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[AUSSENPOLITIKFORSCHUNG]
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I. Wahlen in Polen

Bereits bei den ersten freien Wahlen am 27. Oktober 1991 tat die polnische Bevölkerung ihr Wahlverhalten kund, daß sie zu weiteren Opfern und Entbehrungen im Interesse eines raschen Überganges zur Marktwirtschaft nicht bereit war. Die überwiegende Mehrheit lehnte schon damals die Fortsetzung der bisherigen Reformpolitik in Form einer „Schocktherapie" ab. Kaum 9% der Wahlberechtigten sprachen sich für die Weiterführung des Balcerowicz-Plans aus. Bereits damals wurde die postkommunistische Allianz der Demokratischen Linken (SLD) knapp hinter der Demokratischen Union (UD) von Tadeusz Mazowiecki zweitstärkste politische Kraft im Parlament.

Das neue Parlament (Sejm), das aus den Wahlen von 1991 hervorgegangen war, zeichnete sich sowohl durch Zersplitterung als auch Ausgeglichenheit aus. Die Zersplitterung der politischen Kräfte (29 Parteien im Sejm) hatte mehrere Ursachen: das Wahlgesetz mit modifiziertem Verhältniswahlrecht und kompliziertem Berechnungsverfahren; das Fehlen von Volksparteien mit Massenbasis sowie die niedrige Wahlbeteiligung (43,2%). Keine der Parteien vermochte unter den Bedingungen wirtschaftlicher Depression und wachsender Arbeitslosigkeit die Wähler zu mobilisieren. Andererseits kam eine gewisse Ausgeglichenheit dadurch zustande, daß das Parteienspektrum aus einem zersplitterten Zentrum (Reformbefürworter) sowie zwei starken Flügeln von Reformgegnern - rechts und links - bestand. Insofern kamen die Wahlen praktisch einem Sieg der Reformgegner gleich. Diese Situation barg in sich die Gefahr politischer Instabilität, einerseits weil sich die ursprünglichen Koalitionsvorstellungen nicht verwirklichen ließen und andererseits weil dadurch die politische Rolle des Staatspräsidenten Walesa aufgewertet wurde. Mit seinem Vorschlag (vom November 1991) einer sog. „Kleinen Verfassung" zur Stärkung der Machtposition des Präsidenten begann ein bis heute andauernder Machtkampf zwischen Präsident und Parlament.

Die mühsam zustandegekommene Mitte-Rechts-Koalitionsregierung von Jan Olszewski, die sich auf die Zentrum-Verständigung (PC), die Christlich-Nationale Vereinigung (ZChN), die Bauern-Allianz (PL) und die Bauernpartei (PSL) stützte, war von Anfang an instabil. Sie zerrieb sich zwischen dem von den internationalen Finanzinstitutionen auferlegten Reformprozeß und dem Willen der Bevölkerungsmehrheit, die dieses Wirtschaftsprogramm ablehnte. Viermal scheiterten die Bemühungen um eine große Koalition reformfreudiger Parteien an der Kompromißunfähigkeit Olszewskis. Wegen der Erfolglosigkeit ihrer Wirtschaftspolitik setzte die Regierung auf ideologische Ziele (moralische Erneuerung): Entfernung der Kader der früheren Regierungen von Mazowiecki und Bielecki aus Ämtern und Ministerien und Stärkung des katholischen Fundamentalismus (Abtreibungsfrage). Die Affäre um die Offenlegung der vom früheren Staatssicherheitsdienst angelegten Akten führte schließlich am 5. Juni 1992 zum Sturz der Regierung Olszewski. Olszewski und seine Anhänger gründeten danach mit 16 Parlamentsabgeordneten die Bewegung für die Republik (RdP). Das aus der Demokratischen Union (UP) ausgeschiedene Forum der Demokratischen Rechte (FPD) sowie die Christ-Demokratie (ChD) und der Christliche Volksbund (SLCh) bildeten mit 26 Abgeordneten die Polnische Konvention. Eine Abspaltung der parlamentarischen Fraktion der Polnischen Partei der Bierfreunde (PPPP) ließ die neue Fraktion Polnisches Wirtschaftsprogramm (PPG) mit 12 Abgeordneten entstehen.

