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[AUSSENPOLITIKFORSCHUNG]
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III. Implikationen

Daß die im vorigen Kapitel diskutierten Gefährdungen die (breit verstandene) Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen können, dürfte in dieser Allgemeinheit unstrittig sein. Gleichwohl besteht nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westlichen Industrieländern eine Kluft zwischen Problemdruck und Handeln.

Sie wurzelt zum einen in der erwähnten Selbstzufriedenheit der - verglichen mit dem Süden und Osten - privilegierten Mehrheit in den reichen westlichen Demokratien. Daß sich dies wohl kaum grundlegend ändern wird, zeigen die Lehrstücke der deutschen Vereinigung und die Entwicklung in Europa nach dem Kalten Krieg. Der innerdeutsche (West-Ost-) Nettofinanztransfer betrug 1993 fast 140 Mrd. DM oder rund 4,5 % des westdeutschen Bruttosozialprodukts (BSP). [ Vgl. Deutsche Bundesbank, Geschäftsbericht 1993, Frankfurt a.M. 1994, S. 41.] Es ist gänzlich undenkbar, daß die Bundesbürger außerhalb des nationalen Kontexts auch nur annähernd vergleichbare Wohlstandseinbußen akzeptieren würden. [ Angesichts des verkrampften Verhältnisses vieler (West-) Deutscher zur Nation ist dieser Kontext im Sinne einer be reitwilligen Solidarität gegenüber Angehörigen der eigenen Nation ohnehin unterentwickelt (vgl. Heinrich August Wink ler, Abschied von einem deutschen Sonderweg - Wider die postnationale Nostalgie, Die Neue Gesell schaft/Frankfurter Hefte , 7/1993, S. 633-636). Die Unterstützung der neuen durch die alten Bundesländer dürfte deshalb auch der Ein sicht entspringen, daß es zu ihr in einem gemeinsamen Staat keine Alternative gibt. Das gilt jedoch international nicht. ] Und wenn nach dem Kalten Krieg die EU-Europäer selbst für ihre östlichen Nachbarn zu einer wirksamen Hilfe durch eine Marktöffnung nur unzureichend bereit sind, unterstreicht dies die engen Grenzen globaler Solidarität.

Die beschriebene Kluft hat jedoch noch andere Gründe. Einer liegt darin, daß den meisten der neu- oder wiederentdeckten Gefährdungen „die Dramatik, die Klarheit und die Unmittelbarkeit einer militärischen Bedrohung" fehlen. [ Vgl. Kennedy (Kap. II, Anm. 2), S. 173; ebenso Tuchman Mathews (Kap. II, Anm. 99), S. 173, Richard H. Ullman, Redefining Security, International Security , Sommer 1983, S. 135 und Wöhlcke (Kap. II, Anm. 3), S. 129.] Im Kalten Krieg gab es Streit über das Ausmaß der militärischen Fähigkeiten und politischen Absichten der Sowjetunion; die Notwendigkeit eines militärischen Gegengewichts war jedoch innerhalb und zwischen den westlichen Staaten nicht grundsätzlich kontrovers, da das Militärpotential des Warschauer Pakts sichtbar, kurzfristig mobilisierbar und für alle existenzbedrohend war. Die Bevölkerungen waren deshalb bereit, für die eigene Rüstung erhebliche finanzielle Opfer und damit materielle Wohlstandsverzichte zu erbringen.

Die sicherheitspolitischen Herausforderungen nach dem Kalten Krieg stellen demgegenüber keine vergleichbar akute und eindeutige Existenzbedrohung dar. So jedenfalls ist die weitverbreitete Wahrnehmung, und sie ist ja auch nicht unberechtigt. Ob die Menschheit wirklich dabei ist, eine gefährliche Klimaänderung zu provozieren, hat bisher niemand in einer Weise aufzeigen können, die ein konzertiertes und konsequentes Gegensteuern angeregt hätte; aber selbst wenn sie langfristig einträte, würden wahrscheinlich nicht wie im Falle eines Nuklearkrieges alle zu den Opfern zählen. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ist höchst beunruhigend, aber daß sie für den Westen einmal den Grad der sowjetischen Bedrohung annehmen könnte, ist nicht absehbar. Dasselbe gilt für Kriege, selbst wenn sie vor unserer Haustür stattfinden. Der Wegfall der kommunistischen Klammer und der konflikteindämmenden amerikanisch-sowjetischen Rivalität mag ihren Ausbruch begünstigen; die Kehrseite ist, daß auch die Gefahr einer Ausweitung regional begrenzter Auseinandersetzungen abgenommen hat. Es ist nicht zuletzt die Kalkulation, daß der Westen durch Kriege anderswo nicht unmittelbar bedroht ist, die seine militärische Zurückhaltung im Balkankrieg erklärt. [ Unverblümt haben dies der amerikanische und britische Au ßenminister öffentlich erklärt. Warren Christopher hat be zogen auf Bosnien unterschieden zwischen einem "strate gischen Interesse" seines Landes, eine Ausweitung des Konflikts auf Nachbarstaaten zu verhindern, und einem "humanitären Interesse", das Leiden der Bevölkerung zu ver ringern (vgl. USPIT , 8.11.1993, S. 9). Sein britischer Amtskollege Douglas Hurd qualifi zierte Bosnien als eine "entsetzliche Tragödie", die aber keine Krise in dem Sinne sei, daß sie den Weltfrieden bedrohe (vgl. Britische Doku mentation , 4.10.1993, S. 2).]

Ein weiterer Grund liegt darin, daß die Sicherheitsgefährdungen zum Teil hausgemacht sind. Im Kalten Krieg gab es eine Bedrohung durch einen äußeren „Feind", der alle gleichermaßen ausgesetzt waren. Ihr Vorrang spiegelte sich darin, daß Sicherheitspolitik fast ausschließlich als militärische Risikovorsorge im Sinne von Abschreckung durch Gegenrüstung verstanden wurde.

Inzwischen ist es üblich geworden, Sicherheit mehrdimensional zu interpretieren. Immer noch stehen aber äußere Quellen der Unsicherheit und Instabilität im Vordergrund: derzeitige und mögliche Entwicklungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und im „islamischen Krisenbogen", „die Waffenproliferation, die Bevölkerungsexplosion und die Völkerwanderungen." [ Auf diese "Hauptdimensionen der neuen Weltunordnung" kon zentriert sich z.B. Michael Stürmer in seinem Vortrag "Globale Aufgaben und Herausforderungen einer 'neuen Welt ordnung' ", abgedruckt in: Forum für Deutschland (Hrsg.), Eine neue Weltordnung - Vor welchen Herausforderungen ste hen Deutschland und die Atlantische Allianz?, Bonn 1993, S. 128-139.] Dabei wird in der Regel nicht unterschlagen, daß und wie westliche Politik problemverschärfend bzw. -entschärfend wirken kann. Der Rigorosität, mit der nach Gefährdungen durch andere „gefahndet" wird, entspricht jedoch selten eine vergleichbare Bereitschaft zur Introspektion, nämlich zum Infragestellen der eigenen, umwelt- und entwicklungspolitisch untauglichen Produktions- und Lebensweise. Das ist verständlich: Es fällt immer schwerer, das eigene Tun oder Lassen als selbstbedrohlich zu akzeptieren - vor allem dann, wenn es für viele mit vielen Annehmlichkeiten verbunden ist.

In diesem Sinne ist die westliche Transformationskrise eine größere Herausforderung, als sie der Kommunismus jemals war: Wurde jener als ein Gegner begriffen, demgegenüber es galt, die Überlegenheit der eigenen Wirtschaftsordnung zu demonstrieren, muß gerade jetzt, nachdem dies gelungen ist, die Erkenntnis ihres selbstgefährdenden Potentials wachsen. Unklar ist jedoch, ob ihre umweltverträgliche Veränderung sozial gerecht im Sinne der Verteilung der Anpassungslasten durchgeführt werden kann. Die Befürchtung einzelner und von organisierten Gruppen, einen übermäßigen Teil dieser Lasten schultern zu müssen, verschleppt die Bildung des notwendigen Reformkonsens.

Das trifft nicht nur für die nationale, sondern auch für die internationale Ebene zu, und zwar sowohl im innerwestlichen als auch im Nord-Süd- und West-Ost-Verhältnis. Kein Staat kann die globalen Herausforderungen, denen er sich ausgesetzt sieht, allein bewältigen. Konsens darüber bedeutet jedoch noch lange nicht Einigkeit darüber, welche Probleme welchen Stellenwert haben und wer welchen Beitrag zur gemeinsamen Krisenüberwindung leistet.

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1. Gefährdungspotentiale

Die vorstehenden Überlegungen können erklären, warum den Politikern die Macht, vor allem aber das Mandat zu einem problemadäquaten Handeln fehlen. In Demokratien erteilen die Wahlbürger ein solches Mandat. Das gelingt nur, wenn der Bürger von zweierlei überzeugt ist: Daß erstens die genannten Gefährdungen sein Wohlergehen berühren oder berühren könnten, und daß zweitens die vorgeschlagenen bzw. getroffenen Antworten in seinem Interesse sind. [ Mit dem Hinweis auf "getroffene Antworten" soll unter strichen werden, daß es nicht nur darum gehen kann, ein Wählermandat auszuführen, das in einer repräsentativen De mokratie ohnehin breit gefaßt ist. Um so nachdrücklicher ist daran zu erinnern, daß de mokratische Verantwortung aus zuüben auch bedeuten kann, Maßnahmen zu ergreifen, die un populär sind. Richtig bleibt aber, daß angesichts der Sank tionsmacht der Wähler ein Regieren gegen den Mehr heits willen dauerhaft nicht möglich ist. Unpopuläres muß deshalb entweder populär oder zumindest tolerierbar gemacht werden.] Der zweite Punkt wird im nächsten Kapitel behandelt. Zunächst muß aufgezeigt werden, ob und in welchem Ausmaß die drei Transformationskrisen als primäre Gefährdungsquellen die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger beeinträchtigen können.

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1.1 Transformationskrise West

Daß und warum die westliche Transformationskrise eine solche Gefährdung darstellt, wurde im vorigen Kapitel ausführlich erläutert. Im Kern geht es darum, daß die derzeitige Form des westlichen Massenwohlstands aus ökologischen und ökonomischen Gründen nur solange aufrechterhalten werden kann, wie ihn die große Mehrheit der Weltbevölkerung nicht hat. [ Harborth spricht deshalb auch von einem "oligarchischen Le bensstandard" (Hans-Jürgen Harborth, Sustainable Develop ment - Dauerhafte Entwicklung, in: Nohlen und Nuscheler (Kap. II, Anm. 81), S. 239).] Die westliche Produktions- und Lebensweise ist nicht globalisierbar, aber weil sie den höchsten Lebensstandard verheißt, bleibt sie das globale Vorbild.

So gesehen beruht einerseits ein Teil des Wohlergehens der Bundesbürger und damit ihrer Sicherheit gerade darauf, daß sich die meisten Mitbewohner unserer Erde aus Armut und damit unfreiwillig umwelt- und ressourcenschonender verhalten. Zugleich liegt darin jedoch eine Gefährdung deutscher Sicherheit: Wer Privilegien genießt, muß grundsätzlich damit rechnen, daß andere daran teilhaben möchten und sie dadurch in Frage stellen. Das gilt sowohl innerstaatlich als auch zwischenstaatlich, und in beiden Fällen läßt sich ein privilegierter Status nur solange bewahren, wie ihn andere als legitim anerkennen oder nicht die Macht haben, ihn zu beseitigen oder zu übernehmen.

Nun ließe sich einwenden, daß die (früher) „Erste Welt" des Westens nicht nur, aber auch wegen ihrer Macht [ Zur asymmetrischen Nord-Süd-Interdependenz vgl. den Ab schnitt "Transforma tionskrise Süd" (Kap. II, Abschn. 2.3).] schon sehr lange sehr gut mit dem steilen West-Süd-Wohlstandsgefälle und dem weniger steilen, aber gleichwohl beträchtlichen West-Ost-Abstand gelebt hat. Zweifel sind jedoch angebracht, daß dies noch lange so gutgehen kann.

Ein erster, gravierender Unterschied zur Vergangenheit, der solche Zweifel begründet, besteht darin, daß der Westen selbst dann nicht so weiter produzieren und konsumieren sollte wie bisher, wenn wider Erwarten der Rest der Welt ihm nicht nacheifern würde. Zur Kurskorrektur gemahnt allein die Überlegung, daß die westlichen Industrieländer als Produzenten oder Konsumenten maßgeblich an Umweltüberlastung und Ressourcenraubbau beteiligt sind. [ Vgl. den Abschnitt "Transformationskrise West" (Kap. II, Abschn. 2.2).] Ob und inwieweit das zu Schäden geführt hat oder führen wird, die jeden Nutzen übersteigen und irreparabel sind, mag nicht eindeutig sein. Weitsichtige Politik sollte es jedoch angesichts seiner möglicherweise katastrophalen Folgen nicht auf einen Irrtum ankommen lassen.

Ein zweiter Unterschied betrifft den Modellcharakter des Westens. In der Vergangenheit wurde sein Wohlstandsvorsprung mit überlegener wirtschaftlicher, technologischer, administrativer und politischer Kompetenz erklärt und gerechtfertigt. Wer zurückblieb, hatte in erster Linie selbst schuld, aber keinem wurde der Anspruch auf einen westlichen Lebensstandard verwehrt. Heute hingegen kann sich der Westen aus Eigeninteresse nicht mehr wünschen, daß seine energieverschwendende Produktions- und Lebensweise das globale Leitbild bleibt.

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1.2 Transformationskrise Ost

Worin liegen aus deutscher Sicht die potentiellen Gefahren einerseits und Chancen andererseits der postkommunistischen Transformationsprozesse? Dafür werden Gründe angeführt, die sich wie folgt argumentativ bündeln lassen:

(a) Das stabilitätspolitische Argument

Es hat zwei Aspekte. Der erste läßt sich als „Infektionsgefahr" bezeichnen. Bundeskanzler Kohl wird nicht müde, die Notwendigkeit einer Europäischen Union auch damit zu begründen, es wäre ein fataler Irrtum zu glauben, „daß die bösen Geister, die jetzt auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien wüten, auf den Balkan beschränkt wären." [ Bulletin , 22.2.1994, S. 144.] Um ihrem Wiedererwachen anderswo vorzubeugen, bräuchten wir die europäische Einigung in der Europäischen Union. [ So in seinem Interview mit der SZ , 15.4.1994, S. 6. Havel meint, daß der Westen durch passives Hinnehmen des "östlichen oder Balkan-Nationalismus" seinem eigenen poten tiellen Nationalismus Vorschub leiste (vgl. Václav Havel, A Call for Sacrifice, Foreign Affairs , März/April 1994, S. 7).]

