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[AUSSENPOLITIKFORSCHUNG]
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II. Globale Gefährdungen

Sicherheitsprobleme lassen sich nicht auf militärische Bedrohungen reduzieren. Daß dies in der Zeit des Ost-West-Antagonismus gleichwohl häufig geschah, hing mit seinem existenzgefährdenden Charakter zusammen. Sicherheitsvorsorge mußte sich durch eine unterschiedlich ausgeprägte Mischung von militärischer Abschreckung und begrenzter politischer Kooperation primär darauf richten, eine Eskalation des Macht- und Systemkonflikts in einen heißen Krieg zu verhindern.

Andere Risiken wurden dadurch in den Hintergrund gedrängt. Wenn deshalb heute von „neuen" sicherheitspolitischen Herausforderungen gesprochen wird, so trifft das vielfach nur in dem eingeschränkten Sinne zu, daß sie als „neu" wahrgenommen werden oder sich mit erhöhter Dringlichkeit stellen. Allerdings gibt es auch tatsächlich neue Probleme, nämlich solche, die unmittelbar auf die Auflösung des Ost-West-Konflikts zurückzuführen sind.

Was macht die neu- oder wiederentdeckten und die wirklich neuen Probleme zu sicherheitspolitischen Herausforderungen? Sicherheit kann allgemein definiert werden als ein „Zustand, in dem sich Individuen, Gruppen und Staaten nicht von ernsten Gefahren bedroht fühlen bzw. wirksam vor ihnen geschützt fühlen oder - positiver ausgedrückt - in dem sie sicher sind, ihre Zukunft nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können." [ Wolf Graf von Baudissin, zitiert bei Ernst Lutz, Lexikon zur Sicherheitspolitik, Mün chen 1980, S. 235.] Diese Definition hebt auf die subjektive Dimension des Begriffs ab, d.h. sicher ist jemand, wenn er sich sicher fühlt, unabhängig davon, ob er es auch tatsächlich ist.

Wie wichtig und politikbestimmend diese Dimension ist, hat der Verweis auf die im Kalten Krieg nicht oder unzureichend wahrgenommenen Risiken gezeigt. Ein Sicherheits-, aber auch ein Unsicherheitsgefühl kann trügerisch sein, und angemessene Sicherheitsvorsorge läßt sich nur treffen, wenn Wahrnehmung und Wirklichkeit übereinstimmen. Wo das nicht der Fall ist, muß Wissenschaft für Aufklärung und der politische Prozeß für rechtzeitiges Gegensteuern sorgen.

Wie ernst welche Probleme werden müssen, damit sie zu einem Sicherheitsproblem werden, läßt sich weder objektiv noch subjektiv exakt bestimmen. Schon ob Kernkraftwerke oder die Gentechnik ein immenses Risiko darstellen, mag umstritten sein, erst recht aber, ob man bereit ist, dieses Risiko einzugehen. Die hier getroffene Definition reflektiert diese unausweichliche Problematik: Sicherheit soll verstanden werden als Abwesenheit von bzw. Schutz vor Gefährdungen, die die Existenz und das Wohlergehen eines Volkes sowie seine gesellschaftliche Stabilität und seinen politischen Frieden beeinträchtigen können. [ Diese Definition geht zurück auf Paul Kennedy, In Vorbe reitung auf das 21. Jahrhun dert, Frankfurt a.M. 1993, S. 172.]

Der Begriff Gefährdungen wurde mit Bedacht gewählt. Statt seiner könnte man auch von Bedrohungen sprechen, aber dieser Begriff ist aufgrund seiner Verknüpfung mit der Ost-West-Konfrontation vorbelastet und legt eine unangemessene Konzentration auf militärische Risiken nahe. Schließlich sind mit globalen Gefährdungen solche Risikopotentiale gemeint, die transregional sind, d.h. die entweder nicht nur von einer Weltregion ausgehen oder nicht auf sie beschränkt sind. Anders formuliert: Es handelt sich um „Risiken, welche das Überleben, die Sicherheit und die Lebensqualität großer Teile der Menschheit betreffen", [ Manfred Wöhlcke, Risiken aus dem "Süden". Neue Themen in den Nord-Süd-Be ziehungen nach dem Ende des Ost-West-Kon flikts, Stiftung Wissenschaft und Poli tik, Juni 1991, S. 5.] im Extremfall möglicherweise sogar der Menschheit insgesamt.

Als solche globalen Gefährdungen werden heute im wesentlichen vier angesehen: Umwelt- und Ressourcenraubbau, Bevölkerungswachstum, Migration und Proliferation. Dabei handelt es sich jedoch um Probleme, die mehr Symptome als Ursachen sind. Sie werden deshalb hier auch als sekundäre Gefährdungen eingestuft, die maßgeblich von drei primären Risikoquellen ausgehen, obgleich sie verschärfend auf sie zurückwirken und nicht allein durch sie verursacht werden.

Jede Problembearbeitungsstrategie muß diese Hierarchien im Auge behalten und sich vorrangig um die primären Gefährdungen kümmern. Antworten auch auf die sekundären Gefährdungen können jedoch nicht zurückgestellt werden, bis die primären Probleme - wenn überhaupt jemals - bewältigt worden sind. Deshalb dürfen sie als eigenständige sicherheitspolitische Probleme nicht vernachlässigt werden.

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1. Neue Weltunordnung?

Bevor die globalen Gefährdungen deutscher Sicherheit diskutiert werden, soll auf eine Denkschule eingegangen werden, die nicht in diesen Gefährdungen, sondern in der Struktur des internationalen Systems und der vor allem militärischen Machtverteilung zwischen seinen wesentlichen Akteuren die eigentliche sicherheitspolitische Problematik sieht. Insbesondere geht es hier um die Frage, ob mit dem Ende des Kalten Krieges eine Phase der Weltunordnung angebrochen ist, die mehr statt weniger Gewalt erwarten läßt.

Die Auflösung des Ost-West-Konflikts war von großen Hoffnungen in eine friedliche Zukunft begleitet. In der „Charta von Paris für ein neues Europa" vom 21. November 1990 riefen die KSZE-Teilnehmerstaaten euphorisch „ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit" aus. Der damalige US-Präsident Bush sprach unter dem Eindruck der engen Zusammenarbeit zwischen ihm und dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow und der Golfkrise von einer „Neuen Weltordnung", „in der Freiheit und Menschenwürde ihren Platz in allen Ländern finden" und „Brutalität sich nicht auszahlt und Aggression auf kollektiven Widerstand trifft." [ Zitiert von Theo Sommer, Die Zeit , 6.3.1992, S. 3.]

Diese Hoffnungen sind inzwischen zerstoben. Innerhalb und zwischen KSZE-Staaten sind Kriege ausgebrochen, von denen das Gemetzel im früheren Jugoslawien eine besondere Medienaufmerksamkeit erfahren hat. Der Befund gilt auch über Europa hinaus: „Die Tendenz, Konflikte mit kriegerischen Mitteln auszutragen, hält nicht nur ungebrochen an, sondern verschärfte sich seit Ende der 80er Jahre sogar noch." [ Klaus Jürgen Gantzel u.a., Kriege der Welt. Ein systema tisches Register der kriegeri schen Konflikte 1985 bis 1992, Interdependenz (Materialien und Studien der Stif tung Entwick lung und Frieden), Nr. 13 (1992), S. 5. Dem gegenüber berichtet SIPRI von einem Rückgang der Anzahl größerer gewaltsamer Kon flikte ("major armed con flicts") von 36 auf 33 zwischen 1989 und 1992 (vgl. Stockholm International Peace Research Insti tute, SIPRI Yearbook 1993, New York 1993, S. 87).] Je nach Definition wurden Ende 1992 44 Kriege bzw. Anfang 1993 34 Kriege geführt. [ Vgl. Gantzel u.a., ebd., S. 7 bzw. Süddeutsche Zeitung ( SZ ), 12.2.1993, S. 7 (die dort angeführte Quelle ver zeichnete 112 Konflikte, die sich zu Kriegen entwickeln könn ten).]

Besteht zwischen dieser Tendenz und dem Ende des Kalten Krieges ein Zusammenhang? [ Für eine entsprechende These vgl. Time , 26.7.1993, S. 20, wo es mit Bezug auf die Kriege im ehemaligen Jugoslawien heißt: "The main lesson is that with the danger of nuclear es calation greatly diminished, the likelihood of local wars is increased, and not only in the former Soviet bloc." Ähnlich hat sich auch der britische Vertei digungsminister Malcom Rifkind in einer Rede vor dem Royal United Services Insti tute am 20.1.1993 geäußert (vgl. Britische Botschaft Bonn (Hrsg.), Britische Doku mentation , 22.1.1993, S. 3). ] Zweifellos hat die globale amerikanisch-sowjetische Rivalität insofern gewalthemmend gewirkt, als jeder größere Konflikt zwischen ihnen drohte, die beiden nuklearen Supermächte in eine gefährliche Konfrontation zu verstricken. Diese Gefahr hatte Washington und Moskau angehalten, ihre Rivalität einzugrenzen und disziplinierend auf ihre jeweilige Klientel einzuwirken. So gesehen spricht einiges für die Vermutung, daß es Irak im Kalten Krieg nicht gewagt hätte, Kuwait zu überfallen und auch der Balkan-Krieg nicht entbrannt wäre.

Vertreter der neorealistischen Schule internationaler Beziehungen erklären diesen Befund vor allem durch die Kombination von zwei Strukturmerkmalen des internationalen Systems der Nachkriegszeit: Bipolarität und nukleare Abschreckung. Mearsheimer hat deshalb vorausgesagt, daß mit dem Verschwinden der politikbestimmenden Kraft dieser beiden Merkmale in Europa mit mehr offener Gewaltanwendung zu rechnen sei, und er hat recht behalten. [ John J. Mearsheimer, Back to the Future. Instability in Europe After the Cold War, International Security , Sommer 1990, S. 6.] Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob auch seine Kausalanalyse zutrifft, daß nämlich bipolare Konstellationen, zumal dann, wenn sie mit nuklearer Abschreckung verknüpft sind, weniger Gewalt zulassen als andere.

Nach Mearsheimer ist Bipolarität aus drei Hauptgründen weniger gewaltträchtig als Multipolarität: Die Anzahl der möglichen Konfliktbeziehungen sei geringer, wenn es nur zwei Kontrahenten gibt; ein kriegsverhütendes militärisches Gleichgewicht sei zwischen zwei Polen eher erreichbar als zwischen mehreren, in denen Konfliktbeziehungen wechseln können; aus dem gleichen Grund bestehe geringere Unsicherheit über die Macht und die Entschlossenheit anderer, sie einzusetzen, was ebenfalls die gegenseitige Abschreckung stärke. [ Vgl. ebd., S. 14-19 und John Lewis Gaddis, The Long Pe ace. Elements of Stability in the Postwar International Sy stem, International Security , Frühjahr 1986, S. 108-110.]

Nuklearwaffen werden als das zweite Strukturmerkmal angesehen, das aus sich heraus, vor allem aber kombiniert mit Bipolarität, Stabilität gefördert habe. Von ihnen gehe eine kriegsverhindernde Wirkung aus, weil sie die Kosten einer Aggression gegen einen nuklearbewaffneten Gegner für einen rational kalkulierenden Staat untragbar machten. Sobald ein Staat eine unverwundbare Zweitschlagskapazität besitze, wögen überdies militärische Unterschiede geringer als zwischen konventionellen Kontrahenten, und ein Irrtum über die militärischen Fähigkeiten des anderen werde unwahrscheinlicher als im Falle schwer kalkulierbarer konventioneller Kräfteverhältnisse. [ So Mearsheimer (Anm. 8), S. 19-20.]

Gegen die Bipolaritäts-These spricht zunächst die von ihren Anhängern selbst hergestellte Verknüpfung mit nuklearer Abschreckung. [ Vgl. für eine Diskussion der Risiken und Kosten nuklearer Abschreckung Eckhard Lübkemeier, Building Peace under the Nuclear Sword of Damocles, in: Patrick J. Garrity und Steven A. Maaranen (Hrsg.), Nuclear Weapons in the Changing World, New York 1992, S. 224-229.] Da beide Merkmale zusammen auftraten, läßt sich nicht bestimmen, welchem Faktor größere oder gar entscheidende Bedeutung zukommt. Bedenkt man die Intensität und Globalität der amerikanisch-sowjetischen Rivalität, liegt es nahe, der nuklearen Parität diesen Rang einzuräumen. [ Zu dieser Schlußfolgerung kommt auch Gaddis, obgleich er die Bipolaritäts-These grundsätzlich teilt: "It seems inescapable that what has really made the difference in inducing this unaccustomed caution has been the workings of the nuclear deterrent." (Anm. 9, S. 121 - gemeint ist der ame rikanisch-sowjetische Verzicht auf Gewaltan wendung gegen den anderen).]

Unabhängig davon liegt die zentrale Schwäche der These in der Grundannahme, daß die Verteilung und der Charakter militärischer Macht eine der, wenn nicht gar die Hauptdeterminanten von Krieg oder Frieden sind, die ihrerseits auf die anarchische Natur des internationalen Systems zurückgeführt werden, d.h. auf das Fehlen eines Gewaltmonopols in Form einer zentralen, mit Normsetzungs- und Normdurchsetzungsfähigkeit ausgestatteten Instanz. [ Vgl. Mearsheimer (Anm. 8), S. 6 und 12.]

Diese Situation zwinge die Staaten, für ihre Sicherheit entweder allein oder im Bündnis mit anderen gegen andere zu sorgen. Daraus resultiere ein Sicherheitsdilemma mit drei Elementen: die prinzipielle Ungewißheit über das künftige Verhalten anderer Akteure; das existentielle Risiko einer Fehlkalkulation über die friedlichen Absichten anderer und die offensiv-defensive Ambivalenz militärischer Vorkehrungen. Alle drei Elemente zusammengenommen verleiteten die Staaten, auch wenn sie defensiv motiviert sind, zu Maßnahmen, die von anderen als Bedrohung ihrer Sicherheit wahrgenommen werden könnten. Die Folge sei eine kriegsträchtige Tendenz zur Destabilisierung, die nach Ansicht der Neorealisten nur durch eine Politik aufgehalten werden kann, die zumindest ein militärisches Gleichgewicht bewahrt.

Das Sicherheitsdilemma ist in der Tat eine Gewaltquelle, die unauflöslich mit einem internationalen System verbunden ist, in dem es keinen Gewaltmonopolisten gibt. Ihm kann jedoch auch auf anderen Wegen als dem einer militärischen Gleichgewichtspolitik entgegengewirkt werden, und es kann sogar soweit abgeschwächt werden, daß eine solche Politik nicht mehr betrieben wird.

Daß gegenseitige Abschreckung - auch wenn sie in sich stabil ist, weil keine Seite über eine Siegoption verfügt - allein nicht ausreicht, hat sich gerade im Kalten Krieg erwiesen. Da ein die Existenz beider Seiten bedrohendes Versagen nuklearer Abschreckung nicht ausgeschlossen werden konnte, sahen sich die USA und die UdSSR genötigt, ihre Macht- und Systemkonkurrenz durch ein Mindestmaß an Kooperation politisch einzuhegen (Rüstungskontrollabsprachen, Eindämmung von Regionalkonflikten). Das reflektierte die Erkenntnis, daß bei Vorliegen eines manifesten Konflikts politische Vertrauensbildung in Ergänzung zu Abschreckung gerade deshalb notwendig ist, weil militärische Vorkehrungen in der Regel auch offensive Optionen bieten und damit konfliktverschärfend wirken.