Diese Veränderungen haben an den Kräfteverhältnissen im Sejm grundsätzlich nichts geändert. Der von Walesa durchgesetzte neue Ministerpräsident Waldemar Pawlak (PSL) gab nach 33 Tagen den Versuch einer Regierungsbildung auf. Nachdem die rechtsgerichteten Parteien durch den Sturz der Regierung Olszewski ihre Machtpositionen verloren hatten, bot sich die Bildung einer breiteren Zentrumskoalition um Hanna Suchocka (UD) an, mit der sich die Hoffnung auf eine längerfristige politische Stabilität verband.

Die am 10. Juli 1992 gewählte Regierung Suchocka setzte sich zusammen aus Vertretern der Demokratischen Union (UD), der Partei der Christ-Demokraten (PChD), der Christlich-Nationalen Vereinigung (ZChN), des Liberal-Demokratischen Kongresses (KLD), der Bauern-Allianz (PL), des Polnischen Wirtschaftsprogramms (PPG) und des Christlichen Volksbunds (SLCh). Die Spannungen zwischen Regierung und Arbeiterschaft nahmen jedoch weiter zu. Die Koalition Suchockas schrumpfte zusammen, als die Bauern-Allianz (PL) die Minderheitsregierung verließ. Das neue Privatisierungsprogramm konnte im Frühjahr 1993 nur mit den Stimmen der oppositionellen Allianz der Demokratischen Linken (SLP) verabschiedet werden. Nachdem sich der Liberal-Demokratische Kongreß (KLD), das Polnische Wirtschaftsprogramm (PPG) sowie die Liberale Fraktion der Zentrum-Verständigung (PC) in einer neuen Fraktion als Polnisches Liberales Programm (PPL) zusammengeschlossen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Polnischen Konvention (KP) bekundet hatten, verringerten sich die Chancen für die Koalition unter Suchocka, durch Kompromiß zu regieren.

Als einzige Alternativen blieben: entweder die Vorverlegung der für 1995 geplanten Wahlen oder eine autoritäre Präsidialherrschaft, wie sie von Präsident Walesa angestrebt wurde. Das im November 1992 in Kraft getretene provisorische Verfassungsgesetz (sog. „Kleine Verfassung") entsprach nicht den Erwartungen Walesas, da es einen Kompromiß zwischen Parlamentarismus und Präsidialsystem darstellt. Angesichts der gegensätzlichen Vorstellungen der politischen Kräfte blieb weiterhin offen, wann in Polen eine endgültige neue Verfassung in Kraft treten kann. So entschloß sich Präsident Walesa im Juni 1993, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben.

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1. Wirtschaftslage

Vor den Neuwahlen stellte sich Polen als einziges Land Osteuropas dar, dem es seit dem Systemwechsel gelungen ist, den Produktionsrückgang zu stoppen und sogar eine Produktionssteigerung zu erreichen. Im I. Halbjahr 1993 stieg die Industrieproduktion nach offiziellen Angaben gegenüber dem gleichen Zeitraum 1992 um fast 8%. Allerdings erreichte der Produktionswert noch nicht wieder das Niveau von 1990. Ob diese positiven Meldungen über Produktions- und Produktivitätssteigerungen am Vorabend der Wahlen den Realitäten entsprechen, ist schwer zu verifizieren. Mit anderen Wirtschaftsdaten steht Polen nach Einführung der Schocktherapie (Preisfreigabe, Einfrieren der Löhne, Binnenkonvertibilität des Zloty) nicht besser da als andere osteuropäische Länder. Insofern kann von einem polnischen Wirtschaftswunder keine Rede sein.

Den polnischen Wirtschaftspolitikern gelang es zwar, die Hyperinflationsrate von über 1.000% im Jahre 1989 erheblich zu senken, dennoch bewegt sich die Inflation weiterhin auf „normalem" osteuropäischen Niveau (1992 = 44%). Wie sich die im Juli 1993 eingeführte Mehrwertsteuer auf Geldentwertung und Preissteigerungen auswirkt, ist noch offen.