Immunisierung durch Integration ist die eine Möglichkeit, der „Infektionsgefahr" zu begegnen. Die andere, eher komplementäre als alternative Möglichkeit ist Vorsorge durch Beseitigung des Krankheitsherdes, d.h. wirtschaftliche und politische Verhältnisse, die gewaltfreie Konfliktregelungen begünstigen. Gelingt weder das eine noch das andere, könnte dem Infektionsargument zufolge die friedenspolitische Stabilität im Westen gefährdet sein.

Für Deutschland könne dieses Risiko besonders bedrohliche Züge annehmen, weil seine Sicherheit und Prosperität auf der festen Einbindung in EU und NATO beruhen. Andererseits könne es jedoch als Hauptbetroffener nicht einfach zusehen, wie seine östlichen Nachbarn im Chaos versinken. Ein Scheitern der Transformationsprozesse würde deshalb die Gefahr heraufbeschwören, daß sich Deutschland mangels Unterstützung durch seine westlichen Partner zu Alleingängen gedrängt sähe, die im Westen desintegrierend wirkten. [ Das könnte einer der Gründe sein, warum es für Bundeskanz ler Kohl "völlig undenkbar und inakzeptabel" ist, "daß etwa die Ostgrenze Deutschlands die Ostgrenze der Europäi schen Union sein könnte." ( Bulletin , 29.4.1994, S. 334).]

Das könne selbst dann der Fall sein, wenn es Deutschland gegen den Widerstand seiner Partner gelänge, eine EU-Aufnahme östlicher Nachbarstaaten durchzusetzen. Es würde dann zwar keinen Alleingang außerhalb der EU unternehmen, seinen Beziehungen zu EU-Altländern und der EU-Integration aber nachhaltig schaden. Dazu würde beitragen, daß eine EU-Osterweiterung ohne eine Reform der EU-Agrarmarkt- und Finanzordnung erbitterte Verteilungskonflikte provozieren könnte.

Der zweite Aspekt des Stabilitätsarguments ist das Migrationspotential. Sollten die marktwirtschaftlichen Reformen in den ehemals kommunistischen Ländern nicht greifen, so die Sorge, könnten „viele in ihren Hoffnungen Enttäuschte sich von ihrer Heimat abwenden und ihr Glück im Westen suchen - nicht nur wie bisher vor allem in Deutschland, sondern auch in anderen Staaten Westeuropas." [ Bundeskanzler Kohl, Bulletin , 25.2.1994, S. 163; vgl. auch Ministerpräsident Bieden kopf, Der Spiegel , 4.7.1994, S. 19.] Eine massenhafte unkontrollierte Zuwanderung könne die innere Stabilität in Deutschland und anderen Aufnahmeländer erschüttern und nationalistische Kräfte wecken oder stärken, die die EU-Integration zurückschrauben möchten.

(b) Das sicherheitspolitische Argument

In einem engeren Verständnis von Sicherheit, das die physische Unversehrtheit der Bundesbürger meint, könnte das postkommunistische Europa drei Gefahrenherde aufweisen:

- Gewaltsame oder gewaltträchtige Konflikte in oder zwischen Staaten könnten überspringen. [ Vgl. "Das neue Strategische Konzept des Bündnisses", in dem es in Ziff. 10 mit Bezug auf "Instabilitäten" in mittel- und osteuropäischen Staaten heißt: "Sie könnten jedoch zu Krisen, die die Stabilität in Europa beeinträchtigen, und sogar zu bewaffneten Auseinan dersetzungen führen, die au ßenstehende Mächte einbeziehen oder auf NATO-Staaten über greifen und damit die Sicherheit des Bündnisses unmittelbar berühren." (Verabschiedet auf der NATO-Gipfelkonferenz in Rom im November 1991, zitiert nach Bulletin , 13.11.1991, S. 1040).] Dazu müsse Deutschland nicht oder zunächst nicht selbst betroffen sein; deutsche Soldaten könnten aber zum Einsatz kommen, wenn ein NATO-Partner in einen Konflikt hineingezogen würde oder sich Deutschland an Friedenseinsätzen der UNO oder KSZE beteiligen würde.

- In Rußland sei ein Rückfall in Diktatur und imperiale Außenpolitik nicht auszuschließen. Das könne zu einer erneuten Konfrontation führen, weil der Westen den Versuch, alte (sowjetische) Einflußgebiete zurückzugewinnen, nicht hinnehmen dürfe. Das gelte zwar nicht für den GUS-Bereich, zumindest aber für Mitteleuropa. [ Vgl. Ian Davidson, Russia policy is vital, Financial Times , 30.3.1994, S. 18 und Edward Mortimer, European Security after the Cold War, IISS, Adelphi Papers , Nr. 271 (Sommer 1992), S. 19.] Ob auch die baltischen Staaten gegen etwaige russische Vorherrschaftsansprüche geschützt werden sollten, wird unterschiedlich beurteilt. [ Davidson hält das zu einem vertretbaren Risiko für kaum möglich, Krause, Kühnhardt und Mortimer (letzterer aller dings nicht entschieden) vertreten die gegenteilige Auffas sung (für Davidson und Mortimer vgl. ebd., S. 18 bzw. 23; für Christian Krause vgl. seine Studie "Die Entwicklung der Bundeswehr unter mittel- und langfristigen Aspekten", Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1994, S. 15-16 und für Lud ger Kühnhardt seinen Auf satz "Der Osten des Westens und die 'russische Frage' ", Europa-Archiv , 9/1994, S. 239-247).] Umstritten ist auch, ob die EU oder die NATO die Führung in ihrer West-Integration übernehmen sollte. [ Davidson setzt eindeutig auf die EU, Krause (vgl. ebd., S. 28-29) eher auf die NATO.]

- Nukleare Katastrophen könnten eine unmittelbare Gefährdung darstellen: zum einen durch Unfälle in Kernkraftwerken mit unzureichenden Sicherheitsstandards [ Vgl. Christoph Bertram, Ach, so schlimm wird's schon nicht werden!, Die Zeit , 29.1.1993, S. 5-6.] oder durch fahrlässigen Umgang mit radioaktivem Material, [ So z.B. die jahrzehntelange Praxis der Versenkung radioak tiver Abfälle im Meer (vgl. SZ , 20.10.1993, S. 10).] zum anderen im Falle eines Krieges zwischen einer nuklear bewaffneten Ukraine und Rußland.

(c) Das ökonomische Argument

Es unterscheidet sich grundlegend von den stabilitäts- und sicherheitspolitischen Argumenten. Erstens dadurch, daß es nicht auf die möglichen Auswirkungen eines Mißlingens, sondern eines Gelingens postkommunistischer Transformationsprozesse abstellt. Zweitens werden diese Auswirkungen in erster Linie nicht als potentiell bedrohlich, sondern vorteilhaft eingeschätzt.