Darüber hinaus zeigt die Nachkriegsentwicklung auch, daß ein Frieden ohne Abschreckung möglich ist. Innerhalb der Europäischen Union (EU), zwischen ihr und den USA oder auch in Skandinavien sind „Zonen stabilen Friedens" entstanden, in denen das Militär keine abschreckende Binnenfunktion hat, sondern nur noch dem Schutz vor Dritten dient. Grundlage dieser Friedensgemeinschaften sind in erster Linie die demokratische Verfaßtheit ihrer Mitglieder, abgestützt durch ökonomische Stabilität und Prosperität, sowie Verbindungen und Verflechtungen zum gegenseitigen Vorteil zwischen ihnen. [ Vgl. dazu Eckhard Lübkemeier, Konzeptionelle Überlegungen zur militärischen und politischen Stabilität in Europa, in: Erhard Forndran und Hartmut Pohlman (Hrsg.), Europäi sche Si cherheit nach dem Ende des Warschauer Paktes, Baden-Baden 1993, S. 130-138 und die dort diskutierte Literatur sowie Wolf-Dieter Eberwein, Ewiger Friede oder Anarchie? Demokratie und Krieg, ebd., S. 139-166. Für eine Bewertung der Stabilität dieser Friedensgemeinschaf ten, die ihren vorläufigen und pre kären Cha rakter betont, vgl. Lothar Brock, Im Umbruch der Weltpolitik, Leviathan , 2/1993, S. 163-173. Brock nimmt damit eine skeptische Revision früherer Positionen vor. Noch weiter geht Layne, der, ausgehend vom neorealistischen Axiom "structure affects outcome", überzeugt ist, daß vor allem Ja pan, aber auch Deutschland die hegemoniale Stellung der USA nach dem Kalten Krieg aufbrechen müssen. In dem deshalb unver meidlich entstehenden multipolaren Weltsystem würden die Be ziehungen zwischen den Großmächten durch ver schärfte Konkur renz um relative Vorteile geprägt und so gar Kriege zwischen ihnen möglich werden (vgl. Christo pher Layne, The Unipolar Il lusion. Why New Great Powers Will Rise, in: International Security , Frühjahr 1993, S. 5-51). Layne's Politikempfehlungen haben allerdings den Charakter einer "self-fulfilling prophecy": Würde die US-Regierung ihnen folgen, würde sie jene Entwick lungen zumindest fördern, von denen Layne behauptet, daß sie ohnehin unabwendbar sind. In einem Punkt ist ihm je doch ausdrücklich zuzustimmen: Die kommenden Jahre werden zei gen, wer recht hat: die Neorealisten, die eine Auflösung der westlichen Friedensgemeinschaften im Gefolge des Zusammen bruchs des Kommunismus vor hersagen, oder die von mir geteilte gegenteilige Auffassung.]

Schließlich besteht zur Nostalgie für den Abschreckungsfrieden des Kalten Krieges auch dann kein Anlaß, wenn man seine Opfer, Kosten und Risiken bedenkt. [ Eine solche Nostalgie klingt z.B. in folgendem Satz an: "With the disappearance of the stalemate of the Cold War, the contemporary world has become unstable and crisis-ridden." (Jacques Delors, European Unification and Euro pean Security, in: The Inter national Institute for Stra tegic Studies (IISS), European Security after the Cold War, Part I, Adelphi Papers , Nr. 284 (1994), S. 3. ] Erst nach zumindest zwei kriegsträchtigen Krisen (Berlin-Blockade 1948-49, Kuba-Krise 1962) und dem Korea-Krieg (1950-1953) hatte sich die Konfrontation „eingespielt" und ein kriegsverhindernder „code of conduct" herausgebildet. In der Dritten Welt wirkte der Ost-West-Gegensatz einerseits konfliktdämpfend, weil die beiden nuklearen Supermächte ihre Klienten zügelten, um nicht durch sie in eine direkte Konfrontation zu schliddern; andererseits führte die globale amerikanisch-sowjetische Rivalität zu einer Militarisierung der Dritten Welt und zu Interventionskriegen (Vietnam, Afghanistan). In Europa mußte der Westen ohnmächtig mitansehen, wie kommunistische Diktaturen mit der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen das eigene oder ein „Brudervolk" überlebten. Die Rüstungskonkurrenz hatte neben ihren konfliktverschärfenden Auswirkungen enorme wirtschaftliche Opportunitätskosten im Osten wie im Westen. Die Übersichtlichkeit und ordnungsstiftenden Momente der Ära des Kalten Krieges beruhten auf einer Pseudo-Stabilität, da es sich im früheren Ostblock um illegitime, ineffiziente und damit im Kern instabile politische und ökonomische Systeme handelte. [ Bundesverteidigungsminister Volker Rühe hat deshalb zu Recht von der "scheinbaren Stabilität der alten bipolaren Ord nung" gesprochen ( Bulletin des Presse- und Informati onsamtes der Bundesregierung, 3.3.1993, S. 145 - im fol genden Bulle tin ).] Was dort an nationalen, ethnischen und religiösen Konflikten aufgebrochen ist, kann auch der Unfähigkeit der früheren Regimes zugeschrieben werden, eine politische Kultur der Toleranz und Solidarität zu entwickeln. [ "For over 45 years of communist rule, the grievances of Eastern and Central European peoples have been forced into hibernation; it was only in private that conflicts and problems could be aired. Furthermore, not only did communism leave such dilemmas unresolved, it very often inflamed them. The kind of evolutionary process whereby Western Europe managed to transcend its conflicts and prejudices was blocked by communism." (Aleksander Smolar, Democratization in Central-Eastern Europe and Inter national Security, in: IISS, New Dimensions in Inter national Security, Part II, Adelphi Papers , Nr. 266 (Winter 1991/92), S. 27). Wagners These, der Frieden sei besser gewährleistet gewesen, als Europa in zwei "Blöcke" geteilt war, ist deshalb trotz der von ihm selbst vorgenomme nen Relativierung zumindest zweifelhaft (Wolfgang Wagner, Acht Lehren aus dem Fall Jugoslawien, Europa-Archiv , 2/1992, S. 31).] Und die Fixierung auf das Management des Ost-West-Konflikts hat politische Aufmerksamkeit und Ressourcen gefordert, die die Wahrnehmung globaler Gefährdungen beeinträchtigten.

Fazit: Die Ära der Ost-West-Konfrontation war mit hohen Kosten und Risiken verbunden, und ein bipolar strukturiertes internationales System muß nicht weniger gewaltträchtig sein als andere Konstellationen. Zwar kann nicht bestritten werden, daß die amerikanisch-sowjetische Rivalität auch gewalteindämmend gewirkt hat, aber diese „Leistung" war ein notwendiges Beiprodukt, um der mit dieser Rivalität verbundenen Gefahr einer nuklearen Eskalation zu begegnen. Die heutige „Weltunordnung" hat vielmehr Ursachen, die auch auf die alte „Ordnung" der Ost-West-Konfrontation selbst zurückgehen.

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2. Primäre Gefährdungen

Das wird unmittelbar deutlich an der nachfolgend behandelten Transformationskrise der postkommunistischen Staaten. Sie bildet zusammen mit der westlichen und südlichen Transformationskrise den Nährboden für die globalen Gefährdungen deutscher Sicherheit.

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2.1 Transformationskrise Ost

Mit dem Ende des Kalten Krieges ging das Ende des Kommunismus einher. Westliche Demokratie und Marktwirtschaft wurden in ganz Europa zu Leitbildern der Entwicklung. [ Vgl. die bereits erwähnte KSZE-"Charta von Paris für ein neues Europa" (abgedruckt in Europa-Archiv , 24/1990, S. D 656-664).] Damit begann im früheren Ostblock ein historisch beispielloses Doppelexperiment: der Versuch, zugleich eine marode Planwirtschaft in eine funktionierende Marktwirtschaft und eine diskreditierte Diktatur in eine stabile Demokratie zu überführen.

Ob dieser Versuch wem in welcher Zeit gelingt, ist eine offene Frage. [ Vgl. für einen Gesamtüberblick, der verhalten optimi stisch ist, den Survey Eastern Europe, The Economist , 13.3.1993.] Hält man sich vor Augen, wie schwer sich die reiche und politisch relativ stabile Bundesrepublik Deutschland tut, die deutsche Einheit materiell und mental zu vollenden, wird annäherungsweise klar, vor welch ungleich größeren Problemen jene postkommunistischen Gesellschaften stehen, die auf eine derartige Unterstützung nicht zählen können.

Die ökonomische Transformationskrise, die sie durchlaufen, ist allerdings aufgrund verschiedenartiger Ausgangsbedingungen und Größenordnungen sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn könnte sie ihren Tiefpunkt erreicht haben, und im allgemeinen werden diesen Ländern relativ günstige Entwicklungschancen eingeräumt. Auch für sie gilt jedoch, daß es bisher nicht gelungen ist, die Voraussetzungen für befriedigendes wirtschaftliches Wachstum zu schaffen. [ Vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissen schaftlicher Forschungsinstitute, Die Lage der Weltwirt schaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 1994, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Wochenbericht , 16-17/1994, S. 233-235; Hans-Joachim Spanger, Die bitteren Früchte des Kapitalismus: Osteuropa in der Transformations krise, in: Gert Krell u.a. (Hrsg.), Friedensgutachten 1993, Mün ster 1993, S. 107-122 und Frank furter Allgemeine Zeitung ( FAZ ), 28.12.1993, S. 10.] Und selbst in Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn ist mit steigender Arbeitslosigkeit zu rechnen, weil viele Großbetriebe durch Personalabbau erst noch wettbewerbsfähig werden müssen. [ Vgl. Klaus W. Bender, Angst vor der Freiheit, FAZ , 21.2.1994, S. 14 und Helga Hirsch, Der Glanz trügt, Die Zeit , 15.4.1994, S. 10.]

Die soziale Dimension der zum Teil drastischen Produktions- und Einkommenseinbrüche wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß das durchschnittliche Wohlstandsniveau der Transformationsländer erheblich unter dem der OECD-Staaten liegt. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen lag es 1989 zwischen einem Drittel (Rumänien) und der Hälfte (CSSR) der westlichen Industrieländer. [ Vgl. Hans-Peter Fröhlich und Franz Josef Link, Makroökonomi sche Zwischenbilanz des Transformationspro zesses in Mittel- und Osteuropa, Institut der deutschen Wirt schaft, iw-trends , 1/1993, S. 16 (dort wird aller dings darauf hingewiesen, daß die Aussagekraft der Berechnungen umstritten ist).] Nach WHO-Angaben war die Lebenserwartung im ehemaligen Ostblock Ende der 80er Jahre im Durchschnitt um fünf bis sechs Jahre niedriger als in Westeuropa und die Kindersterblichkeit doppelt so hoch. [ Vgl. Frankfurter Rundschau ( FR ), 17.9.1990, S. 20.] Indikativ für die menschlichen Härten des Umbruchs ist der in vielen Ländern jähe Fall der Geburtenrate zwischen 1989 und der ersten Hälfte des Jahres 1993, der in Polen über 20 %, in Bulgarien 25 %, in Rumänien und Estland 30 % und in Rußland 35 % betragen haben soll. [ Vgl. The Economist , 23.4.1994, S. 38. Dort wird auch von einem über 30%igen An stieg der Mortalitätsrate in Rußland zwischen 1989 und 1993 berichtet.]

Die Wurzeln der heutigen ökonomischen und sozialen Probleme liegen zum einen in der Radikalität der Transformationsperiode selbst. Sie bringt zwangsläufig Reibungsverluste in einer Zwischenphase mit sich, „in der die Institutionen, Strukturen und kollektiven Dispositionen der Planwirtschaft noch bestehen, die der Marktwirtschaft aber noch nicht greifen..." [ Michael Dauderstädt u.a., Solidarität mit Osteuropa: Ko operation statt Katastrophe, Vierteljahresberichte , Son derheft Dezember 1992, S. 90. Andererseits ist der Zusam menbruch des Handels unter den früheren kommunistischen Staaten in den Jah ren 1989-1992 ein Beispiel dafür, daß Strukturen nicht mehr bestehen, die die Reibungs verluste hätten verringern können. (Vgl. Michael Dauderstädt, Options in Foreign Economic Relations for Central and Eastern Europe, Intereconomics , Ja nuar/Februar 1994, S. 18).]

Dieser Wandel ist revolutionär von der institutionellen bis zur individuellen Ebene. Das Ersetzen von Plan durch Markt als Steuerungsprinzip von Produktion und Verteilung ist mehr als die Umstellung von einem Wirtschaftssystem auf ein anderes; erforderlich ist ein grundlegender Wandel individueller Einstellungen und Verhaltensweisen: Statt umfassender staatlicher Daseinsfürsorge sind nunmehr Selbstverantwortung und Eigeninitiative und die Bereitschaft gefragt, die Entwertung von Kenntnissen und Fertigkeiten und die damit einhergehenden Einkommens- und Ansehensverluste ebenso hinzunehmen wie eine wachsende soziale Ungleichheit, und das zu einem Zeitpunkt, in dem sie noch nicht durch einen allgemein steigenden Lebensstandard erträglich gemacht wird und sich Glücksritter, Spekulanten und Kriminelle Reichtümer verschaffen. Nur wenn diese „stille Revolution" gelingt, kann letztlich das Ganze gelingen. [ Vgl. Karl Schlögel, Die stille Revolution, Der Spiegel , 15.2.1993, S. 130-145 und Smolar (Anm. 17), S. 30.]

Eine zweite Wurzel der Transformationskrise liegt im materiellen und politischen Erbe des Kommunismus. Erst nach seinem Zusammenbruch offenbarte sich der volle Umfang der von ihm angerichteten ökonomischen und ökologischen Verheerungen. Wachstum und Einkommenssteigerungen wurden durch eine extensive Produktionsweise und eine Aufzehrung der wirtschaftlichen (Verfall des Kapitalstocks und der Infrastruktur) und natürlichen Substanz erkauft. [ Für ein Beispiel vgl. Werner Gumpel, Die tiefe Krise der russischen Erdölwirtschaft, SZ , 31.3.1993, S. 29.] Die Tatsache, daß vor allem die UdSSR nur im Rüstungssektor mit dem Westen einigermaßen Schritt halten konnte, demonstrierte um so deutlicher die allgemeine Produktivitäts- und Technologielücke zwischen ihr und dem Westen. Zudem verschärfte der hohe Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt (ca. drei- bis viermal so hoch wie in den USA) diesen Rückstand, da es sich um unproduktive Investitionen handelte, die durch die Abschottung der Rüstungsindustrie von der zivilen Wirtschaft kaum produktive Nebeneffekte zeitigten.

Auch die ökologische Bilanz der Kommandowirtschaft ist katastrophal. [ Vgl. zu entsprechenden Angaben Dauderstädt u.a. (Anm. 25), S. 97-103 und SZ , 3.4.1992, S. 10. Nach einem 1991 zusam mengestellten Bericht lebten in der ehemali gen UdSSR 50 Mil lionen Menschen in Gebieten, in denen Luft, Wasser oder Boden stark verseucht sind (vgl. FAZ , 29.1.1993, S. 2). ] Systembedingte Defizite führten mehr noch als im Westen zu einem industriellen Wirtschaften auf Kosten seiner natürlichen Grundlagen. Zur Planerfüllung und Wachstumssteigerung wurden die Kosten von Rohstoffen, Energie und Schadstoffemissionen unterbewertet oder vernachlässigt, so daß die Unternehmen und Verbraucher keinen Anreiz zu sparsamem und umweltgerechtem Verhalten hatten. Aufgrund staatlicher Repression und Informationssperre konnte sich keine ökologisch orientierte Opposition formieren, die wie im Westen ein staatliches, unternehmerisches und individuelles Umdenken hätte befördern können.

Diese Unterdrückung einer kritischen Öffentlichkeit ist ein Hauptgrund für die akute Gefahr, die vom zivilen und militärischen Nuklearkomplex ausgeht. Ein Fünftel der Fläche der ehemaligen Sowjetunion soll atomar verseucht sein. [ Vgl. FAZ , 29.1.1993, S. 1.] Von den derzeit in Betrieb befindlichen 72 Reaktorblöcken im früheren Ostblock entspricht keiner westlichen Sicherheitsstandards, und 16 Blöcke sind aus der Tschernobyl-Baureihe. [ Vgl. Dauderstädt u.a. (Anm. 25), S. 100 und Christoph Bertram, Ach, so schlimm wird's schon nicht werden!, Die Zeit , 29.1.1993, S. 5-6.] Getrieben von technologischen Zwängen und kurzsichtigen ökonomischen Kalkülen, und ohne den Widerstand einer informierten und engagierten Öffentlichkeit befürchten zu müssen, wurden diese „tickenden Zeitbomben" errichtet.

Das Beispiel der westlichen Opposition gegen Kernkraftwerke verweist auf den Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und Demokratie. In einem dezentralisierten Wirtschaftssystem orientieren sich die einzelnen Produzenten und Konsumenten an individueller Gewinn- bzw. Nutzenmaximierung. Wie sich besonders deutlich an der Umweltproblematik (aber z.B. auch an der Tendenz zur Konzentration auf den Produzentenmärkten) zeigt, sorgt diese individuelle Rationalität jedoch nicht automatisch für gesamtwirtschaftliche oder ökologische Rationalität. Ohne ein Eingreifen des Staates bestünde vielmehr die Gefahr, daß die Wirtschaftssubjekte in Verfolgung ihrer egoistischen Ziele die Rahmenbedingungen ihres Verhaltens zerstören.

