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[AUSSENPOLITIKFORSCHUNG]
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Bundeswehrsoldaten in alle Welt?

Eine der Bequemlichkeiten des Kalten Krieges bestand für die Bundesrepublik Deutschland darin, daß ihr über die Landesverteidigung bzw. die Verteidigung des NATO-Gebietes hinaus keinerlei internationales militärisches Engagement abverlangt wurde. Dabei fielen Landes- und NATO-Verteidigung in der Wahrnehmung sowohl von Regierenden als auch von Regierten weitgehend zusammen, ging man doch davon aus, daß ein Krieg zwischen NATO und Warschauer Pakt, sollte er denn stattfinden, vor allem auf dem Gebiet der beiden deutschen Staaten ausgetragen werden würde. Die Bundeswehr, deren Entstehung und Legitimation ausschließlich auf den Kalten Krieg zurückging, entwickelte daher die Kultur einer Armee, die zwar einerseits alle militärischen Anstrengungen unternahm, um Abschreckung und in der Konsequenz auch Verteidigung gewährleisten zu können, andererseits führte jedoch gerade das Element der Abschreckung dazu, daß die Bundeswehr ihren Auftrag als erfüllt ansah, wenn sie nicht zum Einsatz käme. Auf diese Weise konnten das Bedürfnis nach Schutz im Bündnis während der traditionellen Ost-West-Konfrontation und die von den Verbündeten geförderte Desavouierung militärischer Macht in der Sicht der Deutschen als Erfahrung des Nationalismus gleichzeitig befriedigt werden.

Mit der Zeitenwende 1989/90 haben sich diese Koordinatenkreuze grundsätzlich verschoben. Einerseits wird dem vereinigten Deutschland mehr internationales Engagement abverlangt, als dies zu Zeiten dessen Teilung der Fall war. Seinerzeit nahm man Rücksicht auf die ohnehin großen Belastungen, denen die Deutschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges ausgesetzt waren. Dies ist nun vorbei. Andererseits haben die Vereinten Nationen, in deren Rahmen sich ein internationales, über die Landes- und Bündnisverteidigung hinausgehendes militärisches Engagement abzuspielen haben würde, nach dem Kalten Krieg ein neues Momentum entwickelt. Russen und Amerikaner blockieren sich im UN-Sicherheitsrat nicht mehr gegenseitig, so daß - wie vor allem der zweite Golf-Krieg 1991 gezeigt hat - ein militärisches Vorgehen gegen Aggressoren durch die Vereinten Nationen zumindest abgesegnet werden kann. Als Folge haben sich auch die UNO-Missionen zu friedenserhaltenden Zwecken ausgeweitet, und zwar sowohl von der Anzahl als auch vom Auftrag her. Von 1945 bis 1988 fanden lediglich dreizehn entsprechende UNO-Missionen statt, seitdem wurden vierzehn weitere beschlossen. Die drei größten sind UNTAC in Kambodscha, UNPROFOR im ehemaligen Jugoslawien und UNOSOM in Somalia. An diesen Operationen nehmen insgesamt 80.000 Soldaten und Zivilisten teil. [ Vgl. Winrich Kühne, "Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen in einer Welt ethno-nationaler Konflikte", in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. B 15-16/1993 vom 9. April 1993, S. 9-19, S. 10.]

Deutschland kann angesichts dieser Entwicklung nicht beiseite stehen. Bei seinem Besuch in Bonn im Januar 1993 führte UN-Generalsekretär Butros Ghali dementsprechend u.a. aus: „... Wir brauchen eine vollständige Teilnahme Deutschlands an friedenserhaltenden, friedensschaffenden, friedensdurchsetzenden Maßnahmen. Dieses ist ein Muß für stärkere Vereinte Nationen. Das ist nicht die Ansicht des Generalsekretärs der UN, das ist Ansicht der internationalen Gemeinschaft... ohne Ihre Teilnahme an den UN werden diese nicht in der Lage sein, die Prinzipien und die Ziele der Charta, die 1945 verabschiedet wurden, durchzusetzen." [ Zit. nach Heinz Vergau, Globale Anforderungen an Deutschland, Vortrag vor der Bundessicherheitsakademie in Bonn am 24. März 1993, S. 8. Botschafter Heinz Vergau war zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Leiter der ständigen deutschen Mission bei den Vereinten Nationen in New York.]

Die Frage, ob, wenn ja unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck künftig Bundeswehrsoldaten außerhalb der Landes- bzw. Bündnisverteidigung zum Einsatz kommen sollen, hat in Deutschland seit dem zweiten Golf-Krieg, an dem die Bundeswehr nicht unmittelbar teilnahm, zu einem heftigen innenpolitischen Streit geführt. An dessen Oberfläche geht es um die Frage der Interpretation des Grundgesetzes. Anders als die japanische Verfassung, die in ihrem Art. 9 dem Staat jegliches Recht auf Kriegsführung abspricht, sind die Formulierungen im Grundgesetz weniger eindeutig. Art. 24 GG spricht davon, daß sich die Bundesrepublik einem System kollektiver Sicherheit einordnen kann und dabei auch die Begrenzung ihrer Souveränität in Kauf nehmen darf. In Art. 87a GG dagegen, der erst in den 60er Jahren im Zuge der Notstandsgesetze eingefügt wurde, ist davon die Rede, daß Streitkräfte zum Zweck der Verteidigung unterhalten werden. Beim Streit um die Interpretation geht es nun darum, was mit den Begriffen „System kollektiver Sicherheit" sowie „Verteidigung" genau gemeint ist. Da, wie wir noch sehen werden, der Streit im Kern ein politischer ist, brauchen die komplizierten juristischen Ableitungen hier nicht weiter verfolgt zu werden. Es genügt, darauf zu verweisen, daß eine Klarstellung des Grundgesetzes von allen im Bundestag vertretenen Parteien gewünscht wird, auch wenn die CDU/CSU im Prinzip der Auffassung ist, die Verfassung erlaube auch in ihrem derzeitigen Zustand alle Arten von militärischen Einsätzen, solange sie im Einklang mit der UN-Charta stattfinden.

Die stärkste Zurückhaltung auch für das vereinigte Deutschland fordert die größte Oppositionspartei, die SPD, ein. Sie verfügt traditionell über einen pazifistischen bzw. anti-militaristischen Flügel. Noch auf ihrem Parteitag in Münster im August 1988 wurde jeglicher Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO als für verfassungsrechtlich nicht zulässig erklärt, d.h. deutsche Soldaten sollten auch nicht als Blauhelme an friedenserhaltenden Missionen der Vereinten Nationen teilnehmen können. Drei Jahre später, 1991 auf dem Bremer Parteitag, wurde eine deutsche Beteiligung an solchen Blauhelm-Einsätzen für möglich gehalten, jegliche darüber hinausgehenden Einsätze jedoch strikt abgelehnt. Im Juni 1992 brachte die SPD-Fraktion im Bundestag einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Änderung der Grundgesetzartikel 24 und 87a ein. [ Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 12/2895 vom 23. Juni 1992.] Danach sollte gemäß Art. 24 die Bundesrepublik den Vereinten Nationen Angehörige der Streitkräfte nur für friedenserhaltende Maßnahmen ohne Kampfauftrag unterstellen dürfen. Außerdem sollte es die Möglichkeit geben, unbewaffnete Soldaten zur Bekämpfung von Umweltschäden, für humanitäre Hilfeleistungen und Maßnahmen der Katastrophenhilfe zu entsenden. Art 87a sollte festlegen, daß deutsche Blauhelm-Soldaten nur mit leichten Waffen zum Selbstschutz ausgerüstet sein dürften und sich als Berufs- und Zeitsoldaten freiwillig für solche Einsätze gemeldet haben müßten.

Über diesen Vorschlag ging die Parteiführung schon zwei Monate später, im August 1992, in ihren Petersberg Beschlüssen hinaus. Darin setzte sich die SPD für die Schaffung eines Gewaltmonopols der UNO sowie für eine umfassende Reform der Weltorganisation ein. Sollte danach der UN-Generalsekretär Streitkräfte möglichst vieler Mitgliedsstaaten gemäß Art. 43 UN-Charta einem UN-Kommando unterstellen wollen und dabei auch an Deutschland herantreten, so sei die SPD bereit, ein entsprechendes Abkommen zu prüfen und ggf. die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zu schaffen. Dieser Vorschlag wurde im November 1992 auf einem weiteren Parteitag in abgeschwächter Form angenommen. In einem Entschlußpapier hieß es, sollte der UN-Generalsekretär nach Art. 43 UN-Charta deutsche Streitkräfte einem UN-Kommando unterstellen wollen, so wolle die SPD prüfen, ob sie dem zustimmen könne. Einsätze der Bundeswehr „unter dem Dach der UNO" oder deren Ermächtigung nach dem Muster des Golf-Krieges sollten aber auf jeden Fall ausgeschlossen werden. [ Vgl. SPD-Sofortprogramm (Stand 24. August 1992), S. 19; SPD-Sofortpro gramm, beschlossen auf dem außerordentlichen Bundesparteitag am 16./17. November 1992 in Bonn (Presseservice der SPD 778/92), S. 23f.]