Wie in anderen Gebieten Osteuropas kommt auch in Polen die Privatisierung großer Staatsbetriebe mit mehr als 500 Beschäftigten nur schleppend voran. Bislang sind etwa 30% der rund 9.000 Staatsunternehmen davon betroffen. Die Abneigung gegen die Privatisierung ist in der polnischen Gesellschaft groß. Erst im Mai 1993 gelang es der Regierung, mit den Stimmen der Linken (SLP), ein Privatisierungsgesetz zu verabschieden. Diese sog. „Massenprivatisierung" betrifft zunächst 200 und dann weitere 400 Großunternehmen in Rechtsform einer Aktiengesellschaft, wobei 15% der Anteile kostenlos den Belegschaften überlassen werden sollen. Im Gegensatz zu den Pleiten der Großunternehmen blüht der Privatsektor, zu dem fast 50.000 kleinere private und privatisierte Betriebe gehören. Sie erwirtschaften 45% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und beschäftigen 56% aller polnischen Arbeitnehmer. Auf der Schattenseite dieser Entwicklung stehen die nicht zu ermittelnden Daten für die ständig wachsende „Grauzone" der privaten Unternehmungen (Wirtschaftskriminalität).

Eine weitere Schwachstelle der polnischen Wirtschaft ist der Außenhandel, der 1992 noch zum Wachstum beitrug. 1993 waren die polnischen Exporte jedoch rückläufig. Dagegen nahmen die polnischen Importe erheblich zu. Die Einführung der Mehrwertsteuer hat die Importe zusätzlich angeheizt. Dies führte bereits im I. Halbjahr 1993 zu einem Handelsbilanzdefizit von fast 800 Mill. Dollar, was zur Verminderung der Devisenreserven beitrug. Diese Verschlechterung der Außenhandelsrelationen könnte den Staat zu einer größeren Geldabwertung verleiten.

Eine weitere Schwachstelle ist der Staatshaushalt, dessen kumuliertes Defizit sich im I. Halbjahr 1993 auf 31 Billionen Zloty (15 Mrd. Dollar) belief. Von der Höhe der Neuverschuldung des Staatshaushalts hängt jedoch nicht zuletzt die Auszahlung von IMF-Krediten ab. Die Entscheidung des IMF beeinflußt wiederum die Haltung westlicher Regierungen (Pariser Klub) und westlicher Geschäftsbanken (Londoner Klub) hinsichtlich der Behandlung polnischer Schulden. Und von dieser Haltung hängt wiederum die Risikobereitschaft des Auslandskapitals im Hinblick auf Privatinvestitionen in Polen ab.

Hauptverlierer der Schocktherapie sind die Arbeitnehmer, deren soziale Lage als das eigentliche Negativum der polnischen Wirtschaftsentwicklung zu betrachten ist. Wie zu Zeiten von „Solidarnosc" - streiken auch heute wieder Bergarbeiter, Ärzte, Lehrer und Bauern in der Hoffnung, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. Ihre Reallöhne liegen im Durchschnitt bei 64% des Niveaus von 1989. Besonders schlagen die Wohnkostensteigerungen zu Buche, die den Spielraum für andere Ausgaben einengen. Auch der nominale Rentenzuwachs geht zurück. Die Arbeitslosenquote lag im I. Halbjahr 1993 bei 14,6%. Zum Jahreswechsel 93/94 wird mit rund 3 Mill. Arbeitslosen gerechnet. Vor diesem sozialen Hintergrund war es nicht verwunderlich, daß die Schocktherapie - nicht wegen ihrer technischen Schwierigkeiten, sondern wegen ihrer Methoden - die Wähler gegen die neue Elite aufbrachte.

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2. Wahlergebnisse

Um die bisherige Zersplitterung der Kräfte im Parlament zu beenden, wurde ein neues Wahlgesetz beschlossen, das die Einführung einer 5%-Sperrklausel vorsah. Bei Wahlbündnissen mehrerer Parteien galt eine 8%-Hürde. Von den 460 Abgeordneten im Sejm wurden 391 in 52 Wahlkreisen und 69 über eine Landesliste der Wahlkreislisten ermittelt. Für die 391 Mandate standen 8.808 Kandidaten zur Wahl. Um die 69 Mandate der Landesliste bewarben sich 26 Parteien. Im 100köpfigen Senat sind 47 Provinzen (Woiwodschaften) durch jeweils zwei Senatoren, die Provinzen Warschau und Katowice durch jeweils drei Senatoren vertreten. Für den Senat stellten sich 864 Kandidaten zur Wahl.

