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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 31]



Klaus Kirschner
Defizite in der Versorgung


Wir befinden uns in einem politischen Dauerclinch um die Frage und die Antworten darauf, ob die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als Solidarsystem auch nach über 100 Jahren noch zeitgemäß ist.

Kann die GKV, die rd. 90 Prