorgesehen, hat die Moskauer Zentrale bereits mit sieben der 21 Republiken der Russischen Föderation geschlossen: mit Tatarstan, Baschkortostan, Kabardino-Balkarien, Nordossetien-Alanien, Sacha (Jakutien), Burjatien und Udmurtien. Die Republiken ringen der Zentralregierung immer mehr Zugeständnisse und damit mehr "Unabhängigkeit" ab. Die Republik Tschetschenien kämpft bereits um die De-jure-Abtrennung von der Russischen (Rußländischen) Föderation. Dies beweist, daß die Föderation eigentlich ein Vielvölkerstaat ist. Ihn in einen Nationalstaat umzuwandeln, um einem angeblichen Verlust der russischen Identität zu entgehen, bedeutet ethnische Konflikte, Krieg und Gewalt.

Krieg und Gewalt brachte z.B. der von Präsident Jelzin befohlene Einmarsch russischer Truppen am 11. Dezember 1994 in Tschetschenien. Weder Jelzin noch die Außenwelt störte es dabei, daß mit dem Einmarsch erneut ein Verfassungsbruch begangen wurde. Jelzins Verfassung sieht vor, daß die Armee nur außerhalb der russischen Grenzen eingesetzt werden darf. Auch der Einsatz von Truppen des Innenministeriums war verfassungswidrig, da dieser laut Verfassung erst nach Ausrufung des Ausnahmezustandes und der nachträglichen Billigung durch den Föderationsrat (Oberhaus) erfolgen darf.

Der Unabhängigkeitskampf der Tschetschenen führte zum ersten Großeinsatz der russischen Armee gegen russische Staatsbürger auf dem Territorium der Russischen Föderation. Die Bombardements der Zivilbevölkerung, Zerstörung, Verwüstung, Flüchtlings- und Internierungslager, Hinrichtungen und Folter blieben - auch ein Jahr nach der Invasion - erfolglos. In Tschetschenien hat Boris Jelzin mehr verloren als gewonnen. Statt Konfrontation hätte er den Tschetschenen - wie anderen Subjekten der Föderation - einen Sonderstatus anbieten sollen. Bereits um die Jahreswende 1992/93 war Tschetschenien bereit, sowohl dem Föderationsvertrag als auch der GUS beizutreten mit der Sonderregelung, daß die Bereiche Außen- und Außenwirtschaftspolitik sowie gemeinsame Verteidigung nach außen Moskau überlassen bleiben. Präsident Jelzin beharrte jedoch auf einer Position der Stärke und ging auf diese Kompromißlösung nicht ein (vgl. Henrik Bischof, Sturm über Tschetschenien. Rußlands Krieg im Kaukasus, Friedrich-Ebert-Stiftung, Studie zur Außenpolitik Nr. 65, Januar 1995, S. 7). Auch heute noch bietet der tschetschenische Präsident Dudajew Moskau eine Sonderregelung (Zehnjahresvertrag und GUS-Mitgliedschaft) an (Interview mit Dudajew in: Obscaja Gazeta, Moskau, Nr. 1, 11.-17.1.96). Moskaus Politik, die Führer der alten kommunistischen und moskauhörigen Nomenklatura (Chadschijew, Awturchanow, Sawgajew oder Chasbulatow) in Tschetschenien an die Macht zu bringen und durch eine Wahlfarce zu legitimieren, läßt sich nur im Rahmen eines Gewaltregimes durchsetzen.

Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang, daß es ein tschetschenischer Agraringenieur namens Schamil Bassajew war, der durch seine Geiselnahme-Aktion im Juni 1995 in der russischen Stadt Budennowsk bewirkte, daß die Popularität Präsident Jelzins in der russischen Bevölkerung nahezu auf den Nullpunkt sank. Jelzin bezeichnete Bassajew als einen "zynischen Terroristen". Als dieser allerdings zwei Jahre zuvor an der Spitze des sog. "abchasischen Bataillons" mit Unterstützung der russischen Armee und des Geheimdienstes in Abchasien gegen die Georgier gekämpft hatte, war er aus Moskauer Sicht kein Terrorist. Spektakuläre Geiselnahmeaktionen - so auch in Kisljar (Dagestan) - waren für die Tschetschenen ein Mittel, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf diesen Krieg zu lenken, den der Westen als innere Angelegenheit Rußlands betrachtete und stillschweigend hinnahm. Die westlichen Medien hatten zunächst lediglich die Kommuniqués des russischen Armeekommandos wiedergegeben. Nunmehr versammelten sich Vertreter von Fernsehstationen aus aller Welt in Pjerwomajskoje. Hätte Präsident Jelzin den Abzug der Geiselnehmer - wie zwischen der dagestanischen Regierung und den Geiselnehmern bereits vereinbart - nach Tschetschenien erlaubt, so wären die Geiseln unversehrt freigelassen und das Dorf Pjerwomajskoje von Zerstörung verschont worden. Die darauffolgende Kaperung eines türkischen Schiffes im Schwarzen Meer war ein erster Schritt zur Internationalisierung dieses Kaukasus-Krieges.

Trotz des Waffenstillstandes vom Sommer 1995 bombardierten russische Truppen weiterhin tschetschenische Siedlungen, so z.B. am 15. Oktober 1995 das Dorf Roschni-Tschu. Die Bombardements, die zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten, wurden von Moskau geleugnet, von der OSZE-Mission, die das Dorf besichtigte, jedoch bestätigt. Der Leiter der OSZE-Vertretung in Tschetschenien, Sandor Meszaros, wurde daraufhin auf dem Weg von Roschni-Tschu nach Grosnij Opfer eines "Autounfalls" und mußte das Land verlassen. Die Bewegungsfreiheit der OSZE-Vertreter wurde durch russische Sicherheitskräfte eingeschränkt. Die Gründe, weshalb die OSZE-Mission unmittelbar vor der Wahlveranstaltung am 13. Dezember 1995 plötzlich Tschetschenien verließ, blieben ebenso unklar wie ihre Rückkehr nach Grosnij im Januar 1996. Fest steht, daß ihre Arbeit mehr oder minder vom "Wohlwollen" Moskaus abhängig ist. Ihr einziger und bescheidener Auftrag besteht nunmehr in der "Markierung" der Präsenz der OSZE in Tschetschenien (NZZ, 11.1.96, S. 3).

Der Krieg in Tschetschenien ist auch ein Krieg um das Öl. Aus der milden Reaktion des Westens auf das Blutvergießen folgerte Moskau, daß die laschen westlichen Proteste nur pro forma aus innenpolitischen Gründen erfolgten. Als nächster Schritt liegt für Moskau die Schlußfolgerung nahe, daß die westliche Reaktion ebenso milde ausfallen würde, wenn durch Ausrufung des Ausnahmezustandes auf dem ganzen Gebiet der Russischen Föderation die Menschenrechte und die Pressefreiheit eingeschränkt würden.

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4. Die Außen- und Sicherheitspolitik

Zwar hat der Tschetschenien-Krieg nicht zur Isolierung Rußlands von der Außenwelt geführt, doch allein die Tendenzen zur Isolierung waren schon vor den Parlamentswahlen Anlaß genug zur Besorgnis. Es wird immer schwieriger, eine Sicherheitskonstruktion zu finden, in der sich auch Rußland wohlfühlt oder zumindest seinen gebührenden Platz findet. Kürzlich erschienen in der russischen Presse "Konzeptionelle Thesen" einer russischen Strategie des Widerstandes gegen äußere Bedrohungen der nationalen Sicherheit Rußlands, d.h. gegen die NATO und die USA (Segodnja, 20.10.95), die zwar keine tatsächliche Bedrohung seitens des Westens, doch das Gefühl der Bedrohung vermitteln. Rußland läßt sich dabei als globale eurasische Macht nach wie vor nur an den USA messen. Das Dilemma ist: Rußland ist mit den USA nicht mehr zu vergleichen, weil es den dafür erforderlichen geostrategischen Raum verloren hat. Trotzdem herrscht in Moskau weiter das zweipolige Denken vor, das die Anerkennung als Großmacht fordert. Die eurasische Idee nimmt im außenpolitischen Denken Rußlands in dem Maße zu, in dem die Westorientierung abnimmt (vgl. NZZ, 9.12.95, S. 39). Die gängige Meinung ist heute in Moskau: Es ist an der Zeit, unseren Großmachtanspruch anzumelden. Da der Westen uns als fortschrittlicher und technologisch entwickelter Partner nicht braucht, sind für uns liberal-demokratische und ähnliche Modelle nutzlos. Von den Instrumenten zur Durchsetzung von Großmachtinteressen steht Rußland nur die militärische Macht zur Verfügung. Sie in der heutigen Welt einzusetzen, ist am schwierigsten und bleibt daher relativ. Die unüberbrückbare Lücke zwischen der Realität einer nichthandlungsfähigen nationalen Macht und dem Mythos einer großrussischen Weltmacht vermittelt das Gefühl der Bedrohung, das die russische Außen- und Sicherheitspolitik psychologisch nicht zu verarbeiten vermag.

In dieses Bild paßte die Demontage des anpassungsfähigen russischen Außenministers Andrej Kosyrew am Vorabend der Parlamentswahlen, der anfänglich mit einer proamerikanischen Politik zur Wiedererlangung der Großmachtposition Moskaus beitragen sollte, auf dem Balkan jedoch eine empfindliche diplomatische Niederlage hinnehmen mußte. In Wirklichkeit hatte Kosyrew bereits in den letzten beiden Jahren keine prowestliche Politik mehr betrieben, sondern einen Kurs im Zeichen des imperialen Denkens und des Großrussentums verfolgt. Bereits im April 1995 hatte er erklärt, daß Moskau bereit sei, die 25 Mill. Russen außerhalb der Grenzen Rußlands mit Hilfe der Armee zu verteidigen (Diplomaticeskij Vestnik, Nr. 5/95, S. 56). Trotzdem forderte das Mitglied des Präsidialrates, Sergej Karaganow, für den Bosnien, Iran oder die Anzahl russischer Panzer im Kaukasus im Verhältnis zum Westen "zweitrangige Fragen" sind, offen den Rücktritt von Kosyrew: "Der Abgang Kosyrews schafft die Möglichkeit, eine gesündere Beziehung zum Westen herzustellen" (Nepszabadsag, 21.11.95, S. 7). Daß Außenminister Kosyrew in Ungnade fiel, markiert den Beginn einer neuen Ära in der Außenpolitik. Dabei fällt auf, daß Moskau direkt die Freundschaft zu Ländern suchte, die für Washington als "Feinde" gelten (Irak, Iran, Libyen, Sudan, Serbien, Nordkorea, Kuba). Während Kosyrew im Westen zum Symbol für Zusammenarbeit wurde, lastete man ihm in Rußland prinzipienloses Einlenken und außenpolitische Niederlagen an. Vergeblich versuchte er seit 1994, dieses Bild zu korrigieren. Neuer Außenminister wurde der bisherige Chef des Auslandsaufklärungsdienstes, Jewgenij Primakow, der als entschiedener Gegner der NATO-Osterweiterung gilt. Mit seiner weit geringeren Kompromiß- und Anpassungsbereitschaft garantiert er eher als Kosyrew die Durchsetzung einer neuen russischen Außenpolitik. Von Primakow wird die Lösung der unlösbaren Aufgabe erwartet, Weltmachtpolitik zu betreiben, ohne über die dazu notwendigen Mittel zu verfügen.

Moskau hat sich für eine globale Großmachtpolitik entschieden, ohne dabei die wirtschaftlichen Realitäten zu berücksichtigen. Im Krieg in Jugoslawien stellte sich Rußland auf die Seite von Belgrad und der Serben. Doch waren es letztendlich die USA, die ab September 1995 durch ihre diplomatische Offensive und aufgrund ihrer Militärmacht das "Endspiel" in diesem Krieg monopolisierten. Moskau mußte im Bosnien-Konflikt und damit auch in der internationalen Politik einen empfindlichen Machtverlust hinnehmen. Allerdings kann Rußland indirekt auch Nutznießer des Bosnien-Friedensabkommens werden, das in gewissem Sinne die Folgen der ethnischen Säuberungen legalisiert und den bosnischen Staatsfragmenten ermöglicht, zu ihren ethnischen Mutterländern (Kroatien, Serbien) besondere Beziehungen herzustellen. Dieses mißglückte Bosnien-Modell eignet sich in besonderer Weise dafür, Russen, die im Baltikum, in Transnistrien und der Ukraine leben, zu ermutigen, zum Mutterland Rußland ebenfalls "besondere" Beziehungen herzustellen. Dabei dürfte neben der eurasischen auch die slawische Idee als Komponente russischer Außenpolitik eine Neubelebung erfahren mit dem Kerngedanken, Rußland mit Belarus und der Ukraine zu vereinigen, wobei notfalls eine Abspaltung der Westukraine in Kauf genommen würde (vgl. Rossija, Nr.24/95, S. 5).

Eine weitere Folge der diplomatischen Niederlage Moskaus im Jugoslawien-Krieg ist der Versuch Rußlands, das Abkommen der GUS-Staaten über die kollektive Sicherheit zu aktivieren. Ob und wie lange die GUS-Staaten einer solchen Einbindung widerstehen können, bleibt abzuwarten. Erleichtert wurde das russische Vorgehen bereits 1992/93 durch den damals besonders von Strobe Talbott im US-Außenministerium vertretenen "Russozentrismus", der Rußland eine besondere "friedenserhaltende" Rolle auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR (mit Ausnahme des Baltikums) zubilligte und legitime russische Interessen in Mittelosteuropa erkannte. Folglich gelang es Moskau inzwischen, UNO und OSZE zur Förderung seiner eigenen Interessen auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR zu instrumentalisieren, "Friedenstruppen" (Abchasien, Südossetien, Tadschikistan) einzusetzen und neue Militärstützpunkte (Armenien, Georgien) einzurichten. Der Vormachtstellung Moskaus im "nahen Ausland" wurde auch durch die Vereinbarungen über Erdöltransport aus Aserbaidschan Genüge getan.

Als Rechtsnachfolger der überrüsteten UdSSR ist Rußland heute in mehreren lokalen Konflikten und Kriegen (Tschetschenien, Transnistrien, Abchasien, Süsossetien, Nordossetien-Inguschetien, Armenien-Aserbaidschan und Karabach sowie Tadschikistan) involviert. Es bleibt zu hoffen, daß Moskau nicht die Lust verspürt, noch mehr Konflikte militärisch zu "befrieden". Aus dem militärischen Engagement und dem Großmachtanspruch Moskaus folgt die Infragestellung von internationalen Abrüstungsvereinbarungen (KSE, START, ABM). Im Mittelpunkt steht dabei die Forderung Moskaus, das Abkommen über die konventionelle Abrüstung in Europa (KSE/CFE) von 1990, das 1992 in Kraft trat, in bezug auf die Nord- und Südflanke Rußlands zu revidieren. Die Nordflanke Rußlands stellt für die baltischen Staaten, Finnland, Norwegen und Polen ein Bedrohungspotential dar. In der Südflanke ist der KSE-Vertrag durch den Tschetschenien-Krieg und die Stationierung der 58. Armee in Wladikawkas (Nordossetien) bereits gebrochen. Es ist daher anzunehmen, daß Moskau die im KSE-Vertrag vorgesehenen Flankenbeschränkungen auch dann nicht akzeptieren wird, wenn die NATO auf eine Osterweiterung verzichtet. Damit bliebe die konkreteste Abrüstungsvereinbarung in der Geschichte der Menschheit Makulatur.

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5. Die Parlamentswahlen

Vor dem oben geschilderten Hintergrund der Machtstrukturen, der wirtschaftlichen und sozialen Lage, des Verhältnisses Zentrum - Regionen sowie der Außen- und Sicherheitspolitik der Russischen Föderation brachten die Wahlen für die VI. Staatsduma am 17. Dezember 1995 keine Überraschung. Vielmehr bestätigten die Wahlergebnisse die Eigengesetzlichkeit und Unbeeinflußbarkeit des eigenen Entwicklungsweges der rußländischen Zivilisation, der sich von westlichen Modellen (Demokratie und Marktwirtschaft) eher entfernt.

Daß diese Wahlen - ausgenommen in Tschetschenien - erstmals in einem friedlichen und legalen Rahmen stattfanden, daß nicht geschossen wurde wie im Herbst 1993, war das einzige demokratische Ergebnis. Die OSZE, deren 114 Beobachter am Wahltag von rund 100.000 Wahlurnen gerade 400 (in Moskau, St. Petersburg, Nischnij Nowgorod, Nowosibirsk, Smolensk, Twer und Woronesch) besichtigten, bescheinigte zwar, daß die Wahlen "ehrlich, frei und gerecht" verliefen (OSZE-Presseerklärung vom 18.12.95), doch woher die OSZE diese Gewißheit nahm, ist unergründlich. Es steht außer Zweifel, daß die Wahlen zumindest in Tschetschenien auf eine Farce mit vielfachem Betrug hinausliefen. Und allgemein ist anzumerken, daß bereits bei den Wahlen vom Dezember 1993 massiver Wahlbetrug betrieben wurde. Das neue Wahlgesetz (Text in: Rossijskaja Gazeta, 28.6.95, S. 3-7) ermöglichte im Prinzip auch diesmal eine vielfältige Manipulation, zumal die Endauszählung der Stimmen mit einem vom Geheimdienst entwickelten und kontrollierten zentralen Computer-System (Wybory) durchgeführt wurde.

An den Wahlen für die Staatsduma (Unterhaus) beteiligten sich rund 65% der 105 Mill. wahlberechtigten Bürger. Für die Listenwahl von 225 Mandaten stellten 43 Wahlvereinigungen (Parteien) und Wahlblöcke Kandidaten auf. Für die Direktwahl standen weitere 225 Mandate zur Verfügung.

Aufgrund der Wahlergebnisse verteilen sich die 450 Sitze der Staatsduma wie folgt:


Parteien/Wahlblöcke	 über Listen | Direkt | Insgesamt

Kommunistische Partei der
Russischen Föderation (KPRF)             99      59      158

Unser Haus Rußland (NDR)                45       9       54

Liberaldemokratische Partei Rußlands    50       1       51

Jabloko (Wahlvereinigung)                     31      14       45

Agrarpartei 						 20 	 20

Demokratische Wahl Rußlands - 
Vereinigte Demokraten 					  9  	  9

Wahlblock "Macht dem Volk!" 			  9 	  9

Kongreß der russischen Gemeinden (KRO) 		  5 	  5

Frauen Rußlands 					  3 	  3

Iwan Rybkin-Block					  3	  3

Wahlvereinigung "Vorwärts Rußland!"  3	  3

Block "Pamfilowa-Gurow-Lyssenko" 		  2	  2

Wahlblock "Kommunisten - Werktätiges
Rußland - Für die Sowjetunion"		  1	  1

Wahlvereinigung "Mein Vaterland"		  1	  1

Stanislaw Goworuchin-Block				  1	  1

Wahlblock Gewerkschaften und
Industriellen-Bund der Arbeit				  1	  1

Partei der Arbeiterselbstverwaltung			  1	  1

Wahlblock Transformation des
Vaterlandes						  1	  1

Partei der Russischen Einheit und
Verständigung					  1	  1

Wahlblock 89 (Regionen Rußlands)			  1	  1

Wahlblock "Gemeinsinn"			  1	  1

Partei der Ökonomischen Freiheit			  1	  1

Block der Unabhängigen				  1	  1

Unabhängige Abgeordnete				 77	 77

Es fällt auf, daß nach der Listenwahl nur vier der 43 Parteien und Wahlblöcke in der neuen Staatsduma vertreten sind. Durch Direktmandate kamen jedoch auch Vertreter von Parteien und Wahlblöcken ins Parlament, die bei der Listenwahl an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Die im Parlament über Listen vertretenen vier Parteien konnten insgesamt nur die Hälfte der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Womöglich waren es nur 49,89% der abgegebenen Stimmen - wie es ursprünglich hieß -, die dann vom Computer mit reichlicher Verspätung auf 50,50% korrigiert wurden. Fest steht, daß die andere Hälfte der Listenstimmen aufgrund der 5%-Klausel im Parlament nicht repräsentiert ist. Dadurch hat sich der Wert der für die vier Parteien abgegebenen Stimmen verdoppelt. Eine 3%-Hürde hätte dagegen den "Volkswillen" realistischer widerspiegeln können - mit einem Gesamtstimmenanteil von über 75% und weiteren Parteien im Parlament: Frauen Rußlands (4,61%), Demokratische Wahl Rußlands (3,86%), Kongreß der russischen Gemeinden (4,31%), Partei der Arbeiterselbstverwaltung (3,98%), Kommunisten - Werktätiges Rußland - Für die Sowjetunion (4,53%) und Agrarpartei (3,78%).

Gewinner der Wahlen wurden die Kommunisten mit einem Stimmenanteil von 22,30%. Sie verfügen über 158 Mandate im Parlament (1993: 45) und stellen den Parlamentspräsidenten. Trotz des Erfolges der Kommunisten, die allerdings nicht mehr die alten sind, kam es zu keinen wesentlichen Verschiebungen der Kräfteverhältnisse im Parlament. Die ultranationalistischen Liberaldemokraten konnten sich mit einem Stimmenanteil von 11,18% 51 Mandate (1993: 70) sichern. Zwar ist damit die Zeit Schirinowskijs als politisches "Schreckgespenst" vorbei, doch kann seine Partei im Parlament die Rolle des Züngleins an der Waage spielen. Der Flügel der liberalen Reformer im Parlament wurde weiter geschwächt. Zwar gewann die Jabloko von Jawlinskij 45 Mandate (Stimmenanteil: 6,89%). Doch verfügt die Demokratische Wahl Rußlands von Gajdar nur noch über neun Direktmandate (1993: 76). Unser Haus Rußland von Tschernomyrdin, das die Nomenklatura des gegenwärtigen Machtapparates verkörpert, belegt mit 54 Sitzen im Parlament hinter den Kommunisten den zweiten Platz (10,13%).

Auch in bezug auf die neue Staatsduma ist festzustellen, daß in Rußland nach wie vor die klassischen politischen Parteien fehlen. Es gibt keine Opposition und Regierungskoalition im Sinne westlicher Demokratien. Die Regierung weiß nie genau, mit wieviel Stimmen im Parlament sie in bestimmten Fragen rechnen kann. Die Abgeordneten sind nicht an Fraktionsdisziplin gebunden. Der hohe Anteil der direkt gewählten "unabhängigen" Abgeordneten bringt zusätzliche Unsicherheiten mit sich. So wird die Parlamentsarbeit im wesentlichen vom Kampf der ad hoc gebildeten Gruppen und Gruppierungen bestimmt. Zwar sind nach den Parlamentswahlen Modifizierungen der strengen monetaristischen Wirtschaftspolitik zu erwarten. Mit einer grundlegenden Änderung des Wirtschaftskurses ist vorerst jedoch nicht zu rechnen. Durch den bereits verabschiedeten Haushalt 1996 und die Vereinbarungen mit den internationalen Finanzorganisationen sind die Hände der Abgeordneten zunächst gebunden. Rußland ist den ausländischen Kreditgebern zu stark ausgeliefert, um seinen Wirtschaftskurs abrupt zu ändern. 1994 wurden 8% des Haushaltsdefizits aus Ressourcen des Auslands finanziert - 1995 bereits 37%.

Bis Dezember 1996 soll auch der Föderationsrat (Oberhaus) neu zusammengesetzt werden. Ihm werden jeweils zwei Vertreter der 89 Subjekte der Russischen Föderation von Amts wegen angehören: die Leiter der Exekutiven (die Verwaltungschefs) und der Legislativen (die Parlamentsvorsitzenden).

Im Vorausblick auf die für den 16. Juni 1996 angekündigten Präsidentschaftswahlen machten die Parlamentswahlen deutlich, daß - vielleicht mit Ausnahme der Moskauer, der Bewohner der Schwarzerde-Region und der schmalen Schicht der Neureichen - die Mehrheit der russischen Bevölkerung es schon bereut hat, seinerzeit Boris Jelzin zum Präsidenten gewählt zu haben. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen spiegeln diesen Stimmungswandel in der Bevölkerung wider. Der Weg zum Präsidentenamt führt in gewisser Hinsicht über das neue Parlament, dessen Zusammensetzung für die Zukunft von Bedeutung ist. Die Kommunisten - wohlwissend, daß die Präsidentschaftswahlen viel wichtiger sind als die Dumawahlen - werden sich womöglich hüten, Präsident Jelzin in eine Sackgasse zu manövrieren, zumal die Neigung Jelzins zum Konfrontationskurs bekannt ist. Außerdem gibt es in der Umgebung Jelzins genügend Kräfte, die daran interessiert sind, die Präsidentschaftswahlen - als eine letzte Möglichkeit der Machterhaltung - auszusetzen. Wie bei den Parlamentswahlen, so wird auch bei den Präsidentschaftswahlen, für die Präsident Jelzin bereits einen eigenen Wahlkampfstab (Allrussisches Zentrum für Präsidentschaftswahlen) einrichten ließ, die NATO-Osterweiterung kein zentrales Wahlkampfthema sein.

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II. Die NATO-Osterweiterung

Kurz nach den Parlamentswahlen erklärte der damalige Leiter des russischen Auslandsaufklärungsdienstes und jetztige Außenminister Jewgenij Primakow, daß seine Haupttätigkeit darin bestehen werde, die NATO-Osterweiterung zu verhindern (ITAR-TASS, 21.12.95). Die am häufigsten vorgebrachten Argumente und Drohungen Moskaus lassen sich wie folgt zusammenfassen:

- Nicht die NATO-Osterweiterung, sondern die Auflösung der NATO als Verteidigungsbündnis stehe auf der Tagesordnung, da es nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes keinen Feind mehr gebe.

- Der unendliche Krieg in Tschetschenien erbringe den Beweis für die Schwäche der russischen Armee, die in diesem Zustand für den Westen keine Bedrohung darstelle.

- Eine nach Osten erweiterte NATO könnte eher zur Instabilität in Europa als zum erstrebten Gegenteil führen.

- Da die Aufnahme der einzelnen Länder in die NATO der Reihe nach erfolgt, würden die Räume derjenigen Staaten destabilisiert, die nicht in der ersten Phase aufgenommen werden.

- Die NATO-Osterweiterung gefährde die Vertrauensbildung in Europa.

- Die NATO-Osterweiterung führe zu einer neuen Teilung und Spaltung Europas.

- Die NATO-Osterweiterung könnte auch als Isolierung und Ausgrenzung Rußlands mißverstanden werden.

- Durch die NATO-Osterweiterung könnten der russischen Industrie und Rüstungstechnik Märkte in Mittelosteuropa verloren gehen.

- Die NATO-Osterweiterung würde die Demokratisierung Rußlands bremsen bzw. gefährden.

- Die NATO wolle die derzeitige Schwäche Rußlands ausnutzen, um eine günstige strategische Position für künftige Konfrontationen zu gewinnen.

- Im Falle einer NATO-Osterweiterung würde Rußland seine KSE-Verpflichtungen nicht erfüllen.

- Ebenfalls müßte Rußland die Rolle und die Stationierung taktischer Atomwaffen neu überdenken.

- Im Falle einer NATO-Osterweiterung würde Rußland ein neues Verteidigungsbündnis gründen und auf die nukleare Abschreckung zurückgreifen.

Die russische Propaganda erweckt zwar in der Frage der NATO-Osterweiterung den Anschein der Einheitlichkeit, doch weisen die Standpunkte der russischen Experten zahlreiche Nuancen zwischen zwei extremen Positionen auf. Nach dem einen extremen Standpunkt haben die mittelosteuropäischen Länder frei zu entscheiden, in welches Bündnis sie eintreten wollen. Nach dem anderen, vor allem vom russischen Militär vertretenen Standpunkt genießen die sicherheitspolitische Integration der Unionsrepubliken der ehemaligen Sowjetunion sowie die Wiederherstellung von Moskaus Einfluß auf dem Gebiet der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Priorität. Dabei wird die NATO-Osterweiterung als antirussische Herausforderung und Interessenverletzung angesehen. Die gleichen russischen Militärs haben gleichzeitig jedoch nichts dagegen einzuwenden, wenn die mittelosteuropäischen Länder Mitglieder der Europäischen Union oder der WEU werden sollten. Abgesehen von den beiden extremen Standpunkten sind für einige russische Experten verschiedene Varianten vorstellbar. Manche lehnen die NATO-Osterweiterung nicht grundsätzlich ab, sondern nur ihre "voreilige" Verwirklichung. Andere könnten die NATO-Mitgliedschaft Mittelosteuropas akzeptieren, wenn die NATO nicht unter der Führung der USA stünde, sondern "europäisiert" würde. Für andere wiederum wäre die NATO-Osterweiterung nur dann annehmbar, wenn gleichzeitig mit Rußland eine strategische Partnerschaft hergestellt werden könnte. Wie auch immer, letztendlich weiß auch Moskau, daß eine NATO-Osterweiterung nicht zu verhindern ist. Sinn des gegenwärtigen harten Widerstandes ist, ihn in greifbare westliche Konzessionen umzumünzen.

Bis jetzt haben weder die russischen Politiker noch die russischen Medien etwas unternommen, um die russische Öffentlichkeit darüber zu informieren, daß die NATO seit 1989 die größte Umgestaltung ihrer Geschichte, eine Änderung ihres politischen und militärischen Charakters, durchlebt hat, um zu einer grundlegenden Stütze der europäischen Sicherheit zu werden. Deshalb versteht die russische Bevölkerung die NATO-Osterweiterung nicht als eine Ausdehnung der Sicherheit und Stabilität auf weitere Staaten, sondern als Gefahr für die Sicherheit Rußlands. Die NATO wird weiterhin, wenn auch unausgesprochen, als möglicher militärischer Gegner angesehen, obwohl die NATO als Verteidigungsbündnis bislang keinen einzigen Staat angegriffen hat. Natürlich liegt es nicht im Interesse der politischen und militärischen Führung Moskaus, die Verdächtigungen und Besorgnisse gegenüber der NATO zu zerstreuen. Damit würde nämlich Moskau seine eigene Absicht untergraben, die im KSE-Vertrag vorgesehene Größe der russischen Armee zu verdoppeln, da Rußlands Ansehen und Macht noch auf lange Sicht lediglich auf seinem Militärpotential und dessen Möglichkeiten beruhen.

Niemand scheint in Moskau zu begreifen, daß es gerade der neue außenpolitische Kurs, die immer häufigere und aggressivere Betonung russischer Interessen, die labile innenpolitische Lage und der keinesfalls zögerliche, sondern brutale Einsatz der Armee zur "Lösung" der Tschetschenien-Krise sind, die Europa "aufhorchen" lassen und dazu veranlassen, die Existenzberechtigung der NATO neu zu überdenken. Ziel der russischen Außenpolitik ist, alle sicherheitspolitischen Funktionen allein der OSZE zu übertragen. Dabei würde die NATO als eines der Instrumente der Friedenssicherung der OSZE unterstellt und damit durch indirektes russisches Vetorecht paralysiert. Aus Moskauer Sicht ist das bisherige Gleichgewicht nach dem Abzug russischer/sowjetischer Truppen aus Europa zusammengebrochen. Es kann nur wiederhergestellt werden, wenn der russische Einfluß östlich der deutschen Grenzen in irgendeiner Form präsent ist.

Die eigentliche Frage lautet nicht "NATO-Osterweiterung Ja oder Nein?", sondern wie sich die NATO erweitern läßt, ohne dabei legitime russische Interessen zu verletzen. Unter den vielen Unsicherheiten ist zumindest eine "Gewißheit" vorhersehbar: Rußland wird in einer absehbaren historischen Periode in der Lage sein, seine Hegemonie in der ehemaligen Sowjetsphäre neu zu organisieren. In einem solchen Fall ist ein erneuter Gegensatz zwischen der bestehenden NATO und einer konsolidierten russischen Großmacht durchaus möglich. Hier liegt das Dilemma der NATO, das an ihrer homogenen Verteidigungsdoktrin nagt. Das Einverständnis Moskaus für die Ausdehnung der NATO nach Osten, die zumindest potentiell antirussisch verstanden wird, einzuholen, ist allein schon als These eine Absurdität. Es liegt nicht im rationellen Interesse weder einer demokratischen noch einer autoritären russischen Regierung, daß eine von den USA und Deutschland geführte NATO bis zu den russischen Grenzen ausgedehnt wird.

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1. Die künftige Rolle der NATO

Die NATO stellt zweifelsohne das erste internationale kollektive Verteidigungssystem der Weltgeschichte dar, das diesen Namen verdient. Trotzdem hatte sie sich in den ersten drei Jahren nach Ende des Kalten Krieges mit Identitätsproblemen auseinanderzusetzen. Erst 1993 erkannte die NATO deutlich die Notwendigkeit von Reformen und der Anpassung an die neuen Realitäten. Sie stellte sich neue Aufgaben, darunter die Ausdehnung ihrer Tätigkeit außerhalb des Vertragsgebiets sowie die Sicherung der Stabilität in Mittelosteuropa, etwa durch die Aufnahme neuer Mitglieder. Der Krieg in Jugoslawien hat gezeigt, daß sich die Verwirklichung der Idee der kollektiven Sicherheit als äußerst schwierig erweist und daß sich die Hoffnungen in bezug auf die für die kollektive Sicherheit zuständigen internationalen Organisationen (UNO und OSZE) nicht erfüllen. Folglich spielt eine Militärallianz wie die NATO, die nur bei einem funktionierenden kollektiven Sicherheitssystem überflüssig würde, weiterhin bei der Friedenserhaltung eine entscheidende Rolle. Nur sie kann Kriege durch Abschreckung, d.h. durch friedenserzwingende Maßnahmen, verhindern. Daraus folgt, daß für die NATO die russische Forderung, die europäische Sicherheit durch eine Hierarchie zu gewährleisten, in der die NATO eine untergeordnete Rolle spielt, nicht akzeptabel ist.

Rußlands Standpunkt ist, daß die europäische Sicherheit sich auf die Grundsätze und Institutionen der OSZE stützen soll, wobei der NATO im Rahmen der OSZE eine gewisse Rolle zugewiesen werden könnte. Die NATO ist jedoch schon heute stark und selbständig genug, um die europäische Sicherheit und Stabilität federführend zu garantieren. Als die gegenwärtig größte Militärmacht der Welt kann es sich die NATO nicht leisten, daß ihre Rolle bei der Gewährleistung der europäischen Stabilität und Sicherheit von der Stimme eines einzigen OSZE-Mitgliedstaates abhängt. Dies würde im krassen Gegensatz zu den Aufgaben, Zielsetzungen und Verpflichtungen der NATO stehen. Rußland lehnt die NATO auch als Hauptinstrument für die Lösung neuer Konflikte ab. Nach Auffassung Moskaus soll die OSZE als regionale Organisation zum Partner der UNO bei der Beilegung von Konflikten in Europa ausgebaut werden. Die NATO könne nur eine der Strukturen dieses neuen Sicherheitssystems werden.

Hinter dem Begriff "NATO-Osterweiterung" verbirgt sich ein neues kollektives Sicherheitssystem für Europa, in dessen Rahmen die NATO das Kernstück einer "europäischen Sicherheitsarchitektur" bilden soll. Die künftige Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die NATO dürfte seit der Tagung des NATO-Ministerrates vom Dezember 1994 als akzeptiertes Grundprinzip betrachtet werden. Die Entscheidung deutet darauf hin, daß die Hoffnung, die der Westen in die russische Demokratie gesetzt hatte, sich als Illusion erwiesen hat.

Die NATO-Studie über die Rahmenbedingungen der Erweiterung der Allianz vom 18. September 1995 ließ jedoch einige Fragen offen, darunter vor allem die Frage, welche Länder zu welchem Zeitpunkt in die NATO aufgenommen werden sollen. Entscheidungen über diese Frage werden vor den russischen Präsidentschaftswahlen im Juni 1996 nicht getroffen. Zieht man in Betracht, daß die Erweiterungen von den Parlamenten aller 16 NATO-Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen, so wird die NATO bis zum Jahre 2000 sicherlich keine neuen Mitglieder haben. Andererseits ist die NATO-Osterweiterung für den Westen genauso wichtig wie für die mittelosteuropäischen Länder, weil ansonsten die NATO Gefahr läuft, ihre Existenzberechtigung zu verlieren. Zögert die NATO aus Rücksicht auf Rußland die Aufnahme neuer Mitglieder hinaus, räumt sie Moskau praktisch ein Vetorecht über ihre Entscheidungen ein und verliert ihre Glaubwürdigkeit. Das Überleben der NATO hängt daher nicht zuletzt von ihrer Erweiterung ab. Die Aufnahme neuer Mitglieder setzt jedoch eine Übereinstimmung der nationalen Interessen der 16 NATO-Mitgliedstaaten voraus.

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2. Die Interessen der NATO-Mitgliedstaaten

In den USA und Westeuropa führen Politiker, Wissenschaftler und Professoren heftige Debatten über die Vorzüge und Gefahren einer NATO-Osterweiterung. Sie lösten die vorangegangene fruchtlose Diskussion darüber ab, ob die "Partnerschaft für den Frieden"-Konstruktion das Vorzimmer der NATO bedeutet oder anstelle der NATO-Osterweiterung erfunden wurde. Die Argumente der beiden Lager, der Anhänger und Gegner der NATO-Osterweiterung, klingen meist brillant und überzeugend, geraten jedoch oft in die Nähe extremer Positionen. So sprach sich z.B. das amerikanische Forschungsinstitut "Zentrum für Verteidigungsinformation" für die Auflösung der NATO und die Stärkung der OSZE als bestes Instrument der europäischen Sicherheit aus (SZ, 13.12.95). Prof. Ernst-Otto Czempiel forderte den Ausbau der OSZE und des Europarates als der beiden Pfeiler der europäischen Sicherheit sowie die dringende Überprüfung der NATO-Osterweiterung im Lichte seiner Überlegungen (FAZ, 1.12.1995, S. 14). Der SPD-Politiker Peter Glotz schrieb zur NATO-Osterweiterung: Sie "zieht eine neue, willkürliche Grenze durch Osteuropa, stärkt die großrussischen Kräfte in Moskau, gefährdet die Abrüstungsvereinbarungen mit Rußland und schwächt die Entscheidungsfähigkeit des Bündnisses" (Der Spiegel, Nr. 38/95, S. 41). Unabhängig vom Für und Wider der Argumente kann das Hinausschieben der Entscheidung "Osterweiterung Ja oder Nein" nur dazu beitragen, die Einheit des Westens zu untergraben, ohne dabei Moskau zu beruhigen.

Die Einheit des Westens ist nur dann nicht gefährdet, wenn sich die Konflikte im Osten isolieren lassen. Ist dies nicht der Fall, so können diese Konflikte in Osteuropa dazu beitragen, daß die Sonderinteressen westeuropäischer Staaten, die sich aus ihrer geographischen Lage und historischen Vergangenheit ergeben, erneut aufleben. Sie können die politische Kohäsion in den westlichen Institutionen, vor allem in der NATO, untergraben. Es besteht die Gefahr, daß der integrierende Charakter der Sicherheitspolitik "nationalisiert" wird. Dies wiederum kann dazu führen, daß die westeuropäischen Staaten in die Konflikte Osteuropas hineingezogen werden. Um eine solche negative Entwicklung zu verhindern, sollte die NATO so umgebaut werden, daß sie auch Sicherheit in den Konfliktregionen Osteuropas bieten kann, aus denen Gefahren für den Westen entstehen.

Statt dessen zeigte bereits das Jahr 1991, daß die Amerikaner und die Westeuropäer große Mühe haben, unter sich einig zu bleiben. Der schon traditionelle Streit zwischen Frankreich und den USA entzündete sich damals erneut an der Frage, ob die NATO bezüglich Osteuropa über einen einfachen Dialog hinauszugehen hat oder nicht. Gleichzeitig begann auch die Rücksichtnahme der NATO-Mitgliedstaaten auf Rußland. Heraus kam ein Nordatlantischer Kooperationsrat - eine Art Institutionalisierung der Kontakte mit den Ländern des früheren Ostblocks.

Der Gedanke, zumindest die mittelosteuropäischen Staaten Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO aufzunehmen, stieß noch im Jahre 1993 unter den NATO-Mitgliedstaaten auf wenig Begeisterung. Die neu erfundene "Partnerschaft für den Frieden"-Ersatzkonstruktion anstelle der Erweiterung spiegelte jedoch keine realen Gegebenheiten, sondern eher die westlichen Ängste vor Rußland wider. Sie kam ausschließlich den Sicherheitsinteressen Rußlands entgegen und löste weder die Sicherheitsprobleme Mittelosteuropas noch der NATO. Das Defizit bei der "Partnerschaft für den Frieden" bestand in der fehlenden Entschlossenheit, die NATO als Verteidigungsbündnis so umzugestalten, daß sie auch Regionen wie Mittelosteuropa in Konfliktsituationen Sicherheit bietet, vor allem wenn aus diesen Regionen unmittelbare Gefahren für den Westen erwachsen können. Das damalige Argument der NATO-Mitgliedstaaten, keine neue Trennungslinie in Europa ziehen zu wollen, relativierte sich durch das Gegenargument der Mittelosteuropäer: Es werden keine neuen Trennungslinien gezogen, sondern die bestehende alte Trennungslinie wird nach Osten verschoben. Durch eine NATO-Mitgliedschaft Mittelosteuropas käme nicht der "Feind" der russischen Grenze näher, sondern vielmehr die Demokratie - mit Stabilität.

Obwohl schon Klarheit darüber hätte bestehen müssen, daß Rußland weder bereit noch in der Lage ist, sich dem westlichen Wertesystem anzupassen, geschweige denn, sich dieses anzueignen, kam der Westen Moskau mit weiteren Konzessionen entgegen: Anerkennung des besonderen Rechts Rußlands auf Friedenssicherung im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, Möglichkeit einer Revision des CFE-Vertrages und Aufnahme Rußlands - mit Sonderstatus - in die "Partnerschaft für den Frieden"-Konstruktion. Indem Rußland in die Sphäre der "Partnerschaft für den Frieden" einbezogen wurde, gerieten die NATO-Mitgliedstaaten erneut in ein Dilemma: Die mittelosteuropäischen Länder verloren damit ihren bis dahin genossenen "Sonderstatus", Moskau kam seinem strategischen Ziel, ein "gesamteuropäisches Sicherheitssystem" in seinem Sinne zu schaffen, einen Schritt näher, und der NATO drohte der Zerfall aufgrund der Eigeninteressen ihrer Mitgliedstaaten. Als Deutschland im Rahmen seiner strategischen Gleichberechtigung in Sachen NATO-Osterweiterung die Initiative ergriff, sahen vor allem Frankreich und Großbritannien darin das Bestreben, die deutsche Einflußzone in Europa auszudehnen (vgl. "Was soll politisch aus der NATO werden?", FAZ, 12.10.93). Erst als sich die USA mit Blick auf den unendlichen Bosnien-Krieg zu einer neuen Mittelosteuropa-Politik entschlossen, faßten die NATO-Mitgliedstaaten den prinzipiellen Beschluß über die Osterweiterung (vgl. Strobe Talbott, Warum die NATO wachsen muß, in: Die Zeit, 6.10.1995, S. 10).

Der Krieg auf dem Balkan brachte den Wendepunkt. Zwar stellte die NATO die einzige Militärallianz dar, die über Mittel und Fähigkeiten verfügte, den Krieg auf dem Balkan zu beenden, doch fehlte es am politischen Willen der Mitgliedstaaten, diesen Krieg zu ersticken. Erst die Monopolisierung der bosnischen Friedensregelung durch die USA verhalf der NATO zur Erneuerung und zu einem Test für ihre Fähigkeit, sich auf Konflikte nach dem Kalten Krieg einzustellen.

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3. Wendepunkt: Der Krieg in Ex-Jugoslawien

Der seit fünf Jahren andauernde Krieg in Ex-Jugoslawien, das Versagen des zivilisierten Europas und der für die kollektive Sicherheit zuständigen Organisationen (UNO, OSZE), diesen Krieg zu beenden sowie die drohende Gefahr, daß die Glaubwürdigkeit der NATO und die Solidarität ihrer Mitgliedstaaten verloren gehen, stellten die USA vor die Wahl: Entweder die gewaltsamen serbischen Gebietseroberungen - und damit auch den Sieg der russischen Balkan-Diplomatie - anzuerkennen, mit der Folge von nicht mehr gutzumachendem Schaden für die moralische und rechtliche Grundlage einer neuen Weltordnung, oder Soldaten nach Bosnien zu schicken, um das Kräftegleichgewicht auf dem Balkan wiederherzustellen.

Hinter dem Erfolg der NATO-Mission stehen jedoch einige Fragezeichen: Man ließ beim Feilschen in Dayton zu, daß die Präsidenten Serbiens und Kroatiens großzügig über das Territorium Bosniens entschieden. Das Friedensabkommen von Paris, das einem Friedensdiktat gleichkommt, sichert nur den negativen Frieden, d.h. die Abwesenheit von Krieg. Außerdem hat man versäumt, mit den im Westen gepflegten Mythen und Irrtümern (vgl. Nepszabadsag, 16.12.95, S. 23) aufzuräumen:

Mythos 1 - Serbenführer Milosevic habe nur die Einheit Jugoslawiens verteidigen wollen. Nicht die Serben, sondern die Kroaten und Slowenen seien die Aggressoren, die durch ihre Unabhängigkeitserklärungen den Krieg provoziert hätten.

Daß Milosevic bereits vor den Slowenen und Kroaten die Souveränität Serbiens und das Primat der serbischen Gesetze vor den Bundesgesetzen erklärte, die Autonomie der Provinzen Kosovo und Wojwodina aufhob, aus dem Bundeshaushalt unrechtmäßig Gelder für Serbien entnahm, die kroatischen Unternehmen in Serbien "serbisiert"-verstaatlichte und gegen Slowenien eine Wirtschaftsblockade verhängte, wurde verschwiegen.

Mythos 2 - Den Aufstand und Krieg der Serben habe Deutschland verursacht, hieß es in London und Paris, weil es Kroatien "zu schnell" anerkannt habe, obwohl dieser Vorwurf weder durch den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse noch die Logik der Tatsachen belegt werden kann.

Mythos 3 - Um den aggressiven Nationalismus und Faschismus ("ethnische Säuberung") der Serben unter Führung von Milosevic zu kaschieren, pflegte der Westen ein 2.-Weltkrieg-Bild, wonach alle Serben Antifaschisten und alle Kroaten Faschisten waren. Dabei wurde täglich an die Serbenvernichtung des kroatischen Faschisten Pavelic erinnert. Das Verbrechen des serbischen Faschisten Nedic fand nirgendwo Erwähnung.

Mythos 4 - In Bosnien gäbe es einen "ethnischen Bürgerkrieg", an dem alle Beteiligten gleichermaßen Schuld trügen, keine Aggression von außen. Die Serben hätten sich lediglich gegen den islamischen Fundamentalismus und den kroatischen Nationalismus verteidigt.

Kein Wort fiel im Westen darüber, daß Serben, Kroaten, Moslems und Juden in Bosnien als "Bosniaken" - mehr als ein Drittel von ihnen ist gemischt verheiratet - auch im Vergleich zum europäischen Durchschnitt jahrhundertelang in einer multikulturellen Gesellschaft friedlich zusammengelebt haben.

Mythos 5 - Die Behauptung, nicht einmal NATO-Luftangriffe könnten den serbischen Eroberungsfeldzug in Bosnien stoppen (Eagleburger, Kissinger u.a.), weil die Serben "unbesiegbar" seien, wurde durch das NATO-Engagement widerlegt.

Abgesehen von diesen Mythen könnten einige Schwachpunkte des Pariser Friedensabkommens vom 14. Dezember 1995 den Erfolg des westlichen Engagements in Bosnien gefährden: Das Abkommen behandelt Bosnien, völkerrechtlich in seinen alten Grenzen anerkannt, nur theoretisch als einen einheitlichen Staat. Formell teilt es Bosnien in zwei Teile: eine kroatisch-bosniakische Föderation (51%) und ein serbisches Autonomiegebiet (49%). Beide Landesteile verfügen laut Abkommen über einen eigenen Präsidenten, eine eigene Regierung und eine eigene Gesetzgebung. Die Serben haben darüber hinaus ein Vetorecht gegenüber den Bundesorganen. Was theoretisch (völkerrechtlich) ein Staat ist, formell jedoch zwei Gebilde darstellt, ist in Wirklichkeit eine Dreier-Formation: die serbische und die kroatische Autonomie sowie die Restgebiete der Bosniaken (Moslems). Dabei haben die bosnischen Serben und Kroaten das Recht, Kontakte zu Serbien (Klein-Jugoslawien) bzw. Kroatien zu pflegen, während die Bosniaken (Moslems) über kein "Mutterland" verfügen. Damit dürften Serbien und Kroatien ihren ursprünglichen Zielen nähergekommen sein, Bosnien nach geduldigem Abwarten unter sich aufzuteilen.

Sollte die Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts auf dem Balkan auf diese Weise ausgelegt werden und die NATO-Mission lediglich die Existenzberechtigung der NATO und die geographische Erweiterung ihres Wirkungskreises sichern, so besteht die Gefahr, daß, wie zuvor die UNO, auch die NATO innerhalb der internationalen Gemeinschaft an Glaubwürdigkeit einbüßt. Ein Anzeichen dafür, daß die IFOR ähnlich wie zuvor die UNPROFOR "gelähmt" werden könnte, ist bereits in der IFOR-Weigerung, sog. Polizeifunktionen zu übernehmen, zu sehen (vgl. IFOR-Presseerklärung vom 8.1.96). Wenn das Ziel des von den USA durchgesetzten Friedensabkommens ist, Bosnien nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis als Einheitsstaat zu erhalten, dann ist der Beweis erbracht, daß die Militärallianz im Unterschied zu kollektiven Sicherheitssystemen (UNO, OSZE) nicht nur zur neutralen Friedensüberwachung eingesetzt werden, sondern auch als Konfliktpartei gegenüber Aggressoren auftreten kann. Nicht zuletzt hängt vom Erfolg der NATO-Mission auf dem Balkan auch ab, ob, wie, wann und mit welchen Ländern die NATO erweitert werden kann.

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4. Die Interessenlage Mittelosteuropas

Nach Auflösung des Warschauer Paktes entstand in Mittelosteuropa ein Machtvakuum, das aus der Sicht der mittelosteuropäischen Länder mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet ist. Diese Unsicherheiten verstärken sich im Falle einer faktischen Dreiteilung Europas, zu der es käme, wenn sich neben der NATO in Westeuropa im Rahmen der GUS und unter Führung Moskaus eine zweite Militärallianz im Osten etabliert. Eine solche Entwicklung ist durchaus möglich. Die Lage Mittelosteuropas zwischen den beiden Bündnissen wie auch zwischen Deutschland und Rußland könnte dann zu gefährlichen Rivalitäten in der Region führen. Eine Mitgliedschaft der Mittelosteuropäer in der NATO würde eine solche für die mittelosteuropäischen Länder gefährliche Pufferposition ausschließen.

Der entscheidende Unterschied zwischen den mittelosteuropäischen Ländern und den anderen Staaten des osteuropäischen Raumes liegt darin, daß sich ihre Wertorientierung mit der des Westens verbindet. Deshalb scheint es logisch zu sein, daß die mittelosteuropäischen Länder Mitglieder westlicher Institutionen werden. Doch die Weltpolitik beruht nicht auf logischen Grundlagen. Unabhängig davon, welchen Entwicklungsweg letztendlich Rußland einschlägt, die russische Politik wird immer dazu neigen, die mittelosteuropäischen Länder von den westlichen Institutionen fernzuhalten. Aus der im Westen selbst gestellten Alternative - Jelzin oder NATO-Mitgliedschaft Mittelosteuropas - ergibt sich, daß die mittelosteuropäischen Länder für den Westen nur in extremen Szenarien von Bedeutung sind: wenn in Rußland Chaos und Anarchie ausbrechen oder ein faschistisches Regime an die Macht kommt. Ein wesentlicher Grund, weshalb die mittelosteuropäischen Länder nach der NATO schielen, ist jedoch noch vor der Angst vor den Unsicherheiten des russischen Entwicklungsweges die Möglichkeit, die zahlreichen akuten und latenten Nationalitäten- und Gebietsprobleme im Rahmen der europäischen Integration aufzulösen.