Von den 222 registrierten Parteien nahmen, einzeln oder in Wahlbündnissen, folgende 16 Gruppierungen an den Wahlen teil:

1. Allianz der Demokratischen Linken (SLD)

Vorsitzender: Wlodzimierz Cimoszewicz

• Sozialdemokratie der Republik Polen (SDRP)

Vorsitzender: Aleksander Kwasniewski

• Rat der Gewerkschaften der Nationalen Verständigung (OPZZ)

Vorsitzende: Ewa Spychalska

• Gruppe der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) mit Piotr Ikonowicz

• Polnischer Lehrerverband (ZNP)

• Demokratischer Frauenbund

• Bund der Freien Gewerkschaften

• Bergarbeitergewerkschaft

• Polnische Studentenvereinigung

(insgesamt 28 Parteien und Organisationen)

2. Polnische Bauernpartei (PSL)

Vorsitzender: Waldemar Pawlak

• Gewerkschaft „Solidarität 80"

• Gruppe der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS)

• Nationalunion der Bauern-Zirkel

• Gruppe der Demokratischen Partei (SD)

• Gruppe der Polnischen Grünen Partei

3. Koalition für die Republik Polen (KdR)

• Bewegung für die Republik Polen (RdR)

Vorsitzender: Jan Olszewski

• Freiheitspartei Vorsitzender: Kornel Morawiecki

• Oberschlesische Christ-Demokratie

Vorsitzender: Kazimierz Switon

• Polnisches Christlich-Demokratisches Bauernforum (PFChD)

Vorsitzender: Tadeusz Okrasa

• Patrimonium (Ojcowizna)

Vorsitzender: Roman Bartoszcze

• Soldatenvereinigung Pilsudskis

Vorsitzender: Zbigniew Motyczynski

• Partei der Polnischen Demokratie (SDP)

Vorsitzender: Ziemowit Gawski

4. Katholisches Wahlkomitee „Vaterland" (Ojczyzna)

• Christlich-Nationale Union (ZChN)

Vorsitzender: Wieslaw Chrzanowski

• Polnische Konvention (KP), dazu gehören:

Konservative Partei (PK)

Vorsitzender: Aleksander Hall

Partei der Christ-Demokraten (PChD)

Vorsitzender: Pawel Laczkowski

Christliche Bauernallianz (SLCh)

Vorsitzender: Jozef Slisz

Föderation des Polnischen Unternehmertums (FPP)

5. Polnische Einheit (Zjednoczenie Polskie)

• Bewegung der Dritten Republik Polens (RTR)

Vorsitzender: Jan Parys

• Christlich-Demokratische Arbeiterpartei (ChDSP)

Vorsitzender: Wladyslaw Sila-Nowicki

• Zentrum-Verständigung (PC)

Vorsitzender: Jaroslaw Kaczynski

6. Demokratische Union (UD)

Vorsitzender: Tadeusz Mazowicki

7. Polnische Bauernpartei - Bauernallianz (PSL-PL)

Vorsitzender: Gabriel Janowski

8. Konföderation für ein Unabhängiges Polen (KPN)

Vorsitzender: Leszek Moczulski

9. Union der Arbeit (UP)

Vorsitzender: Ryszard Bugaj

• Gruppe der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS)

• Demokratisch-Soziale Bewegung (RDS)

Vorsitzender: Zbigniew Bujak

• Frauenliga

Vorsitzende: Izabella Nowacka

10. Union für die Realpolitik (UPR)

Vorsitzender: Janusz Korwin-Mikke

11. Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität (NSZZ Solidarnosc)

Vorsitzender: Marian Krzaklewski

12. Nichtparteien-Block zur Unterstützung der Reformen (BBWR)

Vorsitzender: Andrzej Olechowski

13. Liberal-Demokratischer Kongreß (KLD)

Vorsitzender: Donald Tusk

14. Bauernunion „Selbstverteidigung" (Samoobrona)

Vorsitzender: Andrzej Lepper

15. Partei X

Vorsitzender: Stanislaw Tyminski

16. Nationale Minderheiten

• Sozial- und Kulturvereinigung des Volkes Deutscher Abstammung in der Woiwodschaft Czestochowa

• Deutsche Arbeitsgemeinschaft „Versöhnung und Zukunft"

• Sozial- und Kulturvereinigung der Deutschen Minderheit in Opole (Oppeln)

• Sozial- und Kulturvereinigung der Deutschen in der Woiwodschaft Katowice

• Vereinigung der Deutschen Minderheit Olsztyn

• Weissrussischer Bund

Die Beteiligung an den Wahlen vom 19. September 1993 war höher als 1991. Sie lag bei 52% (1991:43,2%). 4,3% der über 14,4 Mill. abgegebenen Stimmen waren ungültig. Aus dem Wahlergebnis ergab sich für die Sitzverteilung im neuen polnischen Sejm (Unterhaus) folgendes Bild:

Sitzverteilung im Sejm
(insgesamt 460 Sitze)

Parteien / Koalitionen in %

Anzahl der Sitze

Stimmenanteil

Allianz der Demokratischen Linken (SLD)

171

20,41

Polnische Bauernpartei (PSL)

132

15,40

Demokratische Union (UD)

74

10,59

Union der Arbeit (UP)

41

7,28

Konföderation für ein Unabhängiges Polen (KPN)

22

5,77

Nichtparteien-Block zur Unterstützung der Reformen (BBWR)

16

5,41

Nationale Minderheiten
(vier deutsche Organisationen)

4

0,71

An der 5 bzw. 8%-Hürde scheiterten folgende Parteien und Wahlbündnisse:

Parteien/Koalitionen

Stimmenantei in %

Katholisches Wahlkomitee „Vaterland"

6,37

Gewerkschaft Solidarität

4,90

Katholisches Wahlkomitee „Vaterland"

4,42

Liberal-Demokratischer Kongreß

3,99

Union für Realpolitik

3,18

Bauernunion „Selbstverteidigung"

2,78

Partei X

2,74

Koalition für die Republik

2,70

Polnische Bauernpartei - Bauernallianz

2,37

Die Wahlen brachten den bis dahin für die Reformpolitik Polens verantwortlichen Parteien und Politikern eine deutliche Niederlage. Die neue Elite hatte die Erwartungen enttäuscht und ihre Versprechungen nicht eingelöst. Die Bürger hatten nur die Alternative, entweder die regierenden Rechtsparteien oder die Reformkommunisten zu wählen. Eine dritte Alternative gab es nicht. Die Polen wählten die Reformkommunisten. Das Wahlergebnis zeigte, daß die Mehrheit der Wähler sich den Systemwechsel anders vorgestellt hatte. Es zeigte aber auch, daß die parlamentarische Demokratie in Polen funktioniert. Die Wähler verwarfen nicht nur die bisherige Reformpolitik. Das Wahlergebnis machte auch den Autoritätsverlust der drei Hauptstützen des postkommunistischen Regimes deutlich: Solidarnosc, Kirche und Staatspräsident. Die Wahlen markierten das Ende des Zerfallsprozesses der ehemals mächtigen Solidarnosc-Bewegung, die nur der Kampf gegen das kommunistische Regime zusammengehalten hatte. Nach ihrer Machtübernahme trennten sich die Wege von Populisten, Katholisch-Liberalen, Katholisch-Nationalen und den in der Nähe der Arbeitnehmer verbliebenen Gruppen. Damit wurde das Land unregierbar. Im Zerfallsprozeß der Solidarnosc spielte Staatspräsident Walesa eine nicht unerhebliche Rolle. Einmal an der Macht, fanden sich auch in den Reihen der Solidarnosc politische Abenteurer (Macierewicz, Olszewski u.a.), die sich nur für die Erhaltung ihrer Macht interessierten und Haß predigten. Auch die polnische Kirche trug erheblich zum „Linksrutsch" bei den Wahlen bei. Die Kirche, die während der kommunistischen Diktatur als „Quasi-Partei" politisiert hatte, war nicht bereit, auf diese Rolle in der neuen Ära zu verzichten. Vielmehr versuchte sie, das von den Kommunisten zurückgelassene ideologische Vakuum auszufüllen.

Die Quittung hierfür bekamen die katholischen Parteien. Im katholischsten Land Europas gelang es der Koalition von vier katholischen Parteien nicht, auch nur einen Vertreter in das neue Parlament zu entsenden. Außerhalb des Parlaments blieb auch die Solidarnosc, die keine Massenbewegung mehr ist, sondern lediglich eine unter mehreren Gewerkschaftsorganisationen. Auch die Liberalen (KLD), die in den bisherigen Solidarnosc-Regierungen mehrere Wirtschaftsminister und einen Ministerpräsidenten (Bielecki) gestellt hatten, schafften die 5-Prozent-Hürde nicht. Die großen Verlierer der Wahlen waren - neben der katholischen Kirche - jedoch die Rechtsparteien, vor allem die Zentrum-Verständigung (PC) und die Koalition für die Republik (KdR). Vom rechten Spektrum konnten nur die populistische Konföderation für ein Unabhängiges Polen (KPN), die „Partei des Staatspräsidenten" (BBWR) und die Demokratische Union (UD), die das gemäßigte Zentrum vertritt, Mandate gewinnen.

Im neuen Sejm verfügen die Mitte-Links-Parteien, die Allianz der Demokratischen Linken (SLD), die Polnische Bauernpartei (PSL) und die Union der Arbeit (UP), über eine komfortable Mehrheit. Von ihnen ist eine Modifizierung, nicht aber eine radikale Umkehr in der Reformpolitik zu erwarten. Sie versprachen Realpolitik statt Demagogie beim Übergang zur Marktwirtschaft.

Zur Bildung der Regierungskoalition von SLD und PSL gab es im Parlament keine klare zahlenmäßige Alternative. Diese beiden stärksten Parteien im Parlament schlossen die Koalitionsvereinbarung, nachdem die Bemühungen von PSL und UP, mit der Demokratischen Union (UD) eine Koalition zu bilden, gescheitert waren. Obwohl die sozialdemokratischen Programme von SLD und UP nahezu identisch sind, schloß sich die UP wegen Meinungsverschiedenheiten über das Privatisierungsprogramm der Koalitionsvereinbarung von SLD und PSL nicht an. Aber auch ohne UP fehlen der SLD und PSL nur vier Stimmen zur Zweidrittelmehrheit im Parlament, die zur Verabschiedung einer neuen demokratischen Verfassung notwendig ist.

Aus diesem Grunde zeichnet sich eine neue Runde im Machtkampf zwischen Regierungskoalition und Staatspräsident ab. Während SLD und PSL im Rahmen der geplanten neuen Verfassung für ein Machtgleichgewicht zwischen Parlament und Staatspräsident eintreten, strebt Walesa die Festschreibung des Primats des Präsidentenamtes an. Das Bestreben Walesas, ein autoritäres Präsidialregime zu schaffen, zeigte sich in der Gründung des Wahlblocks BBWR. Die Bildung eines Wahlblocks als Ersatzpartei ist eine Erfindung des polnischen Staatsgründers Marschall Pilsudski (1926). Auch Boris Jelzin greift z. Zt. in Rußland auf sie zurück. In Polen scheiterte Walesa zunächst damit. Mit 16 Abgeordneten bildet die BBWR im Sejm nur eine kleine Minderheit.

Die klare Mehrheit im Parlament erlaubt es den Regierungsparteien, die künftige Verfassung praktisch frei nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Betroffen ist dabei auch die Frage, ob der 100köpfige Senat (Oberhaus), in dem SLD und PSL mit insgesamt 73 Senatoren vertreten sind, abgeschafft werden soll oder nicht. Der Senat wurde 1989 in einer besonderen historischen Situation geschaffen und hat heute keine politische Bedeutung mehr.

Die Bildung der neuen Koalitionsregierung erfolgte - nach schwer erkämpften Kompromissen zwischen SLD und PSL - relativ schnell. Zuvor war auf der ersten Sitzung des neuen Parlaments Jozef Oleksy (SDRP: Sozialdemokratische Partei der Republik Polen) zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt worden. Dem 21köpfigen Kabinett des Ministerpräsidenten Waldemar Pawlak (PSL) gehören sieben Mitglieder der PSL, sechs der SLD und ein Minister der UP an. Weitere fünf Minister sind parteilos. Aufgrund der provisorischen „kleinen Verfassung" bestimmte Präsident Walesa die Minister des Inneren und der Verteidigung sowie Andrzej Olechowski vom Wahlblock BBWR zum neuen Außenminister.

Ob die neue Regierung den Erwartungen gerecht werden und dem Land politische Stabilität sichern kann, ist abzuwarten. Sie ist stark von Präsident Walesa abhängig. Außerdem lassen sowohl die Koalitionspartner als auch die SLD unter sich Geschlossenheit vermissen. Die Vorlage eines Regierungsprogramms ist vor Januar 1994 nicht zu erwarten. Aus dem Wirtschaftsprogramm der Koalitionsvereinbarung geht allenfalls hervor, daß das Haushaltsdefizit nur langfristig, durch Einnahmen aus dem Wirtschaftswachstum, Schuldeneintreibung, Rationalisierung der Ausgaben und Modifizierung des Steuersystems, gesenkt werden soll. Zu den geplanten sozialen Maßnahmen zählen die Reform der Familienhilfe, die Unterstützung des Wohnungsbaus, die Erhöhung der Mindestrenten sowie Steuererleichterungen für die unteren Einkommensgruppen. Hinzu kommen Krediterleichterungen für Kleinunternehmen sowie staatliche Maßnahmen zur Stabilisierung der Landwirtschaft und des Lebensmittelmarktes. Offen bleibt dabei, ob der IMF bereit sein wird, ein Programm zu unterstützen, bei dem das Haushaltsdefizit die 5-Prozent-Marke des BIP übersteigt.