Als Herausforderung gilt zwar die Niedriglohnkonkurrenz durch „Hongkong vor der Tür" in Form von Billigimporten und als Produktionsstandort für deutsche Firmen; dem sollen aber gerade für Deutschland beträchtliche Chancen gegenüberstehen. Preiswerte Importe kämen den Verbrauchern zugute, deutsche Unternehmen könnten durch kostengünstiges Produzieren in Mittel- und Osteuropa wettbewerbsfähiger werden. Arbeitsplätze und damit Einkommen würden auch durch Exporte geschaffen, wobei Deutschland als Anbieter von Investitionsgütern und wegen seiner Marktnähe und -kenntnisse von einem Wirtschaftsaufschwung seiner östlichen Nachbarn besonders profitieren würde. [ Auch der stellvertretende US-Außenminister Talbott hat in diesem Zusammenhang von der Aussicht auf "riesige neue Märkte" gesprochen, die den globalen Wohlstand steigern und neue Arbeitsplätze für Amerikaner schaffen könnten (vgl. USPIT , 11.5.1994, S. 2).]

(d) Das moralisch-zivilisatorische Argument

Europa als politisch-kulturelle Wertegemeinschaft sei durch den Eisernen Vorhang widernatürlich zerrissen worden. Nach seinem Verschwinden hätten diejenigen, die auf der kommunistischen Seite eingesperrt waren, einen Anspruch auf Zugehörigkeit zum „klassischen europäischen Westen". Würde ihnen dieser Anspruch verwehrt, verrate der Westen seine eigenen Werte und Ideale und damit die Grundlage seiner Zivilisation. [ Vgl. Havel (Anm. 11), S. 2-7. In der Diktion zurückhalten der als Havel, aber gleichwohl eindringlich spricht Bundes kanzler Kohl davon, daß die europäische Einigung kein "closed shop" sein dürfe. "Unsere Nachbarn in Ungarn, Po len, Tschechien und der Slo wakei sind für uns genauso Teil dieses Europas." ( Bulletin , 29.4.1994, S. 334). Auch der britische und deutsche Außenminister führen "gemeinsame Werte" als einen gewichtigen Grund an, über die EU- und NATO-Erweiterung nachzudenken (vgl. Douglas Hurd und Klaus Kinkel, Eine strategische Vision für Europa, SZ , 26.4.1994, S. 7).]

Bewertung

Im folgenden werden die dargelegten Argumente nacheinander analysiert und anschließend zusammenfassend bewertet.

(a) Das stabilitätspolitische Argument

Wie groß die „Infektionsgefahr" für Westeuropa durch nationalistische Einstellungen und ethnische Partikularismen ist, die von der östlichen Transformationskrise forciert werden, läßt sich nicht quantifizieren. Auffällig ist zunächst, daß häufig nicht erläutert wird, wie sich der „nationalistische Bazillus" übertragen könnte. Eine denkbare Möglichkeit wäre, daß ethno-nationale Konflikte in oder zwischen postkommunistischen Staaten im Westen desintegrierend wirken, weil sie unterschiedliche oder gar gegensätzliche Haltungen zu diesen Konflikten hervorrufen. [ Vgl. z.B. Erich Weede, Determinanten der Kriegsverhütung während des Kalten Krieges und danach: Nukleare Abschreckung, Demokratie und Freihandel, Politische Vier teljahresschrift , 1/1994, S. 77.] Solche Differenzen hat es hinsichtlich der kriegerischen Auseinandersetzungen im früheren Jugoslawien zweifellos gegeben. Sie haben aber bisher nicht jenes Ausmaß angenommen, das die Infektionsthese stützen würde. [ So hat der britische Außenminister Hurd zu Recht darauf hingewiesen, daß es trotz "Streitereien" unter den EU-Zwölf gelungen sei, "die ruinösen Rivalitäten zu vermeiden, die Europa vor 1914 und vor 1939 entzweit und gefährdet haben." (Rede in Bonn am 10.9.1993, Britische Dokumentation , 13.9.1993, S. 4).]

Zudem könnte statt einer Infektion auch ihr Gegenteil, nämlich eine Immunisierung, eintreten. Im Kalten Krieg hat die als gemeinsam empfundene Bedrohung durch den Sowjetkommunismus für Zusammenhalt im Westen gesorgt. Zwar gibt es eine in ihrer Intensität und Kollektivität vergleichbare Gefahr nicht mehr; gleichwohl führen Nationalismus, Instabilität und gewaltsame Konflikte im Osten Europas den Wert und die Notwendigkeit der westlichen Friedensgemeinschaften (EU, NATO) eindringlich vor Augen.

Zum Ost-West-Migrationspotential als einer Gefahr für die innerwestliche Stabilität wurde bereits darauf hingewiesen, daß es nicht überschätzt werden sollte. [ Vgl. Kap. II, Abschn. 3.3.] Allerdings bleibt es beträchtlich, bedingt durch den Wegfall des „Eisernen Vorhangs" und im Falle sich ausbreitender Perspektivlosigkeit als Folge von Arbeitslosigkeit, Verarmung, Diskriminierung und Kriegen.

(b) Das sicherheitspolitische Argument

Gewaltsame Konflikte, die Deutschland territorial berühren würden, stellen aus heutiger Sicht kein Szenario dar, auf das sich deutsche Politik einzustellen hätte. Nicht auszuschließen ist jedoch eine Verwicklung Deutschlands in Konflikte über seine NATO- und UNO-Mitgliedschaft. So könnten Kriege und Spannungen in Südosteuropa auf die NATO-Partner Türkei und Griechenland übergreifen; oder Deutschland könnte sich an multinationalen Friedenseinsätzen beteiligen - insofern und insoweit dies angesichts historischer Vorbelastungen den Einsatzzielen dienlich wäre.

Hinsichtlich Rußland erschwert Ungewißheit über seine künftige Entwicklung weiterhin jede sicherheitspolitische Lagebeurteilung. Mit dem hypothetisch schlimmsten Fall, dem Versuch einer gewaltsamen Restauration des Sowjetimperiums bis hin an die deutsche Ostgrenze, rechnet kein ernstzunehmender Beobachter. Allerdings wird ein „Trend zur neoimperialen Politik" konstatiert, insbesondere in Moskaus Haltung gegenüber dem sogenannten „nahen Ausland". Analog zur US-amerikanischen Monroe-Doktrin beanspruche Moskau eine hegemoniale Stellung im Raum der früheren Sowjetunion, und zwar sowohl gegenüber ihren Nachfolgestaaten als auch gegenüber Drittstaaten. [ Vgl. Olga Alexandrova und Heinrich Vogel, Rußlands Politik gegenüber dem "nahen Ausland", Europa-Archiv , 5/1994, S. 132-140 und Gerhard Simon, Rußland: Hegemon in Eurasien?, Osteuropa , 5/1994, S. 411-429.]

Rußland hat im postsowjetischen Raum zweifellos besondere Interessen und Einflußmöglichkeiten. Entscheidend ist freilich, wie es sie wahrnimmt. Gemessen daran geben sein Verhalten in den Konflikten in Georgien und Aserbaidschan, seine pauschale Forderung nach Doppelstaatsbürgerschaft für die 25 Millionen Russen im „nahen Ausland" (d.h neben der des Aufenthaltslandes auch die russische) und - damit zusammenhängend - die russische Militärdoktrin, in der die „Unterdrückung von Rechten, Freiheiten und rechtmäßigen Interessen von Bürgern der Russischen Föderation in ausländischen Staaten" als eine Quelle auswärtiger Gefahr definiert wird, Anlaß zur Beunruhigung. [ Vgl. Alexandrova und Vogel und Simon, ebd., S. 134-138 bzw. S. 419-423.]