Es wäre allerdings verfehlt, von einer völlig einheitlichen Meinung in der SPD auszugehen. Während die Partei-Linke vor allem die militaristische deutsche Vergangenheit vor Augen hat und einen erneuten Mißbrauch militärischer Macht für die Zukunft ein für allemal ausschließen möchte, stehen realistischere Kräfte insbesondere der Bundestagsfraktion einem verstärkten deutschen Engagement in der UNO auch unter Einschluß militärischer Mittel durchaus aufgeschlossen gegenüber. Seit der Wahl Rudolf Scharpings zum neuen Parteivorsitzenden im Juni 1993 schien diese Gruppe zumindest an Einfluß zu gewinnen. So sprach sich der von Scharping auch zum außenpolitischen Sprecher berufene SPD-Fraktionsvorsitzende Klose offen für die Beteiligung der Bundeswehr an UN-Kampfeinsätzen aus. Während einer Klausurtagung der außenpolitischen Kommission der SPD Ende August 1993 wurden Kampfeinsätze der Bundeswehr jedoch abgelehnt. Lediglich zur Durchsetzung von Embargos soll es Angehörigen der Bundeswehr oder Beamten des Zolls oder des Bundesgrenzschutzes erlaubt sein, notfalls Gewalt auszuüben. Parteichef Scharping möchte diese Beschränkungen jedoch nicht in der Verfassung verankert sehen, sondern dies nur als politische Festlegung der Sozialdemokratie verstanden wissen. [ Vgl., "Klose für deutsche Beteiligung an UNO-Kampfeinsätzen", Süddeutsche Zeitung vom 1. Juli 1993, S. 2; "SPD: Einhaltung von UNO-Embargos notfalls erzwingen", Süddeutsche Zeitung vom 30. August 1993, S. 3.]

Die Parteien der Regierungskoalition, die CDU/CSU und die FDP, lehnten die Vorschläge der SPD von vornherein ab. Sie legten einen Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes vor, der den Einsatz der Bundeswehr zu folgenden vier Zwecken erlauben würde:

• zu friedenserhaltenden Maßnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen oder regionalen Abmachungen im Sinne der UN-Charta (KSZE);

• zu friedensherstellenden Maßnahmen gemäß den Kapiteln VII und VIII der UN-Charta (Kampfeinsätze) und gemäß eines entsprechenden Beschlusses des UN-Sicherheitsrates;

• zur Hilfestellung für verbündete Staaten (NATO bzw. WEU);

• zur Hilfestellung für andere Staaten in Ausübung des Rechts zur kollektiven Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta gemeinsam mit Partnern im Rahmen von Bündnissen oder regionalen Abmachungen, denen die Bundesrepublik angehört.

Dabei sollte im ersten und zweiten Fall eine einfache Bundestagsmehrheit, im vierten dagegen eine Zweidrittelmehrheit notwendig sein. [ Vgl. Claus Gennrich, "Koalitionsbeschluß zum Grundgesetz-Artikel 24", in: Frankfur ter Allgemeine Zeitung vom 5. März 1993, S. 6.]

Mit diesem Vorschlag gingen die Regierungsparteien nicht nur über die Vorstellung der SPD hinaus, deutsche UN-Engagements auf Blauhelme zu beschränken, zumindest solange eine angestrebte UN-Reform nicht umgesetzt ist, die Kampfeinsätze unter einem UN-Kommando erlaubte, d.h. die Regierung befürwortet anders als die Sozialdemokraten eine deutsche Teilnahme an einer etwaigen militärischen Auseinandersetzung nach dem Modell des zweiten Golf-Krieges, vor allem möchte die Regierung auch dann die Freiheit zu militärischem Eingreifen in Konflikten haben, wenn der UN-Sicherheitsrat dazu keine oder noch keine entsprechende Resolution verabschiedet hat. In einem solchem Fall würde man sich auf Art. 51 UN-Charta, d.h. das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung und Nothilfe, beziehen. Es ist insbesondere dieser Punkt, den die SPD wohl auf absehbare Zeit kaum wird akzeptieren können, verbinden doch die meisten Parteimitglieder damit die Vorstellung, Deutschland wolle sich zu einer militärischen Ordnungsmacht in Europa aufschwingen. Da die Regierung aber die Zustimmung der SPD zu einer Grundgesetzänderung benötigt, da dafür eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich ist, bleibt abzuwarten, ob sich die Regierung in diesem Punkt bewegen wird.

Die Begründungen, die von seiten der CDU/CSU für ihre Position geliefert wurden, lassen darauf jedoch kaum schließen. Dabei wurde zunächst darauf verwiesen, daß eine Unterscheidung zwischen Blauhelm- und anderen militärischen UN-Einsätzen immer schwieriger werde und sich von daher einer Beschränkung auf Blauhelme verbiete, eine Feststellung, die sicherlich zutreffend ist, vor allem in Hinblick auf das UN-Engagement in Somalia. Darüber hinaus dürfe sich Deutschland aber prinzipiell nicht zu sehr auf UN-Einsätze fixieren. Die Bundeswehr solle keine Weltpolizei werden, sondern entscheidend für ihren Einsatz sei die zu definierende deutsche Interessenlage. Daher dürfe man sich nicht von den Entscheidungen im UN-Sicherheitsrat abhängig machen, sondern müsse von Fall zu Fall entscheiden und dabei auch lernen, ja oder nein zu sagen. Dabei komme es andererseits jedoch darauf an, deutsche Sonderwege zu vermeiden, bündnisfähig zu bleiben und im Falle der Anwendung von Art. 51 UN-Charta niemals allein zu handeln. Dabei konnten die Regierungsparteien zu Recht darauf verweisen, daß - das Beispiel Japan ausgenommen - sich kein anderer Staat die Selbstbeschränkung auferlege, in einem solchen Fall niemals allein zu handeln. Durch diesen Ansatz sollte Deutschland einerseits maximale Handlungsfreiheiten erlangen und andererseits gleichzeitig das Bedürfnis seiner Nachbarn nach Sicherheit vor Deutschland befriedigen.

Bei der Frage der Bündnisfähigkeit Deutschlands ging es in den Debattenbeiträgen auffälligerweise weniger um die Handlungsfähigkeit in der NATO als in der anzustrebenden Europäischen Union. In ihr könne Deutschland im Hinblick auf militärische Einsätze keine grundsätzlich andere verfassungsrechtliche Position einnehmen als alle seine Partner. Sowohl bei den Gesprächen, die der Petersberg-Erklärung der WEU vom Juni 1992 vorangingen, als auch in den Verhandlungen mit den Franzosen über die Einsatzaufgaben des Euro-Korps habe sich gezeigt, daß Deutschlands europäische Partner es konsequent ablehnen, sich von einem etwaigen UN-Mandat abhängig zu machen. Nähme Deutschland hier eine grundsätzlich andere Position ein, so sei eine angestrebte europäische Verteidigung unmöglich. Es war der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Lamers, bekannt als starker Befürworter der deutsch-französischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit, der diesen Punkt besonders hervorhob, dabei mit Recht darauf hinweisend, daß es einem Affront gegenüber den europäischen Bündnispartnern gleichkäme, im Zweifelsfall dem Votum Rußlands oder Chinas im UN-Sicherheitsrat mehr Gewicht zu geben als der Stimme der eigenen Bündnispartner. [ Vgl. Karl Lamers, Zehn Bemerkungen zu den außenpolitischen Erfahrungen des wiedervereinigten Deutschland und zur Diskussion über sein außenpoliti sches Selbstverständnis, unv. Manuskript, Bonn (August 1992), bes. S. 4; ders., Zum Einsatzzweck deutscher Streitkräfte, unv. Manuskript, Bonn (11. Januar 1993) sowie auch Jürgen Rüttgers, Elemente einer neuen Friedenspolitik, unv. Manuskript, Bonn.]

In jedem Fall wurde durch die Argumentation besonders seitens der CDU/CSU deutlich, daß ein verfassungsrechtlich abgesicherter breiter Handlungsspielraum politisch insbesondere eingefordert wurde, um Deutschlands Bündnisfähigkeit sicherzustellen, vor allem im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozeß. Der Zusammenhang zum Problemkreis des zukünftigen Verhältnisses zur NATO bzw. zur EG/WEU ist also evident, wobei die Schwerpunktverlagerung in der Argumentation auf die angestrebte Europäische Union meine oben angedeutete These zu bestätigen scheint, daß mittelfristig auf konservativer Seite dieser vor der NATO der Vorrang eingeräumt werden könnte.