Obwohl die Einzelheiten der Wirtschaftspolitik erst nach der Haushaltsdebatte im Januar 1994 bekannt werden, ist zu erwarten, daß die Pawlak-Regierung grundsätzlich am bisherigen Reformkurs (Restriktion mit dem Ziel, die Inflation und das Haushaltsdefizit einzudämmen) festhält. Die neue Regierung wird ihr Wahlversprechen, die sozialen Ausgaben zu erhöhen, einzulösen versuchen, indem sie die Budgeteinnahmen - und nicht das Defizit - steigert. Möglichkeiten hierfür bieten die Steuereinnahmen, da für 1993 und 1994 laut Prognose ein 4prozentiges Wirtschaftswachstum zu erwarten ist. Auch das Haushaltsdefizit dürfte 1993 geringer ausfallen (4,4% der BIP) als erwartet. Schwierigkeiten dürften der neuen Regierung jedoch die Zinslasten der auf 15 Mrd. Dollar angewachsenen inneren Staatsverschuldung der letzten drei Reformjahre sowie das Außenhandelsdefizit (bis Ende 1993 2 Mrd. Dollar) bereiten.

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3. Außenbeziehungen

Im Unterschied zur Wirtschafts- und Sozialpolitik ist im Falle der polnischen Außen- und Sicherheitspolitik zu erwarten, daß ihre Linie auch unter der neuen Regierung unverändert bleibt. Sie stützt sich auf die neue, im November 1992 vom Landesverteidigungskomitee verabschiedete Militärdoktrin. Daraus geht hervor, daß Polen keinen Staat als Feind ansieht, gegenüber keinem Staat territoriale Forderungen stellt und die gegenwärtigen Grenzen in Europa anerkennt. Geplant ist der Aufbau eines eigenen Verteidigungssystems. Die Armee, die in Friedenszeiten aus 200.000 Mann, im Kriegsfall aus 1 Mill. bestehen soll, wird auf dem polnischen Territorium gleichmäßig verteilt. Darüber hinaus sollen eine schnelle Eingreiftruppe, eine Nationalgarde sowie Einheiten für den Katastrophenfall (Polizei, Grenzschutz, Feuerwehr) gebildet werden.

Polens strategisches Ziel ist die Einbindung des Landes in die politischen und wirtschaftlichen Strukturen Europas (NATO, EU, WEU und KSZE). Die eindeutige Option Polens - als ostmitteleuropäisches Land - für Westeuropa impliziert, daß Warschau mit der Möglichkeit einer Bedrohung der polnischen Souveränität aus Osteuropa rechnet. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß die Staaten an der polnischen Ostgrenze (Rußland, Weißrußland und die Ukraine) über atomare Massenvernichtungswaffen verfügen und daß außerdem bisher unklar ist, ob diese Staaten ihren Verpflichtungen zur konventionellen Rüstungsbegrenzung nachkommen. Gleichzeitig schließt Polen an seiner Ostgrenze auch Konflikte zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht aus, die sich nach Polen (z.B. in Form einer Massenflucht) ausbreiten könnten. Da der Westen nicht bereit ist, die Sicherheit Polens zu garantieren, bemüht sich Warschau, die Sicherheit des Landes entweder durch bilaterale Verträge (z.B. mit der Ukraine) oder durch Zusammenarbeit im Rahmen der Visegrader Gruppe (Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei) zu gewährleisten.

Das Streben Polens nach Mitgliedschaft in der NATO erklärt sich aus der Furcht, daß Polen - wie im Laufe seiner Geschichte bereits des öfteren - abermals zwischen Rußland und Deutschland aufgerieben werden könnte. Polen ist daher einerseits interessiert an einer weiteren Stationierung amerikanischer Truppen auf deutschem Boden im Rahmen des NATO-Vertrages, andererseits drängt es auf den Abzug der letzten russischen Soldaten von polnischem Territorium. 7.000 russische Soldaten befinden sich noch in Polen als Transithilfe für die in Deutschland stationierten russischen Truppen. Erst allmählich wurde den Sicherheitspolitikern in Warschau klar, daß die angestrebte NATO-Mitgliedschaft eine Illusion bleibt. Auch das NATO-Angebot „Partnerschaft für den Frieden" bietet dem Land keine Sicherheitsgarantie.