Die Neutralität stellt für Mittelosteuropa keine Alternative dar, da sie ohne Anerkennung und Garantien der Großmächte beliebig verletzt werden kann. Außerdem würde die Schaffung einer neutralen Zone in Mittelosteuropa nicht zur Annäherung zwischen West- und Osteuropa, sondern zur Abgrenzung führen. Die Vorteile der NATO-Mitgliedschaft für Mittelosteuropa überwiegen die Nachteile:

- Beendigung des Gefühls der dauerhaften Unsicherheit,

- Erhöhung der inneren und äußeren Sicherheit,

- Anreiz zu Investitionen des Auslandskapitals,

- Vertiefung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit dem Westen und

- geringere Aufwendungen (kleinere Armeen und weniger Kosten) im Vergleich zum Verteidigungsaufwand im Falle der Neutralität.

Die oft widersprüchlichen Erklärungen nähren die politisch-psychologische Illusion, daß die NATO-Aufnahme zumindest für die Staaten der sog. Visegrader Gruppe (Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei) in erreichbare Nähe gerückt ist. Diese Illusion wird durch die Annahme verstärkt, daß die Aufnahme in die NATO "leichter" sei als in die Europäische Union, da es sich im Falle der NATO um eine rein machtpolitische Entscheidung handelt. Auch gibt es Indizien dafür, daß Moskau eine Aufnahme Polens, Ungarns, Tschechiens und der Slowakei hinnähme, wenn sie ähnlich wie Frankreich der militärischen Integration fernblieben und keine ausländischen Truppen und Nuklearwaffen in diesen Ländern stationiert würden. Fest steht, daß die Ausgangsbasis für die Auswahl neuer Mitglieder die Sicherheitsinteressen der Großmächte des Bündnisses sind.

Die Gemeinsamkeiten der vier Staaten der sog. Visegrader Gruppe erschöpfen sich darin, daß sie sich alle historisch wie kulturell als Teil Westeuropas verstehen. Ihre Sicherheitssituation erleben sie jedoch unterschiedlich. Polen ist das einzige Land der Region von strategischer Bedeutung. Das Gefühl der Bedrohung der polnischen Ostgrenzen wird nicht zuletzt durch die starke Präsenz der russischen Armee im Gebiet Kaliningrad genährt. Umgekehrt ist eine Zustimmung Moskaus zur polnischen NATO-Mitgliedschaft ohne Garantien für den unumkehrbaren Status des Gebiets Kaliningrad kaum vorstellbar. Für Tschechien, das keine gemeinsame Grenze mit Rußland hat, ist eine mögliche Bedrohung von Osten kein akutes Problem. Eher könnte das ungelöste Problem der Sudetendeutschen zwischen Bonn und Prag ein Hindernis für die NATO-Mitgliedschaft Tschechiens werden. Wegen der relativ unbedeutenden strategischen Lage haben die Ungarn am wenigsten zu befürchten, daß eine NATO-Mitgliedschaft russische Gegenmaßnahmen zur Folge hätte. Zu einer zeitweiligen Stationierung von NATO-Streitkräften in Ungarn kam es bereits im Januar 1996: Nachschubbasen der IFOR wurden in Kaposvar und Taszar (6.700 US-Soldaten) sowie in Pecs (skandinavische Streitkräfte) errichtet.

Eine künftige Ausdehnung der NATO auf weitere Länder (baltische Staaten, Südosteuropa) hängt nicht zuletzt davon ab, ob die NATO, wie geplant, das einzige Verteidigungsbündnis im Rahmen einer europäischen Sicherheitsarchitektur bleibt, oder ob es Moskau gelingt, auf der Grundlage der GUS eine neue Militärallianz zu etablieren.

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5. Der GUS-Einflußbereich

Moskau weigert sich, die NATO als Hauptinstrument für die Lösung von Konflikten im Rahmen einer europäischen Sicherheitsarchitektur zu betrachten. Vielmehr strebt Rußland sein eigenes subregionales Sicherheitssystem auf der Grundlage der GUS an. Die GUS-Staaten gelten als ausschließliche Einflußzone Rußlands, und diese ist für Moskau von vitalem Interesse. Mit Hilfe einer Militärallianz unter russischer Hegemonie soll der Weltmachtstatus Rußlands gefestigt werden (vgl. Nezavisimaja Gazeta, 13.10.95, S. 2). Nach Meinung des Oberbefehlshabers der russischen Landstreitkräfte, Wladimir Semjonow, lasse sich zwar die NATO-Osterweiterung auf die Dauer nicht verhindern, den NATO-Beitritt eines GUS-Mitgliedstaates würde Moskau aber unter allen Umständen unterbinden (Interfax, 2.1.96).

Der Weg zu einer neuen Militärallianz unter Führung Moskaus ist noch weit. Vor allem die Ukraine, Moldawien und Turkmenistan wollen weder der NATO noch den GUS-Militärstrukturen beitreten. Ob sie ihre Neutralität bewahren können, wird in erster Linie von wirtschaftlichen Faktoren abhängen. Aus Moskauer Sicht erscheint es keinesfalls hoffnungslos, auch die schwierigen Fälle (Ukraine, Moldawien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan) von der Notwendigkeit eines Beitritts zum GUS-Abkommen über kollektive Sicherheit zu "überzeugen".

Der Prozeß der militärischen Reintegration innerhalb der GUS ist bereits im Gange. Wie Moskau sich diesen vorstellt, zeigt das Edikt Nr. 940 des russischen Präsidenten Jelzin über die "Strategischen Richtlinien Rußlands gegenüber den GUS-Mitgliedstaaten" (in: Rossijskaja Gazeta, 23.9.95, S. 4). Bisher wurde erreicht, daß in allen GUS-Staaten russische Armee-Kontingente stationiert sind. Russische Truppen schützen die Grenzen einiger GUS-Staaten. Über ein gemeinsames Luftverteidigungssystem wurde Einigung erzielt. In den Konfliktherden des GUS-Bereichs (Georgien, Tadschikistan) befinden sich nicht die "Blauhelme" der UNO, der OSZE oder der NATO, sondern GUS-Friedenstruppen.

Vor diesem Hintergrund ist das Bestreben Moskaus zu sehen, die NATO und die GUS in zwei Instrumente eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems unter der Ägide der OSZE umzuwandeln.

* * *

Zusammenfassend stellt sich die einfache Frage: Welches Problem hat Rußland eigentlich mit der NATO? Die Antwort ist einfach: Daß die NATO überhaupt noch existiert und sich nicht wie der Warschauer Pakt aufgelöst hat bzw. daß die NATO Rußland nicht sofort als Mitglied aufgenommen hat, was in der Praxis einer Auflösung gleichgekommen wäre. Wenn dies aber der unverrückbare Standpunkt Moskaus ist, dann muß der Westen entscheiden. Entscheidungen zu treffen sind jedoch, wie der oben dargestellte Zusammenhang zwischen Rußlands Wahlen und NATO-Osterweiterung zeigt, nicht die starke Seite der Behörden in Brüssel und Washington.


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