Vom Brain Drain zum Brain Gain

Die Auswirkungen der Migration von Hochqualifizierten auf Abgabe- und Aufnahmeländer - Eine Expertise der Friedrich-Ebert-Stiftung, Gesprächskreis Migration und Integration, von Dr. Uwe Hunger, Münster

(Volltext der Analyse in Word/Windows hier...)



Die vorliegende Expertise wurde im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung angefertigt. Sie fußt auf Studien zum "brain drain/brain gain"-Zusammenhang zwischen Indien und den USA, die der Autor während eines Forschungsaufenthalts am Department for Sociology an der University of California, Los Angeles, und am Center for Comparative Immigration Studies der University of California, San Diego, USA im Studienjahr 2001/02 durchgeführt hat. Für die Gastfreundschaft an beiden Instituten bedankt sich der Autor sehr herzlich. Besonderer Dank gilt auch den Mitgliedern der Arbeitsgruppe "Migration Hochqualifizierter" am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster für die gute Zusammenarbeit und die Bereitstellung von Informationen für einzelne Paragraphen dieser Studie: Jutta Groß-Bölting zur Situation in Mexiko, Kirsten Hoesch zum Gesundheitssektor, Vivian Hermann zur amerikanischen Politik in Bezug auf die Hochqualifizierten-Migration, Holger Kolb zur deutschen Green Card.
Dr. Uwe Hunger, im August 2003

Die Expertise wird von der Abteilung Arbeit und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von dem Au-tor in eigener wissenschaftlicher Verantwortung vorgenommen worden.



Vorbemerkung

Die Bundesrepublik Deutschland steht im internationalen "Wettbewerb um die besten Köpfe". Die Anwerbung und der Austausch qualifizierter Arbeitskräfte gewinnt zunehmend an Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung. Wissen wird zu einem Wachstumsmotor für Volkswirtschaften. Deshalb steigt international die Nachfrage nach mobilen, gut qualifizierten Arbeitskräften. Für moderne Einwanderungsgesellschaften wiederum kann der Umgang mit kultureller Vielfalt ein Innovationspotenzial bedeuten.

Die "klassischen Einwanderungsländer", wie z.B. die USA und Kanada, haben langjährige Erfahrungen mit der Anwerbung gut ausgebildeter und hochqualifizierter Migrantinnen und Migranten. In den USA haben sie nicht unwesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg der 90er Jahre beigetragen. Die Politik in diesen Ländern hat die Weichen für die Anwerbung und Aufnahme dieser Zuwanderer gestellt.

In Deutschland zeichnet sich langsam ebenfalls ein Bewusstseinswandel ab. Die "Green-Card-Initiative" hat eine intensive gesellschaftliche Diskussion ausgelöst. Deutlich wurde, dass unsere veraltete "Ausländerpolitik" durch eine moderne Einwanderungs- und Integrationspolitik abgelöst werden muss. Das Einwanderungsland Deutschland beginnt seine politischen Rahmenbedingungen den veränderten Herausforderungen anzupassen und neue Zuwanderungsregeln anzustreben. Der Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz beinhaltet deshalb auch neue Verfahren und Wege für die gezielte und gesteuerte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften. Die Debatte um dieses Gesetz zeigt, wie schwierig jedoch ein derartiger Politikwechsel zu verwirklichen ist.

In der Vergangenheit wurde die Abwanderung von Hochqualifizierten aus Entwicklungsländern ausschließlich als Verlust für deren gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung gewertet. Diese Länder investierten viel in die Bildung ihrer  Eliten in der Hoffnung, dass sie den Kreislauf von Bildungsnotstand und  Armut durchbrechen helfen. Durch die Abwanderung in die industriellen Zentren ginge ihr Potenzial vollständig verloren. Inzwischen setzt sich eine differenziertere Betrachtung durch. Die Abwanderung von qualifizierten Fachkräften aus Entwicklungs- und Schwellenländern muss nicht unbedingt nachteilig für diese sein. Es können sich auch positive Wechselwirkungen zeigen.

Das vorliegende Gutachten analysiert die Bedingungen, unter denen dies der Fall ist. Am Beispiel Indiens und anderer "Schwellenländer" lässt sich zeigen, dass auch die Entsendeländer von der Wanderung Hochqualifizierter profitieren können. Die Expertise kann damit die Diskussionen über die Bedeutung von Migration in der Entwicklungszusammenarbeit und die Konzeption einer modernen Einwanderungspolitik befruchten.