Daß dem Sicherheitsbedürfnis Polens aufgrund seiner geopolitischen Lage enge Grenzen gesetzt sind, zeigten jüngste politische Entwicklungen. Dem deutsch-polnischen Abkommen über die Rückführung von Asylbewerbern vom Mai 1993 stimmte Polen nur unter Druck aus Bonn zu. Aus der Sicht der polnischen Öffentlichkeit bringt dieses Abkommen nur für Deutschland Vorteile, während Polen letztlich vom Transitland zum Zielland für Flüchtlinge aus aller Welt werden könnte. Neue (alte) polnische Ängste werden auch genährt durch den wachsenden Rechtsextremismus in Deutschland, der die Diskussion um die deutsche Minderheit in Polen und die polnische Westgrenze neu aufleben lassen könnte, sowie den jüngsten Vorschlag des russischen Außenministers Kosyrew, eine deutsch-russische Achse zu bilden.

Besonders beunruhigt fühlen sich die Polen durch das sich anbahnende Zusammenspiel zwischen dem Westen und Jelzins Rußland. Polens Sorge, daß die vom Westen angestrebte Stabilisierung Rußlands auf Kosten polnischer Interessen erfolgen könnte, ist nicht grundlos, zumal das polnische Wirtschaftswachstum sehr stark von russischen Erdgaslieferungen und stabilen Absatzmärkten in Rußland abhängt. Moskaus Vorschlag, die NATO und Rußland sollten gemeinsam die Sicherheit Polens garantieren, empfindet Warschau als Einschränkung der polnischen Souveränität. Moskaus Veto gegen den NATO-Beitritt Polens wurde von den NATO-Ländern, einschließlich Deutschland, dem Hauptbefürworter einer NATO-Erweiterung nach Ostmitteleuropa, mit Verständnis aufgenommen. Die NATO verzichtete damit auf die Rolle eines Bollwerks gegen ein eventuelles Wiederaufleben der russischen Bedrohung. Und zwar zu einem Zeitpunkt, da sich der Machtkampf im Kreml (im Oktober 1993) mit Hilfe der russischen Armee zugunsten Jelzins entschied. Die Rückkehr der russischen Militärs auf die politische Bühne wird auch von der neuen (im Detail unveröffentlichten) russischen Militärdoktrin unterstrichen, in der Polen angeblich als ein Hauptgefahrenherd für die Sicherheit Rußlands dargestellt wird. Auch die russischen Wahlergebnisse deuten aus polnischer Sicht darauf hin, daß Präsident Jelzin gezwungen sein könnte, mit den großrussischen Nationalisten Kompromisse einzugehen mit dem Ziel, verstärkt russische Sicherheitsinteressen in Ostmitteleuropa wahrzunehmen.

Die Anerkennung der russischen Interessen und die Annahme des russischen Vorschlages zur Schaffung eines sicherheitspolitischen Kondominiums in Ostmitteleuropa durch die USA würde aus polnischer Sicht bedeuten, daß der Westen Ostmitteleuropa, wie zu Zeiten des Kalten Krieges, der russischen Einflußsphäre überläßt. Wenn der Westen einen NATO-Beitritt Polens sowie die Gewährung von Sicherheitsgarantien ablehnt, ordnet sich die NATO den von Moskau gestellten Bedingungen unter. Dadurch können die traditionellen (imperialen) Sicherheitsbedürfnisse Rußlands in Ostmitteleuropa ungehindert zur Geltung kommen. Der Kalte Krieg würde auf diese Weise durch einen Kalten Frieden abgelöst. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht überraschend, daß auch die neu gewählte polnische Regierung das Konzept der gemeinsamen Sicherheitsgarantien durch die NATO und Rußland ablehnt und in der Kontinuität früherer Regierungen einen raschen Beitritt Polens zur NATO anstrebt. Auch für die neue Regierungskoalition haben Souveränität und Sicherheit Polens höchste Priorität in der polnischen Außenpolitik.


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