Bei aller Vorsicht im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Ergebnisse von Meinungsumfragen kann man aber doch feststellen, daß höchstens ein Fünftel der Bevölkerung bereit wäre, Kampfeinsätze der Bundeswehr außerhalb der Landes- bzw. NATO-Verteidigung mitzutragen. Immerhin wäre aber die Hälfte für Blauhelm-Einsätze der Bundeswehr zu gewinnen. Selbst bei den Bundeswehroffizieren scheint die Mehrheit für Kampfeinsätze im Auftrag der UNO nicht gerade überwältigend zu sein. [ Vgl. Der Spiegel Nr. 27 vom 29. Juni 1992, S. 44, Der Spiegel Nr. 44 vom 26. Oktober 1992, S. 61, Renate Köcher, "Breite Mehrheit für Blauhelm-Einsätze deutscher Soldaten", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Februar 1993, infas-Umfrage zum Einsatz der Bundeswehr in Somalia sowie zur allgemeinen Betei ligung an UN-Einsätzen, Mitteldeutscher Rundfunk 3. Programm Sendung Rück spiegel vom 15. Mai 1993.] Anscheinend haben sich die Deutschen so darauf eingestellt, sich von militärischen Engagements fernhalten zu können, daß ihnen ein Umdenken jetzt doch sehr schwerfällt.

Da ein Kompromiß mit der SPD-Opposition nicht möglich erschien, die Öffentlichkeit auf Bundeswehreinsätze wenig vorbereitet war, andererseits die Erwartungen an die Deutschen seitens des Auslands aber stiegen, versuchte die Bundesregierung in einer Art Salami-Taktik, den Einsatzbereich der Bundeswehr schrittweise auszubauen. Diese Strategie hatte jedoch gravierende Nachteile:

Erstens war das Parlament in den meisten Fällen am Entscheidungsprozeß überhaupt nicht beteiligt, befand sich also in einer schlechteren Lage als im Falle einer Grundgesetzänderung nach dem Modell des Koalitionsentwurfs;

zweitens führte dies dazu, daß die Politik zunehmend in den Bereich des Bundesverfassungsgerichts verlagert wurde, da die SPD-Opposition in drei Fällen, und sogar die mitregierende FDP in einem Fall, die obersten Richter in Karlsruhe anriefen;

drittens verwickelte sich die Regierung zunehmend in Widersprüche, was besonders im Falle des AWACS-Einsatzes deutlich wurde, als die FDP gegen die eigene Regierung klagte;

viertens kam die Bundeswehr vornehmlich gerade nicht - wie dies von der CDU/CSU eigentlich gefordert wird - dort zum Einsatz, wo die deutsche Interessenlage evident war, sondern in außereuropäischen Gebieten, die für Deutschland keine sicherheitspolitische Priorität darstellen;

fünftens setzte sich die Regierung dem Vorwurf aus, Bundeswehreinsätze mit dem falschen Etikett zu versehen, was besonders im Falle des Somalia-Einsatzes deutlich wurde, der sicherlich kaum als rein humanitär zu kennzeichnen ist;

sechstens schließlich wurden die Soldaten in eine schwierige Lage versetzt, indem sie in Fällen eingesetzt wurden, deren Verfassungsmäßigkeit nicht eindeutig war.

Im einzelnen kam es zu folgenden Bundeswehreinsätzen:

• seit September 1991 helfen Spezialisten für Verifikation und Transportunterstützung bei den UNSCOM-Verifikationen im Irak;

• seit August 1992 beteiligt sich die Bundesluftwaffe an den Hilfsflügen nach Somalia;

• seit November 1991 beteiligt sich die Bundeswehr mit Ärzten und Sanitätern an der UNO-Mission UNTAC in Kambodscha und betreibt dort seit Juni 1992 ein Krankenhaus für die Blauhelm-Soldaten;

• seit Juli 1992 beteiligt sich die Bundesmarine an den Maßnahmen der NATO und der WEU zur Überwachung des UN-Embargos gegenüber Serbien;

• zum selben Zeitpunkt begann die Bundesluftwaffe, an den Hilfsflügen nach Sarajevo teilzunehmen;

• seit April 1993 beteiligen sich deutsche Soldaten als Teil des multinationalen AWACS-Aufklärungsverbandes der NATO an der Durchsetzung des von der UNO verhängten Flugverbots über Bosnien;

• seit Mai 1993 nehmen deutsche Blauhelm-Soldaten an der UNO-Mission in Somalia teil und sollen dort die Aufgabe haben, ein indisches Kontingent von ihrem Lager in Belet Huen aus logistisch und medizinisch zu unterstützen. [ Einen guten Überblick über diese Einsätze bietet: "Helfen, sichern und das Be sondere wagen", in: Informationen für die Truppe Nr. 12/1992, S. 20-35; sowie Stefan Kornelius, "Ein mehrfach ungewisses Abenteuer", Süddeutsche Zeitung vom 18. Mai 1992, S. 4.]