Daraus kann und sollte nicht auf eine militärisch abgestützte Außenpolitik im altsowjetischen Stil geschlossen werden. Die großrussische Politik gegenüber dem „nahen Ausland" unterstreicht jedoch das sicherheitspolitische Restrisiko, daß Rußland angesichts seiner instabilen Lage darstellt. Inwieweit die russische Transformationskrise ursächlich für dieses Risiko ist, muß offen bleiben: „Auch eine russische Führung, die Kurs auf demokratische politische und marktwirtschaftliche Reformen nimmt, ist noch kein Garant für einen Verzicht auf neoimperiale Politik." [ Alexandrova und Vogel, ebd., S. 139.] Gewiß kein Garant, aber die beste mögliche Gewähr. Die Unterstützung demokratischer Reformkräfte ist deshalb auch sicherheitspolitisch geboten.

Im Unterschied zum Extremfall eines ukrainisch-russischen Nuklearkrieges sind nukleare Katastrophen durch Unfälle in Kernkraftwerken sowjetischer Bauart eine naheliegende Gefahr. Tschernobyl ereignete sich zwar im April 1986 schon zur Zeit einer „stabilen" Sowjetunion; der politische und gesellschaftliche Umbruch im früheren Ostblock hat jedoch die Sicherheitslage in vielen Fällen noch verschlechtert, weil Geld und Personal fehlen, um alternative Energie zu nutzen, Kernkraftwerke abzuschalten oder aufzurüsten und angemessen zu betreiben. [ Dazu heißt es in einer vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung heraus gegebenen Veröffentlichung: "Der schlechte Sicherheitsstandard der Kernkraftwerke sowje tischer Bauart wird durch die schlechte wirtschaftliche Lage noch verschärft, die zu Motivationsproblemen des Be triebspersonals, Mängel in der Betriebsführung und Proble men bei der Ersatzteilbeschaffung führt." ( Umwelt und Ent wicklung , Juli 1994, S. 19; vgl. auch SZ , 7.6.1994, S. 11). ]

(c) Das ökonomische Argument

Deutschland kann sich in der Tat erhoffen, von einem wirtschaftlichen Aufschwung in den Transformationsländern besonders zu profitieren. Am wichtigsten ist in dieser Hinsicht, daß Deutschland für die meisten von ihnen der größte Handelspartner ist. Dem entspricht zwar nicht eine vergleichbare Stellung im Bereich der Direktinvestitionen, die der Markterschließung dienen und indirekt über firmeninternen Handel auch exportfördernd wirken; [ Nach einer Untersuchung der Deutschen Bank nimmt Deutsch land in "Osteuropa" nach den USA die zweite Position ein (vgl. Rick Atkinson, Future Is East for German Business, IHT , 18.4.1994, S. 1).] mit ihrem weiteren Anstieg kann jedoch im Falle günstiger Rahmenbedingungen in Mittel- und Osteuropa gerechnet werden. [ Zwischen 1988 und 1992 wuchsen sie von 13 Mio. DM auf 1544 Mio. DM (vgl. Wirt schaftsWoche , 12.11.1993, S. 55).]

Die gegenwärtige und künftige wirtschaftliche Bedeutung der postkommunistischen Reformstaaten darf jedoch nicht überschätzt werden. Im Jahre 1992 betrug ihr Anteil an den deutschen Ausfuhren und Einfuhren lediglich jeweils 5,5 %. Noch erheblich darunter, nämlich unter 1 %, lag Ende 1991 der Anteil der mittel- und osteuropäischen Staaten an den deutschen Direktinvestitionen im Ausland. [ Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahr buch 1993 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1993, S. 320 bzw. 723. Siemens-Chef von Pierer meint, "Osteuropa wird auf absehbare Zeit kein bedeutender Markt sein." ( Der Spiegel , 22.11.1993, S. 120).]

Schließlich darf in einer nüchternen Kosten-Nutzen-Analyse die Sollseite nicht fehlen. Zu ihr gehört erstens die erwähnte Niedriglohnkonkurrenz. Sie kann positive Wirkungen haben, indem sie deutsche Unternehmen durch Produktionsverlagerungen an kostengünstigere Standorte wettbewerbsfähiger macht, und indem sie zumindest längerfristig einen zusätzlichen Anreiz zu Produktivitätssteigerung und strukturellem Wandel in Deutschland ausübt. Dem stehen jedoch die Kosten und Konflikte gegenüber, die eine verschärfte Konkurrenz für wettbewerbsschwache Sektoren und Unternehmen mit sich bringen.

Zweitens gehören potentiell zur Sollseite die finanziellen Kosten, die im Falle einer EU-Osterweiterung eintreten könnten. Wenn die EU ihre derzeitige Agrar-, Struktur- und Haushaltspolitik nicht grundlegend ändert, würde sich Schätzungen zufolge das EU-Haushaltsvolumen von gegenwärtig 140 Mrd. DM verdoppeln müssen. [ So Peter Hort, Im Grundsatz nach Osten offen, FAZ , 5.5.1994, S. 15.] Dazu wird es mangels Bereitschaft der „Nettozahler" nicht kommen. Umgekehrt ist aber auch nicht davon auszugehen, daß eine Osterweiterung um relativ wirtschaftsschwache Länder ohne zusätzliche Belastungen für relativ starke Länder wie Deutschland abgehen wird.

(d) Das moralisch-zivilisatorische Argument

Die unbestreitbare Zugehörigkeit mittel- und osteuropäischer Länder zum westlich-europäischen Kulturkreis erhöht die Bereitschaft, sie zu unterstützen. Der Westen insgesamt und Deutschland im besonderen haben zudem den antikommunistischen Oppositionskräften einiges zu verdanken. Durch ihren Mut, ihre Opferbereitschaft und Vernunft haben sie zum friedlichen Zusammenbruch des Kommunismus und damit zur Überwindung der Ost-West-Teilung beigetragen.

Dankbarkeit und schlechtes Gewissen sind im Verkehr von Staaten noch weniger ein ausreichender Handlungsantrieb als im persönlichen Bereich. Ohne die Koppelung mit handfesten, am eigenen Wohlergehen orientierte Interessen kommen sie nicht aus. Insofern verweist das moralisch-zivilisatorische Argument zurück auf die diskutierten stabilitäts-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Erwägungen und Motive.

Fazit

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Risiken und Gefahren, die vom postkommunistischen Europa für Deutschland und den Westen ausgehen, nicht übertrieben werden sollten. Zwar läßt sich nicht ausschließen, daß düstere Vorhersagen - etwa über Massenfluchtbewegungen, ökologische Katastrophen oder eskalierende Kriege - eintreffen könnten. Und ob sie eintreffen, hängt nicht zuletzt auch vom Tun oder Unterlassen des Westens ab.

Die hier vorgenommene Analyse führt zu weniger dramatischen Ergebnissen. Das ist jedoch besonders aus deutscher Sicht keine Entwarnung. Ob es dem Westen auf die Dauer nicht gutgehen kann, wenn es seinen östlichen Nachbarn in Europa schlechtgeht, ist nicht sicher; gewiß ist hingegen, daß der Westen von ihrer positiven Entwicklung nur gewinnen kann. Dann vermindern sich die unleugbaren Risiken und es steigen die Chancen, von einer erfolgreichen Transformation auch wirtschaftlich zu profitieren.

Schließlich bleibt das moralisch-zivilisatorische Argument. Für sich genommen, d.h. ohne Verknüpfung mit politischen und wirtschaftlichen Interessen, trägt es im zwischenstaatlichen Verkehr noch weniger weit als im nationalen Bereich. Aber wenn die Diskrepanz zwischen Anspruch und (Nicht-)Handeln zu groß wird, gefährdet man die eigene Integrität und damit Identität. In diesem Sinne stellt die Politik gegenüber den Transformationsländern auch eine Bewährungsprobe der westlichen Zivilisation dar.

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1.3 Transformationskrise Süd

Globale Sicherheit, so wird behauptet, sei unteilbar: [ Von der "Unteilbarkeit der globalen menschlichen Sicher heit" spricht das Entwicklungs programm der Vereinten Natio nen (UNDP) in seinem Bericht über die menschliche Entwick lung 1994 ( Human Development Report 1994 ), Bonn 1994, S. 41.] „Die Industrieländer werden auf lange Frist nicht überleben können, wenn die Entwicklungsländer verelenden." [ Bundesminister Spranger, Bulletin , 14.4.1993, S. 261.] Womit wird diese „Sicherheits- und Verantwortungsgemeinschaft" zwischen Industrie- und Entwicklungsländern begründet? [ Für den zitierten Begriff vgl. ders., Bulletin , 17.12.1993, S. 1247.] Konkreter gefragt: Wie und inwieweit berührt die Entwicklung im Süden das Wohlergehen der Bundesbürger? Analog zum vorstehenden Abschnitt über das postkommunistische Europa werden zunächst die meistgenannten Argumente vorgestellt und anschließend bewertet.

(a) Das stabilitätspolitische Argument

Das Migrationspotential der südlichen Transformationskrise berge „in Zukunft die zentrale Bedrohung für die Sicherheit und die gesellschaftliche Stabilität nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch bei uns." [ ders., Bulletin , 25.2.1994, S. 166. ] Die Aufnahmefähigkeit (Arbeitsplätze, Wohnungen, soziale Infrastruktur) und die Aufnahmebereitschaft seien begrenzt, so daß eine unkontrollierte Massenzuwanderung den inneren Frieden gefährden würde.

Das trifft für alle potentiellen Zufluchtsländer im reichen Norden zu. Da Deutschland mit ihnen auf vielfältige Weise verbunden und verflochten ist, würde es mittelbar auch von Migrationsströmen erfaßt werden, die zunächst in andere Länder führen. Besonders gilt dies natürlich für die Europäische Union. [ In den "vor uns stehenden Auswirkungen einer weltweiten Völkerwanderung" sieht Bundeskanzler Kohl "die größte Her ausforderung der europäischen Innenpolitik" ( Bulletin , 24.6.1994, S. 574 - gemeint ist die Innenpolitik der EU).]

Aber selbst wenn die Süd-West-Migration in Grenzen gehalten werden kann - über jene, die gleichwohl kommen, und jene, die bereits da sind, könnten ethnische, religiöse oder politische Konflikte aus ihren Herkunftsländern importiert und in ihren Aufnahmeländern ausgetragen werden.

(b) Das ökologische Argument

Eines der meistgebrauchten Argumente für eine globale Schicksalsgemeinschaft ist der Verweis auf ökologische Zusammenhänge. Es hat zwei Facetten:

- Der Westen hat ein existentielles Interesse an der Bewahrung der natürlichen Lebens- und Wohlstandsbedingungen, die durch Klimaveränderungen und Ressourcenraubbau bedroht werden. Verantwortlich dafür sind zwar maßgeblich die reichen Industrieländer selber; aber gerade deshalb könnte ein an westlichen Vorbildern orientiertes „Aufholen" der Entwicklungsländer zu einer Überlastung des gemeinsamen Ökosystems Erde führen, die die Industrieländer nicht verschonen würde. [ Zur These der globalen ökologischen Interdependenz vgl. Er hard Eppler, Die eigentliche Aufgabe liegt noch vor uns, Die Zeit , 15.11.1994, S. 14; Spranger (Anm. 34), S. 261; UNDP 1994 (Anm. 33), S. 43.]

• Neben dieser direkten Betroffenheit wird auf eine indirekte Art von ökologischer West-Süd-Interdependenz verwiesen. Die meisten Umweltschäden sind lokal oder regional begrenzt; wenn sie jedoch Menschen dauerhaft ihrer Lebensgrundlagen berauben, verschärfen sie die südliche Transformationskrise und erhöhen damit z.B. das Süd-West-Migrationspotential.

(c) Das ökonomische Argument

Deutschland ist ein rohstoffarmes und exportorientiertes Land. [ "Jeder fünfte Arbeitsplatz hängt von unserer Exportleistung ab." (Bundeskanzler Kohl, Bulletin , 26.5.1994, S. 429).] Daraus wird ein zweifaches ökonomisches Interesse an den Entwicklungsländern abgeleitet. Zum einen als Absatz- und Investitionsmärkte, und zwar vor allem im Bereich der die deutsche Ausfuhrstruktur prägenden Investitionsgüter. Deutschland habe deshalb ein genuines Interesse am sozio-ökonomischen Fortschritt der Entwicklungsländer. [ Vgl. Heinrich-W. Krumwiede und Detlef Nolte, Welche Lateiname rikapolitik entspricht deutschen Interessen?, Aus Politik und Zeitgeschichte , 28.1.1994, S. 4.]

Auf der Importseite sind diese Länder vorwiegend als Lieferanten von Nahrungsmitteln, Energie und Rohstoffen sowie arbeitsintensiven Industrieprodukten zu finden. [ Vgl. Statistisches Jahrbuch 1993 (Anm. 31), S. 316.] Angesichts dieser Struktur und eines Anteils von nur etwa 11 % der Entwicklungsländer an den deutschen Einfuhren [ Vgl. ebd., S. 320 (ohne China und OPEC-Staaten).] könnte nur Rohstoff- und Energieimporten eine strategische Bedeutung zukommen, und darunter in erster Linie dem Erdöl. [ Vgl. dazu Kap. II, Abschn. 2.2.] Das trifft im wesentlichen auch auf unsere wichtigsten Wirtschaftspartner im Westen zu und gilt deshalb auch im indirekten Sinne unserer Abhängigkeit von ihrem Wohlergehen. Wenn daher im West-Süd-Kontext von potentiell konfliktverschärfenden Faktoren die Rede ist, wird regelmäßig auch auf die Abhängigkeit des Westens von südlichen Ölquellen hingewiesen. [ Vgl. Edward Mortimer, New Fault-lines: is a North-South Confrontation Inevitable in Security Terms?, in: IISS, New Dimensions in International Security, Adelphi Papers , Nr. 266 (Winter 1991/92), S. 84 und - mit Bezug auf die USA - Steven R. David, Why the Third World Still Matters, Inter national Security , Winter 1992/93, S. 144-145.]

(d) Das sicherheitspolitische Argument

Im engeren Verständnis von Sicherheit als Bewahrung körperlicher Unversehrtheit werden drei Gefahrenherde genannt:

- Das Auftreten einer militärischen Bedrohung. Territorial könnten Deutschland oder seine südeuropäischen Verbündeten durch die Proliferation moderner Waffentechnologie in die Reichweite von Flugkörpern gelangen, die mit Massenvernichtungswaffen ausgerüstet wären. [ Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Weißbuch 1994 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, Bonn 1994, Ziff. 248 und 577.] Ohne daß eine territoriale Bedrohung vorläge, könnten deutsche Streitkräfte in Einsätzen außerhalb von Bündnisverpflichtungen („out of area") gefährdet sein. [ Das Verteidigungsministerium spricht in diesem Zusammenhang nicht von deutschen, sondern von "Bündnisstreitkräften" (vgl. ebd., Ziff. 577).]

- Terrorismus und der internationale Drogenhandel, die ebenso wie die internationale Kriminalität als „Bedrohung unserer Zivilisation" eingestuft werden. [ So Bundesminister Spranger, Bulletin , 25.5.1993, S. 405. Zur Drogenproblematik vgl. Wöhlcke (Kap. II, Anm. 3), S. 115-128.]

• Infektiöse Krankheiten wie AIDS, die sich in einer durch moderne Massentransportmittel zusammengerückten Welt rasch globalisieren.

(e) Das moralische Argument

Die reichen Industrieländer sind historisch (Kolonialismus, Imperialismus) und angesichts ihrer weltwirtschaftlich dominierenden Stellung mitverantwortlich für die südliche Transformationskrise. Zudem erklären sie sich den Idealen universeller Menschenrechte und internationaler Solidarität verpflichtet. Aus Verantwortung und Selbstverpflichtung, so der moralische Appell, können sie Not und Elend in der Welt nicht ignorieren.

Dies ist auch deshalb nicht möglich, weil Menschenrechtsorganisationen, vor allem aber die Medien in Form des Fernsehens ein Wegschauen nicht zulassen. Hinzu kommt ein erweiterter Handlungsspielraum der UNO. War sie während des Kalten Krieges durch die amerikanisch-sowjetische Rivalität weitgehend gelähmt, kann sie heute ihrer Aufgabe, weltweit für Frieden und Entwicklung zu sorgen, eher nachkommen. Daran mitzuwirken wird als Teil der größer gewordenen Verantwortung gesehen, die das vereinte Deutschland weltpolitisch zu übernehmen habe. [ Vgl. zum Beispiel die Rede von Außenminister Kinkel auf der Sondersitzung des Bun destages zu den Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12.7.1994 zum Ein satzspektrum der Bundeswehr, in Deutscher Bundestag, Plenarproto koll 12/240 v. 22.7.1994, S. 21165-21169.]

Bewertung

Inwieweit belegen die aufgeführten Argumente die These von der „Unteilbarkeit globaler menschlicher Sicherheit"?

(a) Das stabilitätspolitische Argument

Auch in diesem Fall gilt - wie mit Bezug auf die Ost-West-Achse -, daß Potential und Wahrscheinlichkeit nicht gleichgesetzt werden dürfen. Das Süd-West-Migrationspotential ist riesig; [ Vgl. Kap. II, Abschn. 3.3.] niemand kann jedoch verläßlich prognostizieren, unter welchen Umständen es zu einem Massenexodus kommen würde. Selbst darüber, wie hoch die Zahl der Migranten heute ist, schwanken die Angaben erheblich. [ Es ist deshalb auch unverantwortlich, wenn Bundeskanzler Kohl behauptet, daß von den 500 Mio. Flüchtlingen, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz schätzt, minde stens 10 % nach Europa wollten. Aus einer Schätzung werden durch eine zweite Schät zung (denn mehr kann der Hinweis auf die 10 % nicht sein) 50 Mio. Menschen vor den Toren Europas - zwar ohne Belege, aber versehen mit regierungsamtlicher Au torität! (Vgl. Bulletin , 13.10.1993, S. 969).]

Risiko ist eine Kombination aus Eintrittswahrscheinlichkeit und möglicher Schadenshöhe eines Ereignisses. In diesem Sinne darf die Möglichkeit einer massenhaften Süd-West-Migration nicht auf die leichte Schulter genommen werden: ihre Wahrscheinlichkeit mag gering sein, ihre stabilitäts- und sicherheitspolitischen Folgen würden es nicht sein. Unbegründet ist auch nicht die Besorgnis, durch Zuwanderer zum Ziel und Austragungsort für politische Auseinandersetzungen in Drittländern zu werden. Jüngstes Beispiel dafür sind besonders in Frankreich, aber auch in Deutschland lebende Anhänger und Gegner der algerischen „Islamischen Heilsfront" (FIS).

(b) Das ökologische Argument

Modellrechnungen über ökologische und Klimazusammenhänge können je nach Annahmen zu unterschiedlichen Aussagen führen, so daß Skepsis angebracht ist gegenüber apokalyptischen Visionen. Aber: „Bereits das abstrakte Besorgnispotential oder Anhaltspunkte dafür, daß die Regenerationsfähigkeit natürlicher Ressourcen oder die Aufnahmefähigkeit von Umweltmedien bedroht ist, müssen und können zum Anlaß von Maßnahmen genommen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um möglicherweise irreversible Wirkungen handelt." [ Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Kurzfassung des Umweltgutachtens 1994, Bonn (Bundesumweltministerium), Februar 1994, S. 13.]

Von diesen „Anhaltspunkten" gibt es einige, auch auf der globalen Ebene von Klimaänderungen und Ozonschichtabbau. [ Vgl. dazu Kap. II, Abschn. 2.2 . Auch im "Umweltgutachten 1994" (Anm. 51) heißt es: "Die Bewältigung der drängenden Umweltprobleme auf der lokalen, regionalen, nationalen wie auch globalen Ebene stellt die zentrale Her ausforderung des Staates des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts dar." (S. 13)] Welchen ökologischen Entwicklungsweg der Süden nimmt, kann dem Westen deshalb nicht gleichgültig sein. Würde beispielsweise der durchschnittliche Bürger Chinas nicht wie heute ein Zehntel, sondern genausoviel Kohlendioxid verursachen wie der durchschnittliche US-Bürger (nämlich 20 Tonnen pro Jahr), würden die 1,15 Milliarden Chinesen pro Jahr mehr Kohlendioxid emittieren als heute die gesamte Menschheit - mit, so muß nach derzeitigem Erkenntnisstand befürchtet werden, verheerenden Folgen für das Weltklima. [ Vgl. Reinhard Loske, Chinas Marsch in die Industriali sierung: Gefahr für das Welt klima?, FR , 27.7.1994, S. 18.]

Ernst zu nehmen ist auch das Argument der indirekten ökologischen Betroffenheit. Lokale oder regionale ökologische Überlastungen können Verarmung, Verelendung und Vertreibung bewirken und dadurch Konflikte provozieren oder anheizen, die durch Flüchtlingsbewegungen auf den Westen übergreifen und ihn zum humanitären bis hin zum militärischen Eingreifen bewegen.

(c) Das ökonomische Argument

Dem bereits erwähnten Anteil der Entwicklungsländer von ca. 11 % an den deutschen Einfuhren entsprach 1992 ein Anteil von fast 11,5 % an den Ausfuhren (jeweils ohne OPEC-Staaten). [ Vgl. Statistisches Jahrbuch 1993 (Anm. 31), S. 320.] Auf sie (wiederum ohne OPEC-Staaten) entfielen zum Ende 1991 ca. 8,5 % der deutschen Direktinvestitionen im Ausland. [ Vgl. ebd., S. 723.] Deutschland hat also zweifellos ein wirtschaftliches Interesse an den Entwicklungsländern; aber es ist begrenzt und konzentriert sich auf wenige Länder.

Eine Abhängigkeit Deutschlands und seiner westlichen Partner von Erdöleinfuhren ist gegeben und hat im Golfkrieg gegen den Irak eine Rolle gespielt; was diese Abhängigkeit jedoch stark relativiert ist, daß umgekehrt besonders die volkreichen OPEC-Staaten auch auf die westlichen Absatzmärkte angewiesen sind.

(d) Das sicherheitspolitische Argument

Eine künftige territoriale Bedrohung Deutschlands oder seiner Verbündeten durch Massenvernichtungswaffen im Besitz von Ländern der Südhemisphäre ist technisch sicher möglich. Auf absehbare Zeit werden es jedoch höchstens sehr wenige Länder sein, die eine solche Fähigkeit entwickeln könnten. [ Vgl. Kap. II, Abschn. 3.4.] Auch muß zwischen Fähigkeiten und Absichten unterschieden werden. Israel z.B. ist ein unerklärter Nuklearwaffenstaat und könnte künftig über weitreichende Flugkörper mit der notwendigen Reichweite verfügen. Darin würde Deutschland aber keine territoriale Bedrohung sehen.

In diesem Zusammenhang ist vor der Konstruktion einer islamistischen Bedrohung zu warnen, wie es Samuel Huntington mit seiner Behauptung eines „konfuzianisch-islamischen Zusammenspiels" („connection") versucht, das darauf gerichtet sei, den Westen militärisch herauszufordern. [ Vgl. seine vielerorts leichtfertig übernommenen Thesen, die er in seinem Aufsatz "The Clash of Civilizations?" aufge stellt hat ( Foreign Affairs , Sommer 1993, S. 23-49, hier insb. 45-48). Interessanterweise trägt der Titel des Auf satzes ein Fragezeichen, während der Text keines mehr zu läßt - wissenschaftlich kein seriöses Vorgehen.] Zwar gibt es „fundamentalistische" Ideologien und Bewegungen, die sich anti-westlich definieren und vor Gewalt nicht zurückschrecken; aber die heterogene islamische Welt bildet keine einheitliche, gegen den Westen gerichtete Front. [ "The Algerian crisis challenges the West to reassess its perceptions of political Islam. The phenomenon clearly does not present a coherent or monolithic 'threat' (although certain manifestations are indeed threatening), if its di versity is understood and accepted." (IISS, Strategic Survey 1993-1994, London 1994, S. 24).] Und der Nährboden muslimischen Radikalismus sind Massenelend, Perspektivlosigkeit und Unterdrückung - allgemeine Erscheinungsformen der südlichen Transformationskrise.

Die Vertreibung des Irak aus Kuwait war eine von der UNO legitimierte Militäraktion unter US-amerikanischer Führung. Auch in Bosnien und Somalia sind im Rahmen von UNO-Aktionen militärische Zwangsmaßnahmen ergriffen worden, und der UNO-Sicherheitsrat hat ihre Anwendung gegen das Militärregime in Haiti genehmigt. Auch wenn die UNO angesichts zunehmender Zurückhaltung ihrer Mitgliedsstaaten weit davon entfernt ist, als allzuständiger Weltpolizist aufzutreten [ Der UNO-Generalsekretär hat von einer "Ermattung" der Mit gliedsstaaten ("The member states are fatigued") gesprochen, was ihre Bereitschaft angeht, in Konflikte ein zugreifen (Butros Butros-Ghali, Time , 1.8.1994, S. 21).] - von ihr oder regionalen Organisationen verhängte militärische Sanktionen bleiben möglich.

Eine deutsche Beteiligung daran ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12.7.1994 nähergerückt. Selbst wenn deshalb eine territoriale Bedrohung durch einzelne Süd-Staaten nicht entstünde - deutsche Soldaten könnten künftig in bewaffnete Konflikte in der südlichen Hemisphäre verwickelt werden, die durch die Transformationskrise und die Proliferation geschürt und gefährlicher werden.

Terrorismus, Drogenhandel, Kriminalität, Seuchen - sie alle sind eine Gefahr für Leib und Leben. Es ist jedoch falsch, sie durch eine West-Süd-Brille zu betrachten, denn es handelt sich aus westlicher Sicht nicht zuletzt um selbsterzeugte Probleme. Drogenhandel würde es ohne Nachfrage nicht geben, [ Allerdings: Das Angebot wäre geringer, wenn der Anbau von Drogenpflanzen nicht er heblich gewinnbringender wäre als derjenige anderer Produkte. Dafür sind in Entwicklungs ländern häufig extrem ungleiche Eigentums- und Einkommens verhältnisse verantwortlich. Insofern hat die Angebotsseite des Süd-Nord-Drogenhandels auch mit der südlichen Transfor ma tions krise zu tun.] an der internationalen Kriminalität und ihrem Teilbereich Drogenhandel sind von Gewaltdelikten bis zur Geldwäsche westliche Organisationen beteiligt, und für die Verbreitung von Seuchen wie AIDS sorgen auch die Bürger der Industrieländer.

(e) Das moralische Argument

Berufungen auf und Appelle an Mitleid und schlechtes Gewissen sind wohlfeil, wenn sie folgenlos bleiben, und zynisch, wenn sie weniger noble Interessen verschleiern. Beides ist auf westlicher Seite im Verhältnis zu den Entwicklungsländern anzutreffen.

Moralische Motive können jedoch weder Wählern noch Gewählten abgesprochen werden, besonders nicht in einer Welt, die kommunikationstechnisch so weit zusammengerückt ist, daß menschliche Katastrophen in fernen Erdteilen durch das Fernsehen sicht- und hörbar werden. Allerdings: Was mit Bezug auf die postkommunistischen Transformationsländer gesagt wurde, gilt natürlich auch im West-Süd-Verhältnis: Moral muß sich mit Interessen paaren, um dauerhafte Wirkungen zu erzielen.

Fazit

Industrie- und Entwicklungsländer sind auf vielfache Weise miteinander verbunden. Diese Interdependenz ist asymmetrisch: Der Westen ist in der Position des Stärkeren, was westliche Akteure unternehmen oder unterlassen, hat für den Süden größere Bedeutung als umgekehrt.

Allerdings können es sich reiche Länder wie Deutschland nicht erlauben, die Entwicklung im Süden zu ignorieren. Zwar ist unklar, wo der deskriptive Teil der These von der Unteilbarkeit globaler Sicherheit aufhört und ihr appelativer beginnt; aber trotz angebrachter Relativierung der These bleiben genügend Gründe, sie ernst zu nehmen.

Dabei sind Chancen und Risiken zu bedenken. Erfolgreiche Entwicklungsprozesse können Absatz-, Investitions- und Bezugsmärkte schaffen, aber auch für neue Konkurrenten sorgen. Schon weil sie sich auf relativ wenige Länder konzentrieren, ist rein ökonomisch betrachtet Deutschlands Interesse an den Südländern begrenzt. Auch wenn die ostasiatisch-pazifische Region als eine Zone raschen Wachstums wichtiger wird - wichtiger bleiben die Wirtschaftsbeziehungen innerhalb des Westens.

In den Vordergrund rücken deshalb andere als ökonomische Interessen. Mit ausbleibender oder fehlgeleiteter Entwicklung im Süden sind für den Westen stabilitäts- und sicherheitspolitische sowie ökologische Risiken verbunden. Wie schwerwiegend und akut diese Risiken und Gefahren insgesamt sind oder werden könnten, wird umstritten bleiben; Konsens sollte sich aber nach der hier vorgelegten Analyse darüber erzielen lassen, daß ihre Unterschätzung größeren Eigenschaden anrichten könnte als ihre Überschätzung. Und selbst wenn real die globale Sicherheit teilbar ist - moralisch ist sie es nicht, weil die Würde des Menschen nicht nur in Deutschland, sondern überall unantastbar ist.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 9.1. 1998

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