Wenn jedoch, wie im früheren Ostblock, der Staat in Form einer unkontrollierten Partei- und Bürokratiekaste als alleiniger Produzent auftritt, kann er diese Korrektivfunktion gegen sich selbst nicht wahrnehmen. Mangels Konkurrenz entsteht ein Angebotsmonopol mit seinen Begleiterscheinungen einer niedrigen Produktivität, hohen oder hoch subventionierten Preisen und verschwenderischem Einsatz natürlicher Ressourcen.

Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und durch freie Wahlen hergestellte Verantwortlichkeit der Regierenden gegenüber den Regierten sind also mehr als Ordnungsprinzipien eines demokratischen Gemeinwesens. Ohne sie wäre es in industriellen „Risikogesellschaften" einer kritischen Öffentlichkeit nicht möglich, gegenüber politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern einen verantwortlichen Umgang mit Risikotechnologien (z.B. Kernkraft, Chemie, Gentechnik) und den natürlichen Lebensgrundlagen anzumahnen. [ Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Überlebensfragen, Sozialstruktur und ökologi sche Aufklärung, Aus Politik und Zeitgeschichte , 1.9.1989, S. 3-13.]

Durch freie, gleiche und geheime Wahlen könnte auch ein autoritäres oder gar diktatorisches Regime installiert werden, das Rechtsstaatlichkeit auf seine formalen Inhalte im Sinne von Gesetzmäßigkeit der Verwaltung reduziert und Gewaltenteilung suspendiert. [ Zum Unterschied zwischen formellem und materialem Rechts staatsbegriff des Grundgesetzes vgl. Ernst Benda, Rechts staat, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1991, S. 571-573.] Eine substantielle, entwickelte Demokratie zeichnet sich deshalb durch mehr aus als eine ihr entsprechende Infrastruktur in Form von Parteienpluralismus, freie Medien, unabhängige Justiz und gesellschaftliche Integration und Partizipation durch Verbände und Interessengruppen; [ Vgl. dazu das detaillierte Dokument des Kopenhagener KSZE-Treffens über die menschliche Dimension vom 29.6.1990, das eine Art "Demokratie"-Vademekum darstellt (abgedruckt in Europa-Archiv , 15/1990, S. D 380-394). ] letztlich ruht ihre Stabilität auf der demokratischen Mentalität der Bürger, d.h. ihrer Bereitschaft zur Toleranz gegenüber Minderheiten, zur Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und zum politischen Engagement. [ Diese Mentalität ist gefährdet, wenn sich der Bürger im mer weniger als Träger, wohl aber als Konsument der Poli tik versteht, wenn "die einen Politik machen, die anderen sich mit Verdrossenheit begnügen". Mangelndes Vertrauen in die Politik und wach sende Distanz zu ihr sind gewiß auch Reflexe auf Feh ler und Versäumnisse der Poli tik; aber: "Wer Grund hat, sich zu ärgern über das Verhalten von Personen, Parteien und Orga nisationen, denen es um die Macht geht, der soll sich der Po litik zuwenden, anstatt ihr verdrossen den Rücken zu keh ren."(Richard von Weizsäcker, Die freiheit liche Demokratie be darf der Ver antwortung und Solidarität ihrer Bürger, Bulletin , 18.2.1993, S. 123).] Diese demokratische Grundeinstellung hat, legt man die Erfahrung der westlichen Demokratieentwicklung zugrunde, ihrerseits bestimmte sozio-kulturelle und ökonomische Voraussetzungen, zu denen u.a. gehören: ein Verständnis von Menschenwürde, in dessen Mittelpunkt das freie und gleiche Individuum steht; ein vergleichsweise hohes allgemeines Bildungsniveau; eine Einkommensverteilung bzw. -umverteilung, die für sozialen Frieden sorgt, und ein Wirtschaftssystem, das allgemeinen Wohlstand sichert. [ Einer UNDP-Studie zufolge scheint es eine positive Korre lation zwischen nationalem Einkommensniveau und einem aus fünf Indikatoren gebildeten "Index politischer Freihei ten" zu ge ben. Aber: "Even poor nations can enjoy a high level of poli tical freedom." (United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 1992, New York 1992, S. 32).]

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, daß es in den postkommunistischen Staaten bis zum Aufbau stabiler demokratischer Verhältnisse noch ein weiter Weg ist. Ob die Chancen dazu gering sind, [ So Egbert Jahn, Der Umbruch in Osteuropa - ein Ereignis mit weltpolitischen Aus wirkungen, Osteuropa , Januar 1993, S. 29-30. Fukuyama begründet diese Skepsis so: "The only cultural factor that would appear to be an absolute pre requisite for the successful establishment of democracy is a sense of national identity or unity." (Francis Fukuyama, Democratization and International Security, in: IISS (Anm. 17), S. 17). Diese Bedingung ist in vielen Transformationsge sellschaften angesichts ethni scher und religiöser Zerklüftung sowie umstrittener Grenzen nicht gegeben.] wird sich erweisen und ist von Land zu Land unterschiedlich zu beurteilen. Besonders ungewiß ist die Entwicklung in Rußland und damit gerade in jenem Land, das mehr als andere ehemalige Ostblock-Staaten die sicherheitspolitische Lage in Europa und der Welt beeinflussen wird. [ Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Insti tut für Weltwirtschaft und In stitut für Wirtschaftsfor schung, Die wirtschaftliche Lage Rußlands, in: DIW, Wo chenbericht , 42/1993, S. 579-597; Heinrich Vogel, Was bleibt dem Westen au ßer Treueschwüren?, FAZ , 10.1.1994, S. 6 und Ulrich Weißenbur ger, Wirtschaftskrise und Inno vationsprozeß in Rußland, Bun desinstitut für ostwissen schaftliche und interna tionale Stu dien, Aktuelle Analy sen, Nr. 28/1994. Schlaglichter der sozia len Krise sind z.B. der steile Anstieg der Sterberate und der Säuglings sterblichkeit (vgl. Financial Times , 14.2.1994, S. 1).]

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2.2 Transformationskrise West

Der Westen [ Damit sind hier die der OECD angehörenden kapitalisti schen Demokratien gemeint, im wesentlichen also Nordamerika, Japan und die EU-Staaten.] hat den Kalten Krieg gewonnen, weil sein kommunistisches Gegenmodell sich als konkurrenzunfähig erwiesen hat. Mit diesem Sieg sind eine große Gefahr, aber auch eine große Chance verbunden.

Die Gefahr ist, daß der Westen der Selbstzufriedenheit von Siegern anheimfällt und angesichts der Kapitulation des anderen seine eigenen Schwächen verharmlost. Die Chance ist, daß nach der Fixierung auf die tatsächlichen und vermeintlichen Zwänge der Ost-West-Rivalität nun eine Selbtsreflexion einsetzt, die die eigenen Unzulänglichkeiten aufdeckt, weil der Maßstab nicht mehr der Gegner, sondern der „objektive" Problemdruck ist.

Diese Chance würde vertan, wenn auf eine konjunkturelle Erholung als Allheilmittel gesetzt würde. In der Tat besteht in dieser kurzsichtigen Versuchung ein Gutteil des Problems. Fortschritt oder Wohlstand wird allgemein und individuell vorwiegend immer noch gemessen an stetigem Wachstum und materiellem Konsum. Diese „Wohlstandslüge" verdeckt die strukturelle Dimension der Krise und behindert ihre Überwindung. [ Der Begriff stammt von Bundesumweltminister Töpfer: "Wir werden im Norden eine Krise des traditionellen Wohlstandsbe griffs erleben, und wir werden zugeben müs sen, daß wir mit einer Wohlstandslüge leben, weil wir die Kosten dieses Wohl stands auf andere, auf die Natur und auf die Zukunft abwäl zen." ( Die Zeit , 19.6.1992, S. 25). ]

Sie tut dies vor allem, indem sie eine Modellhaftigkeit suggeriert, die ein radikales Hinterfragen nicht nur als unangenehm, sondern gar als unangebracht erscheinen läßt. Doch eben dies ist notwendig: Auf den Prüfstand gehört das westliche Modell, auch und gerade weil es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zum konkurrenzlosen Vorbild geworden ist. [ "Im Zeitpunkt ihres Triumphs steht die marktwirtschaftli che Gesellschaft vor ihrer größten Bewährungsprobe." Der dama lige Bundespräsident sieht diese Herausforde rung darin, "daß das eigene Überleben des Menschen von der Wahrung der Unver sehrtheit der Natur abhängt." (Richard von Weizsäcker, Bulle tin , 8.6.1993, S. 514).]

Damit sollen die Krise der postkommunistischen Gesellschaften und die strukturellen Probleme im Westen nicht auf eine Stufe gestellt werden. Es wäre absurd, die westlichen Defizite mit jenen des bankrottgegangenen kommunistischen Systems gleichzusetzen. Aber ein Mangel fällt ins Gewicht: Verglichen mit östlichen Transformationsgesellschaften ist die Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen Kurskorrektur im Westen geringer.

Das ist zumal dann nicht erstaunlich, wenn (nicht nur) der Osten so werden will wie der Westen und die Staaten dieser immer noch „Ersten Welt" wegen ihrer wirtschaftlichen, politischen, militärischen und kulturellen Dominanz zuviel von jener Macht haben, die Deutsch als die Fähigkeit bezeichnet hat, nicht lernen zu müssen. [ "Macht hat in gewissem Sinne derjenige, der es sich lei sten kann, nichts lernen zu müssen. ... Im Extremfall ist sol che engverstandene Macht blind und für die Gegen wart unemp findlich; die Person oder Organisation, die sie aus übt, wird wie eine Ge wehrkugel oder wie ein Torpedo allein von ihrer Vergangenheit angetrieben." (Karl W. Deutsch, Politische Ky bernetik, 3., unveränderte Auflage, Freiburg 1973, S. 171-172).] Und problemverschärfend tritt hinzu, daß es immer schwerer fällt einzusehen, daß nicht andere, sondern das eigene Tun oder Lassen der „Feind" sind.

In seiner derzeitigen Verfassung kann es sich der Westen jedoch nicht leisten, Vorbild zu sein. Würde seine Produktions- und Lebensweise weltweit kopiert, müßte dies zum planetarischen Kollaps führen. [ "Die absehbaren Klimaänderungen werden bisher weit über wiegend von den Indu strieländern verursacht. Mit Blick auf die Folgen für das Klima ist die bisherige Wirt schaftsweise nicht verallgemeinerungsfähig; ihre Nachah mung durch die Entwick lungsländer würde die Risiken öko logischer Katastrophen erhö hen."(Enquete-Kom mission "Schutz der Erdatmosphäre", Erster Bericht, Deutscher Bundestag, Drucksa che 12/2400, 31.3.92, S. 98; vgl. auch ebd., S. 17, wo es noch drastischer heißt: "Eine welt weite Kopie durch die Entwicklungsländer würde den ökolo gischen Kollaps nur beschleunigen." - im folgenden "Enquete-Kommission"). Zur selben Schlußfolgerung kommt auch die En quete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" des Deutschen Bundestages (vgl. dies. (Hrsg.), Verantwortung für die Zukunft - Wege zum nachhaltigen Umgang mit Stoff- und Ma terialströmen, Bonn 1993, S. 23).] Da jedoch eine kleine Minderheit der Menschheit nicht auf die Dauer beanspruchen kann, ihre Privilegien der großen Mehrheit vorzuenthalten, müssen die reichen Industrieländer schon aus diesem Grund zu einer Wirtschafts- und Lebensform übergehen, die nicht mehr zu Lasten der Mit- und Nachwelt geht.

Darin liegt der Kern des westlichen Transformationsproblems. Um eine Krise handelt es sich in einem doppelten Sinne. „Objektiv" betrachtet widerspricht das westliche „Modell" in einem Maße ökologischer und (wohlverstandener) ökonomischer Vernunft, das es nahelegt, von fehlentwickelten statt von entwickelten Ländern zu sprechen. Subjektiv gesehen fehlen ein entsprechendes Bewußtsein bzw. die Bereitschaft und Fähigkeit, der Einsicht die nötigen Taten folgen zu lassen.

An die Grenzen des ökologisch und ökonomisch Verträglichen ist das westliche „Modell" in mehrfacher Hinsicht gestoßen. Erstens: „Wir stehen vor einer Klimaänderung, die in den letzten Jahrtausenden ihresgleichen sucht." [ Vgl. Enquete-Kommission, ebd., S. 13.] Erste Anzeichen dafür sind u.a. eine Zunahme der Oberflächentemperatur der tropischen Ozeane um 0,5 Grad Celsius und der globalen Mitteltemperatur um etwa 0,7 Grad Celsius gegenüber 1860, was zu einem Anstieg des Meeresspiegels um etwa 10 bis 20 cm geführt hat. [ Vgl. ebd., S. 9 und 14.] Werden keine einschneidenden Gegenmaßnahmen ergriffen, könnte sich die Temperatur der Erdatmosphäre bis zum Jahre 2100 um rund 2-5 Grad Celsius erhöhen und weitreichende Folgen nach sich ziehen: erheblicher Anstieg der Meeresspiegel, der küstennahe Gebiete überfluten und Millionen von Menschen vertreiben könnte; starke regionale Veränderungen der Niederschlagsmengen und damit einhergehende Verschiebungen von Vegetations- und Anbauzonen; Gefährdung von Menschen, Tieren und Pflanzen durch erhöhte UV-B-Strahlung. Das alles muß nicht zu einem Rückgang der globalen Nahrungsmittelproduktion führen; da jedoch viele Entwicklungsländer wegen ihrer geographischen Lage besonders betroffen sein würden und zugleich nicht die Mittel haben, sich gegen die Folgen der Klimaveränderung zu wappnen, müßte mit Hungersnöten und (Umwelt-)Flüchtlingsströmen gerechnet werden. [ Vgl. ebd., S. 14-15 und 76-77. Ähnlich auch der Wissen schaftliche Beirat der Bun desregierung Globale Umweltverände rungen (WBGU): "Wenn sich das menschliche Verhalten nicht än dert, bewirkt der anthropogene Anstieg der Treibhausgase nach dem jetzt existierenden Wissen schon im Laufe des nächsten Jahrhunderts eine mittlere globale Erwärmung von +3°C. ... Ohne Gegenmaßnahmen sind tiefgreifende Verän derungen zu erwar ten, so vor allem eine Umverteilung der Niederschlagszonen und ein Anstieg des Meeresspiegels bis zum Jahr 2100 um 65 +/- 35 cm."(Welt im Wandel: Grundstruktur globaler Mensch-Umwelt-Be ziehungen, Jahresgutachten 1993, Kurz fassung, S. 2-3).]

Auf diese Weise würden die Entwicklungsländer zu Hauptleidtragenden einer Katastrophe, deren Hauptverursacher die (fehl-)entwickelten Länder sind. Denn die Freisetzung der maßgeblichen Treibhausgase Kohlendioxid, Methan und FCKW geht vornehmlich auf das Konto der Industrieländer. So stammen die für die Erderwärmung hauptsächlich verantwortlichen Kohlendioxidemissionen, die aus der Verbrennung fossiler Energieträger resultieren, zu rund 95 % - kumulativ seit ca. 100 Jahren - aus den Industrieländern des Nordens, und der Pro-Kopf-Energieverbrauch liegt in Entwicklungsländern bei ca. 1/10 bis 1/40 der Industriestaaten, obgleich besonders die westlichen Industrieländer eine weit höhere Energieeffizienz (gemessen an der eingesetzten Energiemenge pro BSP-Einheit) aufweisen. [ Vgl. Enquete-Kommission, S. 17 und S. 37-39 (Anm. 42) so wie Reinhard Loske und Fritz Vorholz, In der Ener giefalle, Die Zeit , 15.5.1992, S. 59.] Unter ihnen entfallen auf die G-7-Länder 12 % der Weltbevölkerung und 55 % der Weltwirtschaftsleistung, aber auch 44 % des Weltenergieverbrauchs, 68 % des Kraftwagenbestands und 40 % der Kohlendioxidemissionen. [ Vgl. Die Zeit , 12.7.1991, S. 28.]

Drohende Klimaveränderungen durch Treibhausgase und Abbau der Ozonschicht signalisieren eine Überbeanspruchung der Atmosphäre bzw. der Stratosphäre. Eine Übernutzung und Schädigung natürlicher Produktions- und Lebensgrundlagen drohen auch in anderen Bereichen: Degradierung der Böden [ "Von den Böden der ca. 130 Mio km¨ umfassenden eisfreien Landoberfläche der Erde weisen heute bereits fast 20 Mio km¨, das sind rund 15 %, deutliche Degradationserschei nungen auf, die durch den Menschen verursacht wurden." (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Welt im Wandel: Die Gefährdung der Böden, Jahresgutachten 1994, Bremerhaven 1994, S. 69; dort wird auch gemahnt, daß die Fol gen der derzeitigen Boden nutzung in den nächsten zwei bis drei Dekaden den terre strischen Folgen des Klimawandels deutlich vorausei len werden und der Bodenschutz daher einen ähnlichen in ternationalen Stel lenwert wie der Klimaschutz bekommen sollte (S. 6 bzw. 15).] und des Grundwassers durch intensive chemisierte Landwirtschaft und gefährlichen Abfall; verschwenderischer Verbrauch von mineralischen und fossilen Rohstoffen; Vergiftung der Meere durch ihren Mißbrauch als Abfalldeponien sowie ungeklärte Abwässer und Zuflüsse, die die Schadstoffe der Agrochemie und der industriellen Zivilisation in die Meere transportieren; Überfischung der Meere; Schädigung des Klimas und Vernichtung von Pflanzen- und Tierarten durch Abholzung und Rodung der Wälder. [ "Unbesonnene Wirtschaftstätigkeit und die wachsende Zahl der Menschen bedrohen, schädigen, ja zerstören weltweit viele natürliche Lebensräume und -gemeinschaften. Lang fristig ge fährdet sich die Menschheit selbst in ihrem Überleben." (WBGU (Anm. 45), Presseerklärung am 8.6.1993 zum Jahresgutachten 1993).]

An allen diesen Prozessen sind die westlichen Industrieländer direkt oder indirekt maßgeblich beteiligt. Als Konsumenten sind sie die Hauptabnehmer der in den Entwicklungsländern für den Export gewonnenen Rohstoffe, geschlagenen Hölzer und erzeugten Agrargüter, als Produzenten tragen sie direkt zu einer Überlastung der natürlichen Grundlagen menschlichen Daseins bei. [ Für eine eindrucksvolle Darstellung dieser Überlastung vgl. What On EARTH Are We Doing?, Time , 2.1.1989, S. 14-45. Das Magazin verzichtete in jenem Jahr auf die Ernen nung eines Man nes oder einer Frau des Jahres und kürte statt dessen die ge schundene Erde zum "Planet des Jah res."]

Die westliche Produktions- und Lebensweise ist deshalb ökologisch und ökonomisch widersinnig. Sie verschlingt und zerstört natürliches Kapital in einem Ausmaß, dessen ungebremste Fortsetzung und weltweite Ausdehnung zu sinkender Produktivität angesichts steigender Umweltkosten führen müßte. [ Für einige Beispiele der ökonomischen Kosten ökologischer Schäden vgl. Lester R. Brown, A New Era Unfolds, in ders. u.a., State of the World 1993, New York 1993, S. 5-11 und SZ , 10.1.1991, S. 23. In einem Papier aus der Grundsatz abteilung des Bun desministeriums für Wirtschaft soll die Warnung enthal ten sein, daß wachsende Um weltschäden die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft langfristig zu überfordern drohen, weil die Reparaturkosten zu hoch wür den (vgl. FR , 24.3.1993, S. 1).]

Diese Zusammenhänge liegen auf der Hand. Ausreichende Konsequenzen sind gleichwohl noch nicht gezogen worden. So sitzt der Westen immer noch der erwähnten Wohlstandslüge auf, indem z.B. Umweltschäden und Ressourcenraubbau keinen angemessenen Eingang in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung finden. Im Gegenteil: Umweltkatastrophen wie z.B. ein Tankerunglück steigern das Bruttosozialprodukt, weil die Reinigung von Stränden Einkommen schafft.

Damit ist das subjektive Moment der westlichen Transformationskrise angesprochen. Wenn die Akteure (Staat, Produzenten und Konsumenten) wider ökologische und ökonomische Vernunft handeln, kann das im wesentlichen zwei Gründe haben: Zum einen kann die entsprechende Einsicht fehlen; zum anderen können aus der Sicht des einzelnen übermächtige Anreize und Zwänge ihn dazu bewegen.

Der zweite Grund dürfte heute gewichtiger sein. „Eindringliche Appelle an die politisch Verantwortlichen und die Weltöffentlichkeit" wie den mehrfach zitierten Bericht der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" [ So schreibt CDU-MdB Klaus W. Lippold, Vorsitzender der Kommission, in seinem Vorwort (vgl. Enquete-Kommission (Anm. 42), S. 3).] oder UNO-Mammutveranstaltungen wie die Rio-Konferenz „Umwelt und Entwicklung" im Juni 1992 müßte es zwar nicht geben, wenn das Umweltbewußtsein der Akteure ausgeprägt genug wäre. Dennoch: Das Wissen um die Umwelt(un)verträglichkeit des eigenen Handelns oder Unterlassens in den westlichen Industrieländern ist gestiegen. [ Ein im Auftrag des Umweltbundesamtes durchgeführtes For schungsprojekt kam zu dem Ergebnis, "daß die deutsche Bevölke rung sehr problembewußt hinsichtlich öko logischer Fragen, Pro bleme und Zusammenhänge ist." (Umweltbewußtsein der Deut schen: gut; Opferbereitschaft: begrenzt, Presse- und Informationsamt der Bundesre gierung (Hrsg.), Umwelt und Entwicklung , März/April 1994, S. 13).] Dementsprechend haben die Sensibilität in Umweltfragen und ihr politischer Stellenwert zugenommen, was nicht zuletzt an den Erfolgen „grüner" Politiker und Parteien abzulesen ist.

Zwischen Umweltbewußtsein und umweltbewußtem Handeln klafft dennoch eine allseits feststellbare Lücke. Trotz Wissens um die Umweltschädlichkeit des Kraftfahrzeugs wollten 1992 selbst bei einer Verdoppelung des Benzinpreises immer noch gut zwei Drittel der Deutschen mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren, [ Vgl. SZ , Silvester 1992, S. 6. Fast zwei Drittel der Bun desbürger lehnten es im Herbst 1993 ab, den Individual verkehr zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs zu verteu ern (vgl. FAZ , 13.10.1993, S. 5). "Beim Benzinpreis wol len 80 Prozent der Deutschen nicht zugunsten der Umwelt etwas mehr bezahlen; we niger Auto fahren würden nur 18 Prozent." ( Umwelt und Entwick lung (Anm. 53), S. 13).] und der kontinuierliche Anstieg des PKW-Bestandes hat dazu geführt, daß heute auf fast jeden zweiten Bundesbürger ein PKW kommt. [ Bis zum Jahr 2010 ist mit einem Anstieg von derzeit fast 39 Mio. auf rund 50 Mio. PKW zu rechnen (vgl. PKW-Bestandsent wicklung in Deutschland bis zum Jahr 2010, DIW, Wochenbericht , 22/1994, S. 357-364). Im OECD-Raum hat sich zwischen 1985 und 1991 der Kfz-Bestand um fast 20 % erhöht. Das damit zusammen hängende gestiegene Ver kehrsaufkommen hat in vielen Ländern dazu beigetragen, daß die Stickoxid-Emissionen trotz verbes serter Technik zugenommen haben (vgl. Gerhard Voss, Umwelt schutz im internationalen Vergleich, iw-trends , 1/1994, S. 82-83).]

Hauptgrund für diese Lücke ist ein System von Anreizen und Zwängen, dem die Akteure folgen bzw. folgen müssen. Dieses System ist insofern naturwüchsig, als die Bedürfnisse unendlich und die Mittel zu ihrer Befriedigung endlich sind, so daß es immer einen Anreiz geben wird, individuelle Nutzenmaximierung auf Kosten anderer bzw. der Natur zu betreiben. Es reflektiert aber auch und vor allem Interessen und Bedürfnisse, die ihrerseits mit der Verteilung von Macht innerhalb und zwischen Gesellschaften zusammenhängen. Insofern ist es ein gesellschaftliches Phänomen, dem der einzelne zwar ausgeliefert ist, das er aber durch seine Entscheidungen als wirtschaftlicher und politischer Akteur beeinflußt.

Wenn z.B. die Bundesbürger über unzureichende öffentliche Verkehrsmittel als umweltverträglichere Alternative zum eigenen PKW klagen, fehlt ein Anreiz zum Umsteigen. Dieser wäre aber ungleich stärker als heute, würden die tatsächlichen Kosten des Autofahrens (Luftverschmutzung, Beitrag zur Klimaveränderung, Lärmschutz, Produktionsausfall durch Unfallopfer) dem Verursacher z.B. über einen entsprechend erhöhten Benzinpreis in Rechnung gestellt. [ Vgl. Das Autofahren ist viel zu billig, SZ , 15.1.1991, S. 22. Die realen Preise für Treibstoff haben sich von 1950 bis 1990 etwa halbiert, die Kosten für die Haltung eines PKW - ge messen als Anteil am Haushaltseinkommen - sind etwa in glei chem Maße gesunken (vgl. Eckhard Kutter, Fährt die Verkehrspo litik in eine Sackgasse?, in: DIW, Wochenbericht , 32/1993, S. 446).] Dazu ist es jedoch bisher nicht gekommen, da der Benzinpreis angesichts der volkswirtschaftlichen Bedeutung der PKW-Branche, der tatsächlichen Abhängigkeit vieler Bürger von diesem Verkehrsmittel und wegen des Wohlstandssymbols Auto eine politisch höchst sensible Größe ist.

Auch Unternehmen unterliegen Anreizen und Zwängen, die sie mitverursachen. Würde z.B. der Benzinpreis drastisch steigen und dadurch die Nachfrage nach langlebigen und verbrauchsarmen PKW wachsen, würden sie entsprechende Modelle anbieten (müssen). Ähnliches gilt für alle auf Energiezufuhr angewiesenen Gebrauchsgüter. Das provoziert jedoch Widerstand bei Unternehmen (und Gewerkschaften), da bei insgesamt schrumpfendem Absatz einzelne Anbieter fürchten müßten, Marktanteile zu verlieren. Dahinter steht der Zwang, im Wettbewerb bestehen zu müssen. Insoweit umweltgerechtes Produzieren Kosten hervorruft und diese nicht über den Preis weitergegeben werden können, könnten sie die Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen.

Gemeint ist damit in erster Linie die internationale Konkurrenzfähigkeit, weil staatliche Akteure auf nationaler Ebene relativ einheitliche Rahmenbedingungen schaffen können. Diese Staaten stehen aber ihrerseits in einem Konkurrenzverhältnis um Investitionen und Ressourcen, was die Einigung auf allgemein verbindliche Umweltstandards erschwert. Ein Beispiel dafür ist die geplante Einführung einer EU-Energie- und Kohlendioxidsteuer. Sie ist bisher u.a. an dem Streit darüber gescheitert, welche Anteile die EU-Mitglieder an der angestrebten Rückführung der Kohlendioxidemissionen bis zum Jahre 2000 auf den Stand von 1990 übernehmen sollen. Über diese internen Differenzen hinaus haben die EU-Partner die Bedingung gestellt, eine solche Steuer nur bei entsprechenden Beschlüssen anderer westlicher Industrieländer zu erheben. [ Vgl. FAZ , 24.4.1993, S. 11.] Andere Beispiele sind Tropenholzexporteure wie Indonesien und Malaysia, die sich gegen die Diskriminierung von Tropenholzimporten in den Industrieländern wehren, [ Vgl. SZ , 22.2.1993, S. 7.] und die OPEC-Staaten, die sich gegen eine EU-Energiesteuer gewandt haben. [ Vgl. FAZ , 13.6.1992, S. 2.]

An der OPEC läßt sich ferner der Einfluß der Machtvariable demonstrieren. Erdöl hat unter den zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gehandelten Rohstoffen eine einzigartige Bedeutung, da es das Schmiermittel der westlichen und der Weltwirtschaft insgesamt ist. [ In den achtziger Jahren wurde der Weltenergiebedarf zu mehr als 40 % durch Erdöl gedeckt (vgl. Bernhard May, Kuwait-Krise und Energiesicherheit, Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Arbeitspapiere zur Inter nationalen Politik, Nr. 63, Bonn 1991, S. 134).] Vor diesem Hintergrund gelang es den OPEC-Staaten, ihre Angebotsmacht auszuspielen, indem sie in der ersten Energiekrise 1973/74 den Ölpreis verdreifachten und ihn in der zweiten Krise verdoppelten. Ende der achtziger Jahre jedoch war Erdöl in realen Preisen wieder so billig wie Anfang der siebziger Jahre - Ergebnis einer Machtverschiebung zugunsten der Abnehmer, die mehrere Ursachen hatte: verminderte Nachfrage, das Auftreten neuer Anbieter und vermehrte Interessengegensätze innerhalb der OPEC. [ Vgl. ebd., S. 16 und 32-33.]

Diese Nachfragemacht des Westens als preisbestimmende Größe ist wesentlich stärker in anderen Bereichen des Nord-Süd-Handels. Das zeigt sich schon daran, daß es ein der Macht der OPEC vergleichbares Angebotskartell nicht gibt. Der Hauptgrund ist die unvergleichlich geringere Verwundbarkeit der Nachfrager im Falle von Lieferstörungen bei fast allen anderen mineralischen oder agrarischen Rohstoffen: Mag auch die Abhängigkeit von Kaffee- oder Kupferimporten groß sein, die Verwundbarkeit ist gleichwohl relativ gering, da diese Rohstoffe für die Industrieländer eine gesamtwirtschaftliche Bedeutung haben, die auch nicht annähernd derjenigen des Erdöls entspricht. [ Zum Unterschied von Abhängigkeit und Verwundbarkeit vgl. May, Kuwait-Krise, S. 8-9 und Hanns W. Maull, Energy and resources: the strategic dimensions, Survival , Novem ber/Dezember 1989, S. 502. Andere mineralische Rohstoffe mit relativ hoher Verwundbarkeit sind Platin, Chrom, Vanadium, Mangan und Kobalt, mit dem aller dings signifi kanten Unter schied, daß selbst dramatische Preissteige rungen keine ins Ge wicht fallenden volkswirtschaftlichen Störungen auslösen wür den, da ihr Handels volumen verglichen mit Erdöl ungleich nied riger ist (vgl. ebd., S. 508).]

Vielmehr besteht in diesen Fällen eine asymmetrische Interdependenz: Die Lieferländer sind auf die Abnehmer stärker angewiesen als umgekehrt, da einzelne oder wenige Güter einen hohen Anteil an ihren Gesamtexporten ausmachen, diese Güter in der Regel landwirtschaftliche Erzeugnisse, Rohstoffe und minderwertige Fertigprodukte sind und die Verwundbarkeit der Importländer niedrig ist. [ Zum Begriff der asymmetrischen Interdependenz vgl. Robert O. Keohane und Joseph S. Nye, Macht und Interdependenz, in: Karl Kaiser und Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Weltpoli tik, Bonn 1985, S.78.] Insgesamt nahmen die westlichen Industrieländer 1990 etwa zwei Drittel der Exporte der Entwicklungsländer auf, während in den Jahren 1987 bis 1990 nur durchschnittlich ca. 18 % der Exporte der Industrieländer in die Entwicklungsländer gingen. [ Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ), Journalisten-Handbuch Entwicklungs politik 1993, Bonn 1992, S. 249. ]

Diese asymmetrische Interdependenz und damit Machtbeziehung nutzen die Industrieländer zu ihren Gunsten im Verteilungskonflikt um die Gewinne aus dem Nord-Süd-Handel. Ablesbar ist dies an den „Terms of Trade" (ToT), d.h. dem Index der Durchschnittspreise für Ausfuhren geteilt durch die entsprechenden Preise für Einfuhren. Die ToT der Entwicklungsländer lagen z.B. 1991 deutlich unter jenen zu Beginn der achtziger Jahre. [ Vgl. ebd. und Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Der Nord-Süd-Konflikt, Bonn 1992, S. 32-39.]

Machtverhältnisse spielen also eine entscheidende Rolle bei der Schaffung von Anreizen und Zwängen, die das Verhalten von Akteuren steuern. Diese Parameter provozieren umweltschädliches Verhalten, weil sie die ökologischen Kosten ökonomischer Entscheidungen nur unvollständig widerspiegeln. Produzenten und Konsumenten richten sich an Preisen aus, die den Wert der Umwelt und natürlicher Ressourcen zu niedrig ansetzen.

Das verweist auf den für die Marktwirtschaft charakteristischen Konflikt zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlicher Rationalität: Während es für den individuellen Produzenten bzw. Konsumenten erstrebenswert ist, sich ein Angebots- bzw. Nachfragemonopol zu verschaffen, liegt es zugleich im Interesse aller, dies zu verhindern. Während das Abwälzen der Umweltkosten auf die Mit- und Nachwelt für den einzelnen Produzenten oder Konsumenten rational erscheinen kann, weil es seine Kosten senkt, läuft ein solches Verhalten offensichtlich dem Allgemeininteresse zuwider, da es zum Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen verführt. [ Eine Variante dieses Konflikts ist das sog. Gemeingüter dilemma: Frei verfügbare Gü ter wie Luft werden in Folge indi vidueller Nutzenmaximierung überbeansprucht, weil der Schaden, der dem Gut zugefügt wird, nicht bzw. zu spät in die individu elle Ge winn- und Verlustbilanz einfließt (vgl. zu diesem auch als "tragedy of the commons" bezeichneten Phänomen Dieter Senghaas, Internationale Politik jenseits des Ost-West-Kon flikts, Stiftung Wissen schaft und Politik, September 1991, S. 15-17 und Sebastian Oberthür, Die internationale Zusammenar beit zum Schutz des Weltklimas, Aus Politik und Zeitge schichte , 10.4.1992, S. 11-12).]

In einer funktionierenden Marktwirtschaft erfolgt eine Regelung dieses Konflikts zwischen Individual- und Gemeinwohl über den Staat und eine kritische Öffentlichkeit. Der Staat als Agentur des Gemeinwohls hat durch Verbote, Abgaben und Anreize (z.B. steuerlicher Art), durch seine Rolle als Nachfrager und Produzent für eine Angleichung von individueller an kollektive Rationalität zu sorgen. Dasselbe gilt für das Regulativ der kritischen Öffentlichkeit: Gruppen, Bewegungen, Parteien und Medien machen sich zum Anwalt der Um-, Mit- und Nachwelt und üben entsprechenden Einfluß auf Staat, Unternehmen und Gesellschaft aus.

Soweit die Theorie. Es gäbe keine westliche Transformationskrise, würde sie mit der Realität übereinstimmen. Für die Kluft zwischen Ist- und Sollzustand gibt es im wesentlichen drei Gründe, von denen die ersten beiden mit der Fähigkeit und der dritte mit der Bereitschaft zusammenhängen, diese Kluft zu verringern:

(a) Umweltvorsorge und -nachsorge ist vielfach eine zwischenstaatliche Aufgabe, weil Umweltschäden keine Grenzen kennen. Da sie jedoch nicht kostenlos ist, stellt sich auf internationaler Ebene dasselbe Problem wie im nationalen Rahmen: Die einzelnen Akteure werden versuchen, in Verfolgung individueller Nutzenmaximierung die Kosten umweltverträglichen Verhaltens zu externalisieren. Der resultierende Konflikt kann jedoch nicht in gleicher Weise wie im nationalen Bereich abgemildert werden, da eine dem Staat vergleichbare, mit autoritativer Regelungskompetenz ausgestattete supranationale Instanz fehlt. Auch der korrigierende Einfluß einer kritischen Öffentlichkeit ist geringer, da sie über Grenzen hinweg in der Regel schwieriger zu organisieren und deshalb auch mit weniger Sanktionsmacht ausgestattet ist als im vertrauten nationalen Rahmen.

(b) Dieser politischen Partikularisierung stehen zwei ökonomische Trends gegenüber: eine anhaltende Globalisierung und eine mögliche Fragmentierung. Sie sind teilweise konträr, erschweren aber beide nachhaltig die politische Steuerbarkeit ökonomischer und damit ökologischer Prozesse.

Die Globalisierung hat zwei Aspekte. Zum einen die Internationalisierung von Produktion und Dienstleistungen durch Firmen, „die in zunehmendem Maße weniger an die besonderen Interessen und Werte ihres Ursprungslandes gebunden sind." [ Kennedy (Anm. 2), S. 71. Ein Ver treter der Globali sierungs-These ist Reich. Er sieht die Staaten in einer globalen Standortkonkurrenz um In vesti tionen, in der angesichts der Mobilität der übrigen Produkti onsfaktoren die Qualifikation der Arbeitnehmer entscheidend ist. (Vgl. Robert B. Reich, The Work of Nations: Preparing Ourselves for 21st-Century Capitalism, New York 1992)] Dabei mag die These „Konzernmanager denken nicht patriotisch, sondern global", [ Hans-Peter Martin und Harald Schumann, "Der Feind sind wir selbst", Der Spiegel , 11.1.1993, S. 107.] insofern übertrieben sein, als multinationale Unternehmen nicht wirklich global, sondern eher regional oder multi-regional ausgerichtet sind; [ So jedenfalls The Economist , A Survey of Multinationals, 27.3.1993, S. 10-18.] in jedem Fall jedoch sind sie transnational orientiert, da ihre Loyalität vorrangig dem optimalen Standort und nicht einer bestimmten Nation gilt und gelten muß, wenn sie im Wettbewerb bestehen wollen. Diese Unternehmen wickeln etwa 80-90 % des internationalen Handels der Marktwirtschaften ab, wobei 30-40 % auf firmeninternen Handel, d.h. zwischen Tochtergesellschaften der gleichen Unternehmen, entfallen sollen. [ Dieter Senghaas, Interdependenzen im internationalen Sy stem, Stiftung Wissenschaft und Politik, Februar 1992, S. 18. Einer anderen Quelle zufolge findet schätzungs weise ein Vier tel des gesamten Welthandels innerhalb mul tinationaler Unter nehmen statt (vgl. Axel Borrmann und Georg Koopmann, Regiona lisierungstendenzen in der Welt wirtschaft und das Gatt, in: Benno Engels (Hrsg.), Per spektiven einer neuen Handels politik, Hamburg 1993, S. 118). Dieser firmeninterne Handel macht bis zu 40 % des U.S.-Handels aus (vgl. Peter F. Cowhey und Jonathan D. Aronson, A New Trade Order, Foreign Policy , 72 Jg., Nr. 1 (America and the World 1992/93), S. 183).]

Von diesem Handel mit Gütern und Dienstleistungen haben sich die internationalen Finanzmärkte weitgehend gelöst. Dieser zweite Aspekt der Globalisierung hat dazu geführt, daß Ende der achtziger Jahre 90 % des Handels an den Börsen nichts mehr mit dem realen Warenfluß zu tun hatten. [ Vgl. Kennedy (Anm. 2), S. 73.] Unterstützt durch die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien und eine Deregulierung des Kapitalverkehrs ist ein globaler Finanzmarkt entstanden, auf dem es Kapitalbewegungen von täglich bis zu 1000 Mrd. US-Dollar gibt. [ Vgl. Senghaas (Anm. 70), S. 19. Die Zahlenangabe stammt vom damaligen Staatsse kretär im Finanzministerium, Horst Köh ler, der dafür die Bezeichnung "Monster" des früheren US-Fi nanzministers Brady übernahm (vgl. sein Interview in Der Spie gel , 1.2.1993, S. 94). Zu den Problemen, die sich daraus für die Außen- und Wirt schafts politik einzelner Staaten ergeben, vgl. Ethan B. Kapstein, Governing Global Finance, The Washington Quarterly , Frühjahr 1994, S. 79-80.]

Wie groß die Gefahr einer Fragmentierung der Weltwirtschaft in Handelsblöcke (insb. Europäischer Wirtschaftsraum, Nordamerika und asiatisch-pazifische Region unter Führung Japans) ist, wird unterschiedlich beurteilt. Ein damaliger Präsident der Deutschen Bundesbank hält derartige Befürchtungen vor allem mit Hinweis auf die zunehmende Interdependenz der Industrieländer für übertrieben, [ Vgl. Helmut Schlesinger, Challenges of European integra tion: from the single market to the monetary union, Rede vor dem World Affairs Council in Los Angeles, 16.4.1993, Manu skript, S. 5-6; ähnlich auch Borrmann und Koopmann (Anm. 70), S. 133.] andere geben sich besorgter. [ Vgl. DIW, Wochenbericht , 8-9/1993, S. 91.]

Wie dem auch sei: Sollte es zu einer solchen Fragmentierung kommen, könnte sie eine handelspolitische Konfrontation mit sich bringen, die die Bereitschaft und Fähigkeit der politischen Akteure zu ökologischer Kooperation einschränken würde. Das gilt in verstärktem Maße für die Implikationen der Globalisierung. Das ökologische Gesamtinteresse der eigenen nationalen Basis wie auch der Mit- und Nachwelt durchzusetzen, fällt Staaten um so schwerer, je geringer ihr Einfluß auf bzw. je größer ihre Abhängigkeit von ökonomischen Akteuren ist, die ihrer individuellen Rationalität folgen und innerhalb ihrer Parameter folgen müssen.

(c) Das Zusammentreffen von politischer Zersplitterung in Nationalstaaten und ökonomischer Globalisierung ist eine Erklärung für die begrenzte Fähigkeit politischer Instanzen und Bewegungen, für das (ökologische) Gemeinwohl zu sorgen. Es gibt jedoch noch eine andere, entscheidende Komponente. Sie betrifft die Bereitschaft politischer Akteure, sich dieses Gemeinwohls anzunehmen.

Sie wird zum einen eingeschränkt dadurch, daß Entscheidungsträger ebenso wie jeder andere Bürger nach individueller Nutzenmaximierung bzw. Schadensminimierung streben. Wider besseres Wissen oder besänftigt durch Ausblenden unangenehmer Optionen und Konsequenzen eigenen Handelns oder Nichthandelns, können Motive wie Machterhalt und -erwerb, Prestige und finanzielle Absicherung überhandnehmen.

Gewichtiger als dieser individuelle ist jedoch ein struktureller Faktor. In Demokratien agieren politische Entscheidungsträger auf der Grundlage eines populären Mandats. Das leistet einem Populismus Vorschub, d.h. einem politischen Verhalten, das auf die Befriedigung partikularistischer Interessen der eigenen Klientel abstellt. Selbst jene Gewählten, die um einen Ausgleich zwischen Individual- und Gemeinwohl bemüht sind, unterliegen jedoch der Sanktionsmacht ihrer Wähler. Zwar nicht im Sinne eines imperativen Mandats, das sie an die Ausführung spezifischer Aufträge binden würde; aber auch in einer repräsentativen Demokratie kann und soll es nicht anders sein, daß Politiker nicht in jedem Einzelfall, aber grundsätzlich mit Billigung der Bürger handeln.

Die (subjektive) Wurzel der Transformationskrise des Westens ist deshalb nicht die fehlende Macht, sondern das fehlende Mandat der Politiker für einen einschneidenden umwelt- und nachweltorientierten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Galbraith geißelt mit Blick auf einen (in den USA besonders ausgeprägten) Mangel an innergesellschaftlicher Solidarität die „Kultur der Zufriedenheit": „Die Mehrheit sucht ihren Vorteil unter dem Schutz der Demokratie, auch wenn diese Demokratie einen großen Teil der Bürger ausgrenzt." [ John Kenneth Galbraith, Herrschaft der Zufriedenen, Der Spiegel , 31.8.1992, S. 136 (Auszug aus seinem Buch "The Culture of Contentment", auf Deutsch erschienen als "Der wirt schaftliche Niedergang Amerikas", Hamburg 1992).] Das trifft auch auf den hier diskutierten Zusammenhang zu, wenn man das Wort „Bürger" durch „Um- und Nachwelt" bzw. im West-Süd- oder selbst West-Ost-Verhältnis durch „Mitwelt" ersetzt.

In diesem eingeschränkten Sinne handelt es sich auch um eine Krise des westlichen politischen und gesellschaftlichen Systems: Das kurzsichtige Besitzstandsdenken der privilegierten Mehrheit und von organisierten Interessengruppen [ Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist der Fehlschlag von US-Präsident Clinton, eine breite Energiesteuer einzuführen. Eine Lobbyistenallianz aus Petroleumindustrie, Handels kammern und des Industrieverbandes hat sie zu Fall gebracht, gestützt auf die Aver sion der Bevölkerung gegen jede Art neuer Steuern und die verschwenderischen Ener gieverbrauchsgewohnheiten der Ame rikaner (vgl. FAZ , 11.6.1993, S. 17 und Interna tional Herald Tribune (IHT) , 15.6.1993, S. 1 u.3). Was für die USA zutrifft, gilt eben auch anderswo: "America's political system continues to reward self-interest and short-termism." ( The Economist , 14.8.1993, S. 15).] be- oder verhindert Kurskorrekturen, und dieses Denken wird geweckt und gefördert durch menschliche Eigensucht, aber auch und vor allem durch verhaltensprägende Anreize und Zwänge, die dem einzelnen objektiv vorgegeben sind. Als Subjekt politischer und wirtschaftlicher Prozesse hat er diese Parameter jedoch mitgeschaffen, und diese Verantwortung kann dem mündigen Bürger nicht abgenommen werden, ohne daß die Demokratie selbst in Frage gestellt wird.

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2.3 Transformationskrise Süd

Im vorigen Abschnitt wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen: Das westliche Produktions- und Konsumtions-„Modell" stellt nicht nur eine Selbstgefährdung dar, weil seine weltweite Kopie die eigenen natürlichen Grundlagen überlastete; seine Kosten werden vom Rest der Menschheit mitgetragen. Damit sind nicht allein die potentiellen Kosten gemeint, die z.B. darin bestehen könnten, daß die Entwicklungsländer die Hauptbetroffenen einer Klimaveränderung sein würden. Gemeint sind vor allem auch die heute schon anfallenden Kosten für diesen Teil der Welt.

Da Marktverhältnisse durch Machtverhältnisse beeinflußt werden, ziehen die westlichen Industrieländer aus der bereits skizzierten asymmetrischen Nord-Süd-Interdependenz die größeren Vorteile. [ Vgl. dazu ferner Senghaas (Anm. 70), S. 10-12.] Sie dominieren den Welthandel, wobei sie den größten Teil ihres Handels untereinander abwickeln, während die Exporte der Entwicklungsländer nach wie vor in erster Linie auf den (westlichen) Norden ausgerichtet sind. [ Ende der 80er Jahre stammten ca. 70 % der Weltexporte aus den OECD-Ländern; der Intra-Warenhandel zwischen Westeu ropa, Nordamerika und Japan machte 78 % ihrer Gesamtex porte aus, während die Quote bei den Entwicklungsländern nur 25 % betrug (vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 1991. Daten zur Weltent wicklung, Bonn 1991, S. 114-117). Anderen An gaben zufolge sank der Anteil der Entwicklungsländer an den Weltexporten im Zuge sinkender Rohstoffpreise (nicht nur, aber insbesondere Erdöl) von 28,7 % im Jahre 1980 auf 23 % im Jahre 1990, während ihr Intra-Handel auf 30 % im Jahre 1990 gestie gen war (vgl. BMZ (Anm. 64), S. 248-249).] In dieser quantitativen ist eine qualitative Asymmetrie enthalten: Die westlichen Industrieländer haben, verglichen mit ihrem Anteil am Welthandel insgesamt, einen überproportionalen Anteil am Handel mit verarbeiteten Produkten und Dienstleistungen, d.h. an den Sektoren mit hoher Wertschöpfung und Dynamik, während die Entwicklungsländer vorwiegend als Lieferanten von Rohstoffen und Fertigprodukten mit niedrigem Verarbeitungsgrad auftreten. [ Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 93/94. Daten zur Weltent wicklung, Frankfurt a.M. 1993, S. 246.]

Dieses Muster setzt sich fort bei Kapital- und Investitionsströmen. Die ausländischen Direktinvestitionen z.B. konzentrieren sich auf die reichen Industrieländer, weil dort die Gewinnaussichten höher und stabiler sind. [ Vgl. UNDP (Anm. 35), S. 52-53. Danach erhielten die Ent wicklungsländer 1988-89 nur 17 % der ausländischen Direktinve stitionen gegenüber 31 % im Jahre 1968. Inzwi schen soll sich jedoch eine Trendumkehr mit wieder stei genden Investitionströ men in die Entwicklungsländer vollzogen haben (vgl. The Economist (Anm. 69) S. 24-25). Auch die Weltbank berichtete Ende 1993 von einer deutli chen Zunahme der Direktinvestitionen in den Entwicklungs ländern, allerdings mit einer starken Kon zentration auf wenige Länder (vgl. FAZ , 16.12.1993, S. 15).] Der Westen ist der Hauptgläubiger der Entwicklungsländer, deren Auslandsverschuldung sich in den achtziger Jahren mehr als verdoppelte und 1990 ca. 1,3 Bio. US-Dollar erreichte. In dieser Zeit stieg die Verschuldungsquote der Entwicklungsländer (definiert als Gesamtverschuldung in Prozent ihres Bruttosozialprodukts) von ca. 28 % (1980) auf über 40 % an. [ Diese Angaben entstammen Hartmut Sangmeister, Das Ver schuldungsproblem, in: Dieter Nohlen und Franz Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 1, Bonn 1992, S. 331-335; vgl. ferner BMZ (Anm. 64), S. 254.]