Dr. Ursula Mehrländer              Günther Schultze
Leiterin des Gesprächskreises         Referent für Migrationspolitik
Migration und Integration
der Friedrich-Ebert-Stiftung



Inhalt

Zusammenfassung

1.    Einleitung

2.    Theorien zur Migration Hochqualifizierter
2.1  Brain drain
2.2  Theorien zur Mobilität Hochqualifizierter
2.3  Brain exchange, brain circulation und brain gain

3.   Zahlen zur Migration Hochqualifizierter

4.    Brain drain und brain gain in (klassischen) Abgabeländern
4.1  Indien
4.2  China/ Taiwan
4.3  Mexiko

5.    Einwanderungspolitik für Hochqualifizierte in Aufnahmeländern
5.1  Kanada
5.2  USA
5.3  Weitere OECD-Länder

6.   Situation in Deutschland
6.1  Bisherige deutsche Einwanderungspolitik
6.2  Deutsche Green Card
6.3  Zuwanderungsgesetz
6.4  Brain drain und brain gain in Deutschland

7.   Fazit und Ausblick

7.1 Faktoren der Migration Hochqualifizierter
7.2 Perspektiven

Literatur


Zusammenfassung

Die Expertise gibt einen Überblick über die verschiedenen Wanderungsströme und Politiken in Bezug auf hoch qualifizierte Migranten, die in den vergangenen Jahren in vielen Ländern der Erde an Dynamik gewonnen hat. Nachdem in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Mobilität des Kapitals die entscheidende Triebfeder der wirtschaftlichen Entwicklung war, wird im neuen Jahrhundert die Mobilität des Faktors Arbeit, insbesondere die Mobilität Hochqualifizierter, immer bedeutsamer. Die Industrieländer haben die Einwanderungspolitik als Instrument ihrer Wirtschafts- und Strukturpolitik entdeckt, mit dem sie Engpässe auf dem heimischen Arbeitsmarkt decken und technische und ökonomische Innovationen fördern wollen.

Nachdem Entwicklungsländer in den vergangenen Jahrzehnten vor allem als verlängerte Werkbänke der Industrieländer genutzt wurden, scheint sich nun ein Trend anzudeuten, Entwicklungsländer vermehrt als verlängerte Ausbildungsbänke (brain banks) zu nutzen. Auch angesichts der demografischen Negativ-Entwicklung in Europa haben die meisten europäischen Staaten damit begonnen, hoch qualifizierte Arbeitskräfte weltweit für ihren Arbeitsmarkt anzuwerben. Dabei stehen sie in einem intensiven Wettbewerb untereinander und zu anderen Staaten außerhalb Europas, insbesondere zur USA, die das Hauptzielland der Migration Hochqualifizierter ist.

Der außerordentliche Erfolg der US-Wirtschaft (insbesondere im Technologiebereich) zum Ende der 1990er Jahre und zu Beginn des neuen Jahrtausends, der zu einem großen Teil auf die Anwerbung vieler Millionen Hochqualifizierter weltweit zurückgeht, hat diese Entwicklung stark gefördert. Die Migration Hochqualifizierter wirkt sich ebenfalls auf die abgebenden Entwicklungs- und Schwellenländer aus. Nachdem die Abwanderung der besten Köpfe über Jahrzehnte als Einbahnstrasse und als schwerwiegender Verlust (brain drain) für die Entwicklungsländer gewertet wurde, ist die Perspektive in den letzten Jahren dahingehend erweitert worden, dass nun auch potenzielle Profite aus der Elitenmigration für die Entwicklungsländer gesehen werden (brain gain). Dies scheint vor allem bei Schwellenländern möglich zu sein (Indien, China, Taiwan, Mexiko).

Die Studie zeigt, dass inzwischen in fast allen OECD-Ländern spezielle Anwerbeprogramme existieren, mit denen Hochqualifizierte aus aller Welt angezogen werden sollen. Dieses Instrumentarium ist in einigen Ländern (USA, Australien, Kanada) inzwischen sehr ausgefeilt, und es werden Anreize nicht nur für die Hochqualifizierten, sondern auch für deren Familienmitglieder gesetzt. Der Wettbewerb der Aufnahmeländer lässt die Politik für diese Migrantengruppe damit immer liberaler werden.

Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland, die mit ihrer Einwanderungspolitik allerdings erst am Anfang steht und anderen OECD-Ländern hinterherhinkt. "Die Politik der systematischen Qualifizierung und Ausschöpfung des ... verfügbaren Potenzials an Erwerbspersonen intensiv weiter zu verfolgen", wie es in der Begründung des deutschen Zuwanderungsgesetzentwurfes heißt, birgt auch Risiken, einerseits für die Abgabeländer, in denen sich der brain drain noch verstärken könnte, andererseits auch für die einheimische Bevölkerung in den Aufnahmeländern, die ebenfalls in letzter Konsequenz analog in einen wirtschaftlich produktiven und einen wirtschaftlich unproduktiven Teil eingeteilt werden könnte. Bei aller Euphorie um die Einwanderung von Hochqualifizierten nach Deutschland sollte dieser Aspekt bei der Gestaltung der Politik nicht aus den Augen verloren werden.



ISBN: 3-89892-202-2

Herausgegeben vom Wirtschafts- und sozialpolitischen
Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung
Abteilung Arbeit und Sozialpolitik
D-53170 Bonn
August 2003