Im Falle des Adria-Einsatzes erhob die SPD Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, wurde jedoch zunächst abgewiesen, ohne daß das Gericht zu einer endgültigen Entscheidung kam. Besonders grotesk war der Fall des AWACS-Einsatzes, da hier die FDP gegen die eigene Regierung klagte. Sie war politisch für den Einsatz, insbesondere wegen der Bündnisfähigkeit Deutschlands in der NATO, war sich rechtlich jedoch nicht sicher, ob dieser Einsatz vom Grundgesetz gedeckt sei. [ Vgl. dazu Ole Diehl, "UN-Einsätze der Bundeswehr. Außenpolitische Hand lungszwänge und innenpolitischer Konsensbedarf", in: Europa-Archiv Nr. 8/1993, S. 219-227.] Auch hier wies das Gericht die Klage ab, traf jedoch noch keine endgültige Entscheidung. Schließlich klagte die SPD auch gegen den Somalia-Einsatz der Bundeswehr. In diesem Fall gaben die Richter die Verantwortung praktisch an die Politik zurück und forderten einen Beschluß des Bundestages ein, der dann auch erfolgte. Die Frage, welche Einsätze das Grundgesetz erlaubt, hat das Bundesverfassungsgericht bisher grundsätzlich nicht entschieden. Es ist wahrscheinlich, daß sowohl Regierung als auch Opposition den Spruch des Gerichts zunächst abwarten werden. Wie dieser ausfallen wird, ist kaum vorherzusagen, aber er dürfte mit Sicherheit näher an der CDU/CSU- als an der SPD-Position sein.

Unabhängig davon ist ein politischer Kompromiß in diesem Streit dringend erforderlich, es fällt jedoch schwer, ihn zu skizzieren. Insbesondere ist es kaum vorstellbar, daß die SPD den Koalitionsvorschlag akzeptiert, Kampfeinsätze künftig falls nötig auch ohne UN-Mandat unter Verweis auf Art. 51 UN-Charta durchzuführen. Tatsächlich besteht hier das große Problem, daß dieser Passus praktisch zur Legitimation fast jeder Militäraktion herangezogen werden kann. Auch könnte eine Anwendung dieser Regel die angestrebte Stärkung der Vereinten Nationen unterlaufen. Andererseits machte es wenig Sinn, sich im Zweifelsfalle von einer Zustimmung etwa Chinas im Sicherheitsrat abhängig zu machen, wenn es um rein europäische Belange geht. Wie angedeutet geht es der Koalition aber auch um die künftige Bündnisfähigkeit Deutschlands. Ob die Bundesregierung sich im Dreieck Washington-Paris-Bonn mehr Handlungsoptionen und mehr Einfluß erarbeiten kann hängt davon ab, wie die Frage der verfassungsrechtlichen Beschränkungen gelöst wird. So konnte Deutschland nicht ernsthaft davon ausgehen, das Kommando des „Rapid Reaction Corps" der NATO etwa auf Rotationsbasis mit anderen Alliierten anzustreben, wenn unklar ist, ob sich Deutschland an einem Einsatz dieses Verbandes außerhalb der NATO beteiligen könnte. Ähnliches gilt für das Euro-Korps, das ebenfalls u.a. zu friedensherstellenden Einsätzen außerhalb des NATO-Gebietes zum Einsatz kommen können soll.

Trotz der angeführten Kritik spricht eine wichtige Überlegung für den Ansatz der Regierungskoalition. In einer Zeit schwieriger Transformation, während der heute möglicherweise noch gar nicht vorstellbare Konflikte auftreten können, sollte Deutschland sich nicht von vornherein verfassungsmäßige Beschränkungen auferlegen, die seine Beteiligung an militärischen Kampfeinsätzen im UN-Rahmen verbieten würden. Das würde nicht bedeuten, daß sich Deutschland automatisch an allen möglichen militärischen Einsätzen beteiligt. Dies müßte vielmehr in jedem einzelnen Konflikt politisch entschieden werden.


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