Äußere Umstände, die mit den internationalen Machtverhältnissen zusammenhängen, trugen zu dieser Entwicklung bei und verschärften sie. Die Verschlechterung der „Terms of Trade" wurde bereits erwähnt. Sie sind auch bedingt durch den Protektionismus der Industrieländer, der nach Weltbank-Berechnungen Ende der 80er Jahre jährliche Wohlfahrtsverluste der Entwicklungsländer mit sich brachte, die doppelt so hoch waren wie die offizielle Entwicklungshilfe. [ So Bundesminister Spranger, Bulletin , 13.12.1991, S. 1146; auch die OECD kam zu diesem Ergebnis (vgl. The Economist , 7.5.1994, S. 13).] Allein die EU subventioniert den Agrarbereich mit über 60 Mrd. DM pro Jahr und die Agrarexporte (1991) mit fast 21 Mrd. DM - Maßnahmen, die auch auf Kosten von kostengünstiger produzierenden Anbietern aus Entwicklungsländern gehen. [ Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung (Anm. 65), S. 40-43. Der IMF hat 1990 geschätzt, daß die vollständige Beseitigung der Agrarsubventionen die Exporteinnahmen der Entwick lungsländer um ca. 50 Mrd. US-Dollar steigern würde - ein Betrag, der der offiziellen Entwicklungshilfe der Indu strieländer im Jahre 1989 entsprach (vgl. Nor bert Walter, Patterns of Competition. Economic Relationships: Germany, in: Steven Muller und Gebhard Schweigler (Hrsg.), From Occupation to Cooperation. The United States and United Germany in a Changing World Order, New York 1992, S. 221).] Nach Weltbank-Angaben könnten die Entwicklungsländer jährlich vier Mrd. US-Dollar sparen, wenn die Entwicklungshilfe nicht an Einkäufe von Waren und Dienstleistungen in den Geberländern gebunden wäre. [ Vgl. FAZ , 24.4.1993, S. 12.] Die USA leisteten sich in den achtziger Jahren eine Vervierfachung ihres Haushaltsdefizits, [ Von 79 Mrd. im Jahre 1981 auf ca. 330 Mrd. US-$ im Jahre 1992, wobei der Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 2,1 % auf fast 6 % stieg (vgl. DIW, Wochenbericht , 3/1993, S. 25-26).] die sie in Kombination mit einer unzureichenden Sparrate vom größten Gläubigerland zum größten Schuldnerland der Welt machte. Was in der Dritten Welt den IMF mit seinen Strukturanpassungsprogrammen (insb. Kürzung öffentlicher Ausgaben, Abwertung der Währung) auf den Plan gerufen hätte, führte angesichts der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ausnahmestellung der USA zum Gegenteil: Angelockt von den hohen Realzinsen in den USA und vom Vertrauen in die amerikanische Leitwährung strömte Kapital zur Finanzierung der Defizite ins Land und bewirkte eine Überbewertung des Dollars. [ Vgl. Stephan Bierling, Zur Lage der US-Wirtschaft, Aus Politik und Zeitgeschichte , 23.10.1992, S. 38-39 und SZ , 9.5.1990, S. 33; vgl. auch den Leitartikel der Financial Times vom 8.11.1991, S. 18, in dem kritisch angemerkt wird: "While many Third World countries bring budget deficits under control, the world's richest country swallows up world savings to fuel what appears to be a permanent budget deficit. Some other rich countries are, in proportion to their size, even more guilty."] Dies verschärfte die Verschuldungslage der Entwicklungsländer, deren Schuldtitel auf US-Dollar ausgestellt sind.

Allerdings gibt es große regionale Unterschiede. Gemessen an der Struktur (Anteil der kommerziellen und hochverzinslichen Kredite) und am Verhältnis der Gesamtschuld zum Bruttosozialprodukt bzw. des Schuldendienstes zu den Exporterlösen ist die Schuldenlast in Latein- und Mittelamerika sowie Afrika ungleich höher als in Ostasien. [ Stiftung Entwicklung und Frieden (Anm. 78), S. 150-151.] Das verweist auf die Notwendigkeit der Differenzierung nicht nur in diesem Bereich. Auf der Basis traditioneller Kriterien wie Pro-Kopf-Einkommen und Industrialisierungsgrad gibt es innerhalb der früheren „Dritten Welt" z.T. riesige Unterschiede zwischen reichen und armen, zwischen stagnierenden und dynamischen Ländern, zwischen politisch stabilen und von Chaos und Krieg heimgesuchten Staaten.

Für die meisten Entwicklungsländer gilt, daß der Abstand zum reichen Westen in einigen Bereichen (z.B. Lebenserwartung, Alphabetisierung, Kindersterblichkeit) geringer geworden ist. Dem stehen aber auch Bereiche (z.B. durchschnittlicher Schulbesuch, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Telephone) gegenüber, in denen die Kluft noch gewachsen ist. [ Vgl. UNDP (Anm. 35), S. 39.] Das Pro-Kopf-Einkommensgefälle zwischen West (OECD-Länder) und Süd (Gesamtheit von 125 Entwicklungsländern) hat sich von einem Verhältnis von 15:1 Mitte der sechziger Jahre auf 20:1 am Ende der achtziger Jahre vergrößert, dasjenige zu den besonders armen Ländern (Least Developed Countries - LLDC) sogar auf 50:1. [ Vgl. Franz Nuscheler, Entwicklungspolitische Bilanz der 80er Jahre - Perspektiven für die 90er Jahre, in: Nohlen und Nuscheler (Anm. 81), S. 157.]

Wahrscheinlich ist allerdings die tatsächliche Ungleichheit geringer. Legt man die Kaufkraft der nationalen Währungen und nicht das zum marktgängigen Wechselkurs bewertete Sozialprodukt zugrunde, ergeben sich z.T. erhebliche Steigerungen des Pro-Kopf-Einkommens in vielen Entwicklungsländern und fast eine Verdoppelung des Anteils aller Entwicklungsländer am Weltbruttosozialprodukt von 18 % auf 34 %. [ Vgl. The Economist , 15.5.1993, S. 75 und 8.1.1994, S. 98.] Gleichwohl hat die absolute Armut zugenommen. Die Zahl der Armen (Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 380 US-Dollar) ist auf über 1,1 Milliarden Menschen, die der Hungernden auf mindestens 800 Millionen angewachsen. [ Für Lateinamerika vgl. Hartmunt Sangmeister, Lateinameri kas soziale Schuld, Aus Politik und Zeitgeschichte , 28.1.1994, S. 19-21.] Während sich die Alphabetisierungsquote verbesserte, stieg die Zahl der erwachsenen Analphabeten auf nahezu eine Milliarde. [ Vgl. Nuscheler (Anm. 89), S. 158-159.]

Vor diesem Hintergrund erscheint das Urteil gerechtfertigt, daß die achtziger Jahre für die Mehrzahl der Länder des Südens keine Dekade der Entwicklung, sondern eher eine des Stillstands oder sogar der Rückentwicklung waren. [ So Nuscheler, ebd., S. 156.] Die Weltbank rechnet zwar für die nächsten zehn Jahre mit besseren Aussichten; die von ihr erwartete jährliche Wachstumsrate von 4,7 % soll sich jedoch sehr ungleich verteilen, wobei China ein „Wachstumspol" sei, während Schwarzafrika keine spürbaren Fortschritte machen werde. [ Vgl. FAZ , 20.4.1993, S. 16.] Ergänzt man diese Einschränkung um die absehbare Bevölkerungsentwicklung (vgl. dazu unten Abschn. 3.2), dürfte sich an dem Massenelend wenig Positives ändern.

Darin liegt der Kern der südlichen Transformationskrise. Die Mehrheit der Entwicklungsländer hat es bisher nicht geschafft und wird es voraussichtlich auch längerfristig nicht schaffen, allen ihren Bürgern einen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Mindeststandard zu bieten, der ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Verantwortlich dafür sind sowohl externe als auch interne Faktoren.

Zu den externen Gründen zählt vor allem die bereits diskutierte asymmetrische West-Süd-Interdependenz, d.h. die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von (Welt-)Marktbedingungen, die im wesentlichen von den westlichen Industrieländern bestimmt wurden (Kolonisierung) bzw. werden. Trotz widriger äußerer Umstände haben jedoch einige Entwicklungsländer erstaunliche Fortschritte gemacht. Das allein zeigt, daß die hausgemachten Ursachen der Transformationskrise eine mindestens ebenso große Bedeutung haben. Zu diesen internen Faktoren gehören eine stark unausgewogene Verteilung von Macht und Einkommen, übermäßige Rüstung, wachstumshemmende Fiskal- und Geldpolitik (hohe Haushaltsdefizite und Inflationsraten), die Vernachlässigung von Infrastruktur, ländlichen Regionen sowie des Gesundheits- und Erziehungswesens (insb. Schulen), ineffiziente Staatsapparate (Korruption und Vetternwirtschaft), mangelnde Offenheit gegenüber neuen Ideen, Direktinvestitionen und Technologie aus dem Ausland sowie unzureichende regionale Kooperation. [ Vgl. Wöhlcke, Risiken aus dem "Süden" (Anm. 3), S. 37-39 sowie die zusammenge faßten Ergebnisse einer Weltbank-Stu die über die Ursachen wirtschaftlicher Wachs tumserfolge in acht asiatischen Ländern in Vinod Thomas, Lessons to be Learnt from East Asia's Success, Internationale Poli tik und Gesellschaft , 2/1994, S. 117-121; The Econo mist , 2.10.1993, S. 65-66 und Hans-Helmut Taake, Die Integration der Ent wicklungsländer in die Weltwirtschaft, Europa-Archiv , 8/1994, S. 225-226. Für Merkmale von "good economic governance" vgl. auch UNDP (Anm. 35), S. 68-70. ]

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3. Sekundäre Gefährdungen

Gefahren für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gehen in erster Linie von den drei diskutierten Transformationskrisen aus. Sie sind letztlich die Wurzeln jener Probleme, die gemeinhin als „transnationale" oder „globale Bedrohungen" gelten und die „neue" oder „erweiterte" sicherheitspolitische Agenda nach dem Kalten Krieg ausmachen sollen. Gleichwohl werden sie hier aus den eingangs genannten Gründen als zwar sekundäre, aber dennoch eigenständige Gefährdungen behandelt.

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3.1 Umwelt und Ressourcen

Hierzu genügen an dieser Stelle wenige ergänzende Bemerkungen, da eine ausführliche Beschreibung vor allem im Verlauf der Erörterung der westlichen Transformationskrise bereits erfolgt ist.

Zusammenfassend stellt sich die Situation wie folgt dar: „Trotz ökologischer Initiativen haben sich die bereits vor einem Jahrzehnt festgestellten negativen Entwicklungen fortgesetzt. Die Wälder der Erde schwinden weiter, die Wüsten wachsen und ein Drittel des Erntelandes ist von fortschreitender Erosion betroffen. Die Anzahl der Pflanzen und Tiere auf unserem Planeten geht zurück. Die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre nimmt von Jahr zu Jahr zu. Und beinahe jede neue Untersuchung deutet auf einen beschleunigten Abbau der Ozonschicht hin." [ Brown et al. (Anm. 51), S. xvii (Übersetzung E.L.).]

Diese Entwicklungen dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Zwar hat der Mensch das Bibelwort „Machet Euch die Erde untertan" auch in der Vergangenheit als Freibrief für einen Raubbau an der Natur mißverstanden; neu an der heutigen Ökoproblematik sind jedoch ihre Großräumigkeit, Komplexität und Intensität. [ Vgl. Wöhlcke (Anm. 3), S. 69.] Großräumigkeit, weil viele ihrer Auswirkungen sich lokal oder regional nicht begrenzen lassen; Komplexität, weil die Ursachen vielfältig und die Wirkungen in manchen Fällen nicht eindeutig vorhersehbar sind (um wieviel Grad wird die globale Durchschnittstemperatur durch den Treibhauseffekt zunehmen und welche Folgen hätte welcher Anstieg für das Leben auf der Erde?); Intensität, weil die Gefahr besteht, daß eine Überbeanspruchung der natürlichen Lebensgrundlagen die Verelendung großer Teile der Menschheit beschleunigt und wachsende Spannungen um die Verteilung der Überlebensressourcen nach sich zieht.

Die Parallele zur militärischen Nutzung der Atomenergie ist offenkundig: So wie die Nuklearwaffen den Menschen in die Lage versetzen, irdisches Leben in kurzer Zeit auszulöschen, [ Der revolutionäre Charakter von Nuklearwaffen liegt in der Tat nicht allein in ihrer Destruktivität, sondern auch in der kurzen Zeit, in der diese zerstörerische Wir kung erfolgen kann (vgl. Bernard Brodie, The Implications for Military Policy, in: ders. (Hrsg.), The Absolute Weapon: Atomic Power and World Order, New York 1946, S. 71). ] so hat er es heute in der Hand, der Biosphäre, die irdisches Leben ermöglicht, irreversible Schäden zuzufügen. [ "Man is still utterly dependent on the natural world but now has for the first time the ability to alter it, rapidly and on a global scale." (Jessica Tuchman Mathews, Redefining Security, in: Foreign Affairs , Frühjahr 1989, S. 177).] Und so wie es nicht zugelassen werden darf, daß der Test gemacht wird, ob ein massiv geführter Nuklearkrieg tatsächlich einer Selbtausrottung der Menschheit gleichkäme, so ist das Risiko zu hoch, durch einen Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen die Probe aufs Exempel ihrer Belastungsfähigkeit zu machen.

Es gibt Anzeichen, daß diese Belastungsgrenze bald erreicht oder überschritten werden könnte. Die Klimaproblematik ist eines. Andere sind der Getreideertrag pro Kopf der Weltbevölkerung, der zwischen 1984 und 1993 um 11 % abnahm, und der Rückgang des pro Person gefangenen Fisches um 7 % zwischen 1989 und 1993. [ Zur natürlichen Belastbarkeit der Erde insgesamt vgl. Lester R. Brown, Facing Food Insecurity, in: ders. u.a., State of the World 1994, New York 1994, S. 177-197 (Zah lenangaben auf S. 177) und Sandra Postel, Carrying Capac ity: Earth's Bottom Line, in: ebd., S. 3-21. Zur Ver min derung fruchtbaren Ackerlands vgl. Wissen schaft licher Beirat (Anm. 48); FR , 16.10.1993, S. 7; FAZ , 26.1.1994, S. 10 und den damals desi gnierten FAO-Generaldirektor Diouf, Europa-Archiv , 8/1994, S. D 273. Zur Über fischung der Meere vgl. The Economist , 19.3.1994, S. 23-24, 28; Hans Schuh, Wilde Wett fi scherei, Die Zeit , 29.4.1994, S. 45-46 und IHT , 15.8.1994, S. 1 u. 5. Dabei handelt es sich um ein Paradebeispiel des Gemeingüter di lemmas: Wer nicht selbst rücksichtslos fischt, muß be fürchten, daß er Ver luste macht, weil andere es tun; wer aber mitmacht, sägt langfristig zusammen mit den anderen an dem gemeinsamen Ast. ] Wenn die Regenwälder jährlich um fast 15.000 qkm oder etwa die Größe Schleswig-Holsteins schrumpfen, so trägt das über die Brandrodung nicht nur zum Treibhauseffekt bei; mit den Regenwäldern verschwinden auch unter genetischen Gesichtspunkten wertvolle Tier- und Pflanzenarten in einem geschätzten Tempo von hundert Arten pro Tag. [ Zu den Zahlen vgl. Bundesaußenminister Klaus Kinkel, Aus wärtiges Amt, Mitteilung für die Presse Nr. 1044, 19.3.1993, S. 2 und FAZ , 7.7.1993, S. N3. Laut Wissen schaftlicher Beirat (Anm. 45, S. 5) wird in den nächsten 25 Jahren mit dem Aus sterben von ca. 1,5 Mio. Arten gerechnet. Zur Problematik ins gesamt vgl. John C. Ryan, Conserving Biological Diversity, in: Lester R. Brown u.a., State of the World 1992, New York 1992, S. 9-26.]

Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, von einer globalen oder planetarischen Dimension der Umwelt- und Ressourcenproblematik zu sprechen. Gleichwohl gibt es beachtliche lokale und regionale Unterschiede im Grad der Betroffenheit. Zum einen in der Intensität, in der sich Umwelt- und Ressourcenüberlastung niederschlagen, zum anderen in den Mitteln, die zum Gegensteuern zur Verfügung stehen. Auch darauf wurde schon hingewiesen: In der Regel werden die ohnehin Armen und Schwachen die Hauptbetroffenen sein, und zwar - bezogen auf das West-Süd-Verhältnis - die Entwicklungsländer insgesamt wie auch zwischen ihnen und in ihren Gesellschaften. Von 26 Ländern zum Beispiel, in denen - gemessen an der jährlichen Pro-Kopf-Versorgung - heute schon Wasserknappheit herrscht, sind die meisten Länder der „Dritten Welt" mit einem niedrigen Pro-Kopf-Einkommen. [ Vgl. Sandra Postel, Facing Water Scarcity, in: Brown 1993 (Anm. 51), S. 25. Nach einer Prognose der Washingtoner Organi sation "Population Action International" könnten es im Jahr 2025 schon zwischen 46 und 52 Länder mit einem Drittel der Weltbevölkerung sein, in denen Wassermangel herrscht (vgl. Um welt und Entwick lung , Februar 1994, S. 24).] Und wenn Wasser teurer wird und mehr in seinen sparsamen Verbrauch investiert werden muß, dann werden sich das die ohnehin Privilegierten am ehesten leisten können und vielfach den größten Nutzen daraus ziehen.

Ähnliches gilt für andere Ressourcen. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der UNO berichtet von einem 25 %igen Rückgang des verfügbaren Anbaulandes pro Kopf zwischen 1950 und 1970 und erwartet einen weiteren Rückgang um 15 % bis zum Jahr 2000. Das könnte Nahrungsmittel gerade für diejenigen verteuern, die es sich am wenigsten leisten können. Zwar sollen die Erdgasvorräte noch mindestens 60 Jahre reichen; aber die Erschließung neuer Fördergebiete in immer unwegsameren Gegenden der Erde wird Investitionen in einer geschätzten Größenordnung von 800 bis 1,1 Mrd. US-Dollar erfordern [ So ein Vertreter von Royal Dutch/Shell (vgl. FAZ , 3.6.1993, S. 14).] - eine Zeche, die, wenn sie mit höheren Preisen für Erdgas und andere Energieträger einhergeht, in erster Linie diejenigen zahlen müssen, die weder über das Kapital noch die Vorräte verfügen.

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3.2 Bevölkerung

Ein Motor sowohl der Umwelt- und Ressourcenproblematik als auch der Transformationskrise Süd ist das Bevölkerungswachstum. In den Entwicklungsländern soll es z.B. die Ursache für 79 % der Entwaldung sein; je höher die Bevölkerungsdichte, um so höher der Verlust natürlicher Lebensräume und damit auch der Artenvielfalt. [ Vgl. Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen [UNFPA], Weltbevölkerungsbericht 1992, herausgegeben von Deutsche Ge sellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn 1992, S. ii und 34. "No conservation strategy, however ingenious, can get around the fact that the more resources one species consumes, the fewer are available for all the rest." (Ryan (Anm. 101), S. 26).] Generell gilt: Mehr Menschen bedeuten in der Regel einen größeren Verbrauch erneuerbarer und nicht erneuerbarer Ressourcen und immer mehr fester, flüssiger und gasförmiger Abfall. In der Folge kommt es zu Nahrungsmittel- und Wasserknappheit, Überlastung der Böden und Verelendung.

Mit dem Verweis auf diese Zusammenhänge ist keine Ursachenbestimmung verbunden. Das Bevölkerungswachstum wird hier aus zwei Gründen als sekundäre Gefährdung eingestuft. Erstens ist „Überbevölkerung" relativ zu sehen: Welche Bevölkerungszahl für ein Territorium optimal ist, hängt von der wirtschaftlichen Produktivität, den Produktionsverhältnissen und dem angestrebten Lebensstandard ab. [ Zum Begriff der "relativen Überbevölkerung" vgl. Heide Mertens, Das Bevölke rungsproblem als Indikator ungleichgewich tiger Entwicklung, in: Nohlen und Nuscheler (Anm. 81), S. 190.] Verglichen mit dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Entwicklungsländer sind die westlichen Industrieländer unterbevölkert, gemessen an ihrem Pro-Kopf-Energieverbrauch sind sie überbevölkert. Wichtiger ist jedoch zweitens, daß die Reproduktionsrate einer Gesellschaft nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis bestimmter ökonomischer, sozialer und kultureller Umstände ist.

Gleichwohl bleibt die Bevölkerungsentwicklung ein globales Problem erster Ordnung. So richtig es ist, von relativer Überbevölkerung (d.h. bezogen auf ein bestimmtes Territorium) zu sprechen - eine relative Überbevölkerung der Erde würde brisante Verteilungskämpfe und wachsende Armut mit sich bringen: „Aber eines Tages muß die Geburtenzahl zum Stehen kommen, denn die Erde ist endlich, und der Weltraum ist der Massenauswanderung verschlossen." [ Carl Friedrich von Weizsäcker, Der bedrohte Frieden. Po litische Aufsätze 1945-1981, München 1983, S. 129.]

Als Carl Friedrich von Weizsäcker 1963 diesen Satz schrieb, beherbergte die Erde ca. 3,2 Milliarden Menschen, nur 30 Jahre später waren es bereits 5,5 Milliarden. Auffällig ist das Tempo des Anstiegs: Zwischen 1830 und 1930 verdoppelte sich die Weltbevölkerung von einer auf zwei Milliarden; bis zur dritten Milliarde um 1960 vergingen noch 30 Jahre, bis zur vierten nurmehr 15 Jahre, bis zur fünften im Jahre 1987 lediglich 12 Jahre, und die Sechs-Milliarden-Grenze dürfte schon 1998 überschritten werden. [ Vgl. zu diesen Angaben Josef Schmid, Eine Fieberkurve mit Ausschlägen bis zur kri tischen Grenze, SZ , 18.9.1992, S. 8.] Vor uns liegen vier Jahrzehnte, in denen die Bevölkerung schneller wachsen wird als jemals zuvor. Der jährliche Zuwachs bis zum Jahre 2025 von derzeit 94 Millionen wird im Jahre 2020 immer noch bei 85 Millionen liegen, im Jahre 2050 werden fast doppelt soviele Menschen wie heute, nämlich 10 Milliarden, erwartet. [ Das ist die sog. mittlere Prognosevariante. Die hohe Va riante kommt auf 12,5, die niedrige auf 7,8 Milliarden Men schen im Jahre 2050 (vgl. Bevölkerungsfonds der Ver einten Na tionen [UNFPA], Weltbevölkerungsbericht 1994, herausgegeben von Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn 1994, S. 1-2).]

Der künftige Zuwachs wird nahezu vollständig auf Asien, Afrika und Lateinamerika entfallen. [ Vgl. ebd., S. 1.] Er verschärft damit die südliche Transformationskrise, die eine maßgebliche, wenn nicht gar die entscheidende Ursache ist. Vordergründig lassen sich fünf Ursachenkategorien unterscheiden: sozio-ökonomische (Kinder als Lebens- und Alterssicherung wegen fehlender oder unzureichender Alternativen; patriarchalische Ordnung; Kosten von Verhütungsmitteln), demographische (hoher Anteil der Bevölkerung im Reproduktionsalter), zivilisatorische (Rückgang der Sterblichkeit durch medizinische Fortschritte, Unkenntnis über Empfängnisverhütung), religiös-kulturelle (Verbot von Kontrazeptiven, Sohn-Präferenz) und politische Faktoren (geburtenfördernde staatliche Politik). [ Zusammengestellt nach Wöhlcke (Anm. 3), S. 30.]

Nicht alle, aber viele dieser Faktoren hängen mit Massenarmut, Ungerechtigkeit, Unterdrükkung und Unwissen, also mit den Merkmalen der südlichen Transformationskrise, zusammen. [ Ein Beispiel für diesen Zusammenhang ist die hohe Kinder zahl von Frauen, die in Subsistenzwirtschaften unter sozialer Diskriminierung leiden (vgl. Jodi L. Jacobson, Closing the Gender Gap in Development, in: Brown 1993 (Anm. 51), S. 75-76).] Sie sind entscheidend mitverantwortlich dafür, daß der Süden den demographischen Übergang, d.h. den Rückgang des Geburtenniveaus im Gefolge eines gesunkenen Sterblichkeitsniveaus, nicht geschafft hat. Dieser Vorgang vollzog sich in vielen der heute industrialisierten Länder im Einklang mit der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der breiten Bevölkerung, [ Vgl. Schmid (Anm. 107) und Hartmut Dießenbacher, Alters sicherung ist der Schlüssel zur Eindämmung des Bevölkerungs wachstum, FAZ , 25.5.1993, S. 12.] und zwar insbesondere derjenigen der Frauen, denn „zwischen der sozialen Stellung, die einer Frau in der Gesellschaft zukommt, ihrem Alphabetisierungs- bzw. Bildungsgrad einerseits und der durchschnittlichen Kinderzahl andererseits besteht im Vergleich zu anderen Ursachen die höchste Korrelation." [ Angelika Spelten, Bevölkerungswachstum als globales Pro blem, in: Gert Krell u.a. (Hrsg.), Friedensgutachten 1993, Münster 1993, S. 186. Die Bedeutung dieses Faktors unterstrei chen ebenfalls UNFPA, Weltbevölkerungsbericht 1994, S. 7-22; Nathan Keyfitz, Bevölkerungs wachstum ver hindert die Entwick lung, die das Bevölkerungs wachstum eindämmen könnte, FAZ , 25.10.1993, S. 13-14 und Helga Keßler, Me netekel mit Milliar den, Die Zeit , 22.4.1994, S. 41-42.]

Es gibt keinen Grund, einen solchen Zusammenhang nicht auch für die Entwicklungsländer zu erwarten. Zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums ist deshalb beides notwendig: eine bessere materielle Grundsicherung für alle und eine soziale Aufwertung der Frau einerseits sowie eine konsequente Politik der Geburtenkontrolle andererseits. [ Inwieweit China als Modell einer solchen Politik angese hen werden kann, ist aller dings zweifelhaft, da chinesi sche Behörden offenbar auch vor Zwangsmaßnahmen nicht zurückschrecken, die Menschenrechte in eklatanter Weise ver letzen (vgl. Nicholas D. Kristof, In China's Crackdown On Po pulation Growth, Force Is a Big Weapon, IHT , 28.4.1993, S. 4).]

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3.3 Migration

Das Bevölkerungswachstum verschärft auch die Migrationsproblematik. Was ihre Dimension betrifft, gibt es nur grobe Schätzungen mit erheblichen Unschärfen und Abweichungen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) z.B. zählte 1990 bereits 500 Millionen Umweltflüchtlinge, das Worldwatch Institute nur 10 Millionen. Die Zahl der illegalen „Gastarbeiter" soll im selben Jahr bei 100 Millionen, diejenige der legalen bei 20 Millionen gelegen haben. [ Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden (Anm. 78), S. 94.]

Die beträchtliche Unsicherheit darüber, wieviele Migranten es tatsächlich gibt, hängt mit den Schwierigkeiten der Erfassung, der Notwendigkeit von Schätzungen im Falle illegaler Migranten und der verwandten Definition zusammen. Letzteres berührt die Frage, ob nicht nur internationale, d.h. grenzüberschreitende, sondern auch Binnenwanderungen gezählt werden, und ob zwischen Migranten und Flüchtlingen unterschieden wird. So werden zum Beispiel Migranten als Personen bezeichnet, die einen dauerhaften, „freiwilligen" Wechsel in eine andere Region oder Gesellschaft vornehmen, während im engeren Sinne als Flüchtlinge solche Menschen gelten, „die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, befinden und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen wollen." [ Vgl. für die "Migranten" Definition Albert Mühlum, Ar mutswanderung, Asyl und Abwehrverhalten. Globale und nationale Dilemmata, Aus Politik und Zeitgeschichte , 12.2.1993, S. 8. Die Definition von Flüchtlingen ist ent nommen aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, zitiert bei Manfred Wöhlcke, Umweltflüchtlinge, München 1992, S. 17-18.]

Es ist offensichtlich, daß diese Trennung zwischen freiwilliger und erzwungener Wanderung willkürlich ist: Wer aus nackter wirtschaftlicher Not seine Heimat verläßt, um anderswo überleben zu können, ist im Kern genauso ein Flüchtling wie jemand, der verfolgt und vertrieben wird. Sinnvoller als diese Unterscheidung ist deshalb die Bildung von verschiedenen Migrationsgruppen, die grob in die beiden Hauptkategorien politische Migration (Genfer Flüchtlingskonvention) und ökonomisch-ökologische Migration unterteilt werden können. [ Nach Mühlum (ebd., S. 8-9), der allerdings insofern in konsistent ist, als er Migration an das Kriterium "Frei willigkeit" (wenn auch in Anführungszeichen) bindet, dann aber von "politischer" im Sinne von erzwungener Migration spricht.]

Die Zahl der politischen Migranten oder Flüchtlinge stieg von 2,5 Millionen im Jahre 1970 auf mehr als 20 Millionen im Jahre 1994. [ So die Hohe Flüchtlingskommissarin der UNO in ihrem Be richt 1994, auszugsweise abgedruckt in Europa-Archiv , 8/1994, S. D 279.] Dabei handelt es sich nur um grenzüberschreitende Flüchtlinge; innerhalb des eigenen Landes sollen 25 Millionen Menschen auf der Flucht sein. [ Vgl. ebd., S. D 280.] Zwischen dieser und der anderen Hauptkategorie gibt es sicher ebenso Überlappungen wie zwischen ökonomischen und ökologischen Migranten. [ Zur Unterkategorie der ökologischen Flüchtlinge, "die ihr angestammtes Milieu ver lassen, weil ihr Leben aufgrund von na türlichen und/oder anthropogenen Umwelt schäden sowie aufgrund von ökologischer Überlastung durch Überbe völkerung erheb lich beeinträchtigt oder gefährdet wurde", vgl. Wöhlcke (Anm. 116), Zitat auf S. 22, und Peter J. Opitz, Migrations- und Flücht lingsbewegungen, in: Nohlen und Nuscheler (Anm. 81), S. 385-387.] Darin liegt ein Grund für die Schwierigkeiten einer nur halbwegs genauen Erfassung aller Migrationsströme. Über zwei Punkte besteht gleichwohl Konsens:

• Die meisten Migranten kommen aus Entwicklungsländern und bleiben dort, d.h. sie sind ein Symptom der südlichen Transformationskrise und verschärfen sie.

- Die Zahl der Migranten wird weiter zunehmen, und parallel dazu wird auch der Migrationsdruck auf die westlichen „Inseln des Wohlstands und der Stabilität" steigen. [ Vgl. Opitz, ebd., S. 374.]

Die dafür ursächlichen Faktoren lassen sich, wie in der Migrationsforschung üblich, in Schub- und Sog-Faktoren (Push- und Pull-Faktoren) unterteilen. Als primär gelten Schubkräfte wie politische Verfolgung, Krieg und Bürgerkrieg, Verelendung sowie wirtschaftliche Not und Perspektivlosigkeit, als sekundär Sogkräfte wie Wohlstand und Sicherheit anderswo.

Von beiden Seiten wird der Migrationsdruck auf die westlichen Staaten wachsen. Schubkräfte sind die östliche und südliche Transformationskrise, wobei letztere sich zusätzlich durch das Bevölkerungswachstum verschärft. Als Sogkraft wirkt die West-Süd-Kluft, verstärkt durch die Tatsache, daß Massenkommunikations- und Massentransportmittel zur Überwindung dieser Kluft durch Migration „einladen".

Wie stark dieser Druck werden wird, ist unklar und strittig. So wurden nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs Befürchtungen über eine „Migrantenflut" von Ost- nach Westeuropa laut, angeheizt durch Meinungsumfragen, die ermittelt haben wollten, daß zum Beispiel ein Drittel aller Polen bereit sei, in den Westen auszuwandern. [ Vgl. SZ , 26.3.1992, S. 9.] Die Äußerung einer allgemeinen Auswanderungsneigung ist jedoch kein ausreichender Hinweis auf konkrete Absichten oder bevorstehendes Verhalten, [ So Klaus Segbers, Materialien zu Wanderungen in und aus der früheren Sowjetunion (FSU), Stiftung Wissenschaft und Po litik, Frühjahr 1993, S. 5.] so daß das Migrationspotential leichtfertig überschätzt werden kann. [ Vor einer solchen Überschätzung hat auch Rainer Münz ge warnt, Leiter des Instituts für Demographie an der österrei chischen Akademie der Wissenschaften (vgl. SZ , 25.3.1993, S. 9 und FR , 9.7.1992, S. 5).] Das trifft im Prinzip auch auf die angeblich 60 Millionen Zuwanderungswilligen aus dem Süden in den Westen zu. [ Diese Zahl stammt von dem britischen Bevölkerungs wissenschaftler David Coleman (vgl. FR , 24.3.1993, S. 2). ]

Damit soll jedoch keiner Verharmlosung das Wort geredet werden. Angesichts der mächtigen Schub- und Sogkräfte ist von einem beträchtlichen Migrationspotential in die reichen Metropolen auszugehen. Selbst Wissenschaftler, die die Unsicherheit jeglicher Prognosen betonen, sprechen hinsichtlich künftiger Ost-West-Wanderungen von „relevanten Größenordnungen". [ So Elmar Hönekopp, Ursachen und Perspektiven: Ost-West-Wanderungen, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Arbeits- und Sozialforschung (Hrsg.), Zuwande rungspolitik der Zukunft, Bonn 1992, S. 30-31.] Und starkes Bevölkerungswachstum insbesondere bei jungen Menschen, gekoppelt mit hoher Arbeitslosigkeit, geographischer Nähe und sozio-kultureller Affinität führen dazu, daß allein in den Ländern Nordafrikas mit einem lediglich arbeitsmarktbedingten Migrationspotential von 0,8 bis 1 Millionen Menschen jährlich zu rechnen ist. [ So Heiko Körner, Immigration aus Afrika: Herausforderung für Europa, Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Eurokolleg , Nr. 19, Bonn 1992, S. 5. Insgesamt ist nach Bundesmini ster Spran ger in den Ländern der südlichen Hemisphäre "ein gewaltiges Flüchtlings- und Wanderungspotential vor handen. Verschlechtern sich die Lebensbe dingungen dort weiter, so werden immer mehr Menschen aus immer mehr Ent wicklungsländern eine neue Zukunft und bessere Perspekti ven in den wohlhabenden Ländern des Nor dens suchen." ( Umwelt und Entwicklung , Mai/Juni 1993, S. 5).]

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3.4 Proliferation

Ein sicherheitspolitisches Problem im engeren, militärischen Verständnis ist die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Raketen als ihre Träger, modernen konventionellen Waffensystemen und zweifach (zivil und militärisch) verwendbarer Technologie. US-Außenminister Christopher sieht darin „das drängendste Rüstungskontrollproblem der neunziger Jahre." [ Vgl. Embassy of the United States of America, Bonn (Hrsg.), U.S. Policy Information and Texts ( USPIT ), 11.6.1993, S. 5.]

Stand und Perspektiven der Proliferation stellen sich in den einzelnen Bereichen wie folgt dar:

(a) Nuklearwaffen

Neben den traditionellen Nuklearwaffenstaaten (USA, Rußland, China, Frankreich, Großbritannien) gibt es verschiedene Kategorien von Staaten mit tatsächlich oder potentiell vergleichbarem Status:

- tatsächliche, aber unerklärte Nuklearwaffenstaaten. Dazu gehört nach allgemeiner Auffassung auf jeden Fall Israel, dessen Arsenal auf 100 bis 200 Sprengköpfe geschätzt wird. [ Vgl. Harald Müller, Außereuropäische Rahmenbedingungen europäischer Sicher heitspolitik, in Forndran und Pohlman (Anm. 14), S. 172; Lewis A. Dunn, Containing Nuclear Pro liferation, IISS, Adelphi Papers, Nr. 263 (Winter 1991), S. 6 und IISS, The Military Balance 1993-1994, London 1993, S. 118. ]

- Staaten, die über eine militärisch einsetzbare Fähigkeit entweder bereits verfügen oder verfügen könnten, wenn sie dies wollten. Als solche gelten Indien und Pakistan. [ Vgl. Müller und Dunn, ebd., S. 171 bzw. S. 6. Das IISS attestiert Israel, Indien und Pakistan, die nukleare Schwelle überschritten zu haben (vgl. Strategic Survey 1991-1992, London 1992, S. 205). CIA-Direktor James Woolsey hat erklärt, daß beide Staaten in der Lage seien, die Bestandteile einer geringen Zahl von Nuklearwaffen binnen kurzem zusammenzubauen (vgl. USPIT , 24.2.1993, S. 45).]

- „territoriale" Nuklearwaffenstaaten, d.h. die nicht-russischen nuklearen Miterben der Sowjetunion Belarus, Kasachstan und die Ukraine. Alle taktischen Nuklearwaffen der ehemaligen Sowjetunion sollen von ihren Territorien nach Rußland abgezogen worden sein. [ Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Weißbuch 1994 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, Bonn 1994, Ziff. 484.] Hinsichtlich der verbliebenen strategischen Systeme kann von einer vollständigen Abrüstung in Belarus und Kasachstan ausgegangen werden, die beide dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NV-Vertrag) beigetreten sind. Eine solche Prognose läßt sich für die Ukraine nicht stellen. Zwar hat ihr damaliger Präsident Krawtschuk zusammen mit US-Präsident Clinton und dem russischen Präsidenten Jelzin im Januar 1994 eine Erklärung unterzeichnet, derzufolge innerhalb von sieben Jahren alle strategischen Waffen nach Rußland gebracht werden sollen; die Durchführung dieser Ankündigung kann jedoch nicht als gesichert gelten. [ Vgl. Franz-Josef Meiers, Die Denuklearisierung der Ukraine: Wunsch oder Wirk lichkeit?, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Aktuelle Kurzanalysen, Nr. 5 (April 1994).]

- ehemalige Nuklearwaffenstaaten. Als Südafrika im Juli 1991 den NV-Vertrag unterschrieb, gaben Vertreter des Landes zu, daß man die Fähigkeit habe, Nuklearwaffen zu bauen. [ Vgl. Dunn (Anm. 129), S. 12.] Im März 1993 erklärte der damalige Präsident de Klerk, daß in den siebziger und achtziger Jahren sechs Atombomben produziert, diese aber 1990 vollständig vernichtet worden seien. Auch die internationale Atomenergie-Organisation hat keine Anzeichen, daß Südafrika noch Atomwaffen besitzt. [ Vgl. FAZ , 26.3.1993, S. 6.]

- Aspiranten, d.h. Staaten, die im Verdacht stehen, daß sie bestrebt sind oder sein könnten, sich Nuklearwaffen zu verschaffen. Nordkorea hat wahrscheinlich das fortgeschrittenste Programm. Der Irak unter Saddam Hussein hatte ein weitgediehenes Programm, das nach dem Krieg um Kuwait unter UNO-Aufsicht zerschlagen wird. Das wird jedoch vollständig nur gelingen und ein Wiederaufleben ausgeschlossen werden können, wenn die UNO-Kuratel nicht nachläßt. Der Iran hat nicht nur ein ziviles Kernforschungsprogramm. Syrien und Algerien gelten als Staaten, die an mehr als der zivilen Nutzung ihrer Forschungsprogramme interessiert sein könnten. [ Vgl. Müller (Anm. 129), S. 171-172 und Dunn (Anm. 129), S. 6-8.]

Mittelfristig, d.h. bis zum Ende des Jahrzehnts, wird sich die Zahl der Nuklearwaffenstaaten also höchstens um einige wenige vergrößern. Längerfristig ist das Proliferationspotential damit jedoch nicht erschöpft. Jede Ausweitung des Kreises der anerkannten oder de facto-Nuklearmächte untergräbt den NV-Vertrag, weil sie heutigen oder künftigen Aspiranten einen weiteren Beleg für seinen vermeintlich diskriminierenden Charakter liefert und nukleare Abrüstung erschwert.

(b) Chemische und biologische Waffen

Verglichen mit Nuklearwaffen sind chemische und biologische Waffen leichter herzustellen und zu beschaffen, da viele der erforderlichen Geräte, Materialien und Verfahren auch im zivilen Bereich eingesetzt werden und sich deshalb zivile und militärische Technologie stärker überschneiden. Beide werden deshalb zuweilen auch als „Atombomben des kleinen Mannes" bezeichnet, was insofern zutrifft, als ihr massiver Einsatz vor allem für die Zivilbevölkerung verheerende Folgen haben könnte.

Hinsichtlich der chemischen Proliferationsgefahr ist mit der Unterzeichnung der Chemiewaffen-Konvention durch 130 Staaten im Januar 1993 ein großer Fortschritt erzielt worden. Sie verbietet Besitz, Erwerb, Produktion, Lagerung, Weitergabe und Einsatz von C-Waffen und verpflichtet zur Beseitigung existierender Bestände und Produktionsstätten. Zusammen mit ihrem umfassenden Kontrollregime ist sie das „ehrgeizigste Abrüstungsabkommen, das jemals verhandelt wurde." [ IISS, Strategic Survey 1992-1993, London 1993, S. 214. Vgl. zur Konvention aus führlich Oliver Thränert, Die interna tionale C-Waffen-Konvention und ihre Pro bleme, Außenpolitik , 3/1993, S. 222-231.]

Die vollständige Umsetzung der Konvention trifft auf zwei Hauptprobleme. Erstens die Vernichtung der bestehenden Arsenale. Nur die USA und Rußland haben zugegeben, C-Waffen zu besitzen, von 15 weiteren Staaten wird dies angenommen, von denen wiederum neun zu den Erstunterzeichnern gehörten. [ So IISS, ebd.] Die erste Frage ist, wie Staaten, die der Konvention offiziell als Nichtbesitzer-Staat beigetreten sind, zur überprüfbaren Vernichtung ihrer Bestände bewegt werden können. Die zweite ungeklärte Frage ist, wie vor allem die mit 40 000 Tonnen angegebenen russischen Bestände umweltfreundlich und zu vertretbaren Kosten in der geforderten Zeit von maximal 15 Jahren vernichtet werden können.

Das zweite Hauptproblem besteht darin sicherzustellen, daß sich alle derzeitigen oder potentiellen C-Waffen-Besitzer der Konvention anschließen. Ägypten, Libyen, Syrien und Nordkorea weigern sich bisher, ebenso der Irak, dessen Kampfstoffe allerdings unter UNO-Aufsicht zerstört werden. Israel, Iran, Indien und Pakistan haben zwar unterzeichnet, ob sie jedoch ratifizieren, ist nicht sicher.

Auch für die biologischen Waffen gibt es eine bereits 1975 in Kraft getretene Konvention, die ihre Entwicklung, Produktion und Lagerung außer in Arten und Mengen verbietet, die für Schutz- oder andere friedliche Zwecke geeignet sind. Im Unterschied zur C-Waffen-Konvention wird jedoch weder definiert, was biologische Kampfstoffe sind noch gibt es wirksame Verifikationsvorschriften. Ungefähr zehn Staaten sollen B-Waffen-Programme verfolgen (dasjenige des Irak wird unter UNO-Aufsicht beseitigt). [ Vgl. IISS (Anm. 130), S. 208.] Der Nutzen von B-Waffen gegen militärische Ziele wurde bisher gering bewertet, aber Probleme wie hohe Produktionskosten, sichere Lagerung und Einsatz ohne eigene Gefährdung könnten durch technologische Fortschritte gemindert werden. Das Interesse an B-Waffen könnte deshalb steigen. [ Vgl. Müller (Anm. 129), S. 173.]

(c) Raketentechnologie

Anders als für nukleare, chemische und biologische Waffen gibt es kein vertragliches Verbot (ausgenommen den amerikanisch-sowjetischen/russischen INF-Vertrag) ballistischer Raketen. Es existiert lediglich ein Missile Technology Control Regime (MTCR), dessen 25 Mitglieder (Stand Herbst 1993) vereinbart haben, entsprechende Technologie nicht weiterzugeben. Dazu haben sie Richtlinien beschlossen, die Anfang 1993 mit dem Ziel verschärft wurden, nunmehr jede Rakete zu erfassen, deren Einsatz mit Massenvernichtungswaffen beabsichtigt sein könnte. [ Vgl. USPIT , 11.1.1993, S. 9-10.]

Israel, China und Rußland sind nicht beigetreten, haben aber erklärt, sich an die MTCR-Bestimmungen halten zu wollen. Gleichwohl soll China Raketen an Pakistan geliefert haben, [ Vgl. IHT , 5.-6.12.1992, S. 5.] und die US-Administration wirft Rußland vor, absprachewidrig Raketentechnologie an Indien verkauft zu haben. [ Vgl. IHT , 26.-27.6.1993, S. 2.] Bereits Anfang 1992 besaßen schon mehr als 20 Entwicklungsländer Raketen mit Reichweiten ab 20 km. [ Vgl. Arms Control Today, April 1992, S. 28-29.] Allgemein muß mit einer Verbesserung entscheidender Parameter wie Reichweite, Traglast, Genauigkeit und Mobilität gerechnet werden. [ Vgl. Müller (Anm. 129), S. 174.]

Das MTCR bezieht sich auf ballistische Raketen. Marschflugkörper (cruise missiles) haben jedoch schon eine größere Verbreitung gefunden. Technologische Hindernisse werden ihre Genauigkeit und Anzahl wahrscheinlich nicht mehr lange begrenzen. [ So Brad Roberts, From Nonproliferation to Antiprolifera tion, International Security , Sommer 1993, S. 144.]

(d) Konventionelle Technologie

Im Golfkrieg der Alliierten gegen Saddam Hussein hat sich sowohl gezeigt, wie wirksam moderne konventionelle Waffentechnologie eingesetzt werden kann (z.B. die Ausschaltung der irakischen Radar- und Feuerleitanlagen, die den Alliierten verlustarme Luftangriffe ermöglichte), als auch wie abhängig ihre volle Wirksamkeit von ihrer Beherrschung durch den Menschen ist (Mängel auf irakischer Seite). Selbst wenn das „Anwenderproblem" nicht gänzlich gelöst werden kann, bleibt die Verbreitung moderner Technologie und Waffen (z.B. elektronische Kriegsführung, „intelligente" Munition, Flächenfeuerwaffen) ein sicherheitspolitisches Problem. Dies um so mehr, weil immer mehr Staaten die Fähigkeit zur Waffenproduktion erworben haben und erwerben könnten. [ Vgl. ebd., S. 145-148 und hinsichtlich Ostasiens IISS, Strategic Survey 1993-1994, London 1994, S. 41-50.]

Zusammenfassend läßt sich zur Proliferation feststellen:

• Inwieweit sie eingedämmt werden kann, wird immer noch von den Industrieländern mitbestimmt. Ohne ihre (legalen oder illegalen) Zulieferungen sind insbesondere Entwicklungen wie der Bau von Nuklearwaffen gar nicht oder nur auf lange Sicht möglich, weil sie eine spezielle militärische Technologie und den militärischen „Zuschnitt" ziviler Komponenten erfordern.

- Auch ernstgemeinte Exportkontrollen werden jedoch erschwert durch die zweifache Verwendbarkeit von Technologie und Material und die in freien Gesellschaften unkontrollierbare Proliferation durch abgewanderte Wissenschaftler und Techniker. Exportkontrollen könnten auch umgangen werden, wenn sich westliche Produzenten über Kooperationen und finanzielle Verflechtungen mit fortgeschrittenen südlichen Rüstungsfirmen zusammenschließen. [ Vgl. IISS, ebd., S. 50.]

• Verschärfte Exportkontrollen können, wenn sie als diskriminierend und sicherheitsabträglich wahrgenommen werden, den paradoxen Effekt haben, potentielle Proliferatoren zu verstärkten Eigenanstrengungen und weniger anspruchsvollem Waffendesign zu bewegen, so daß sie unabhängiger und damit weniger kontrollierbar werden.

• Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wächst der Exportdruck, da viele nördliche „Waffenschmieden" unausgelastet sind. Das gilt auch für den Westen, mehr noch aber für Firmen und Regionen im früheren „Ostblock", die auf Rüstungsproduktion ausgerichtet waren und nicht oder kaum mit Konversionshilfe rechnen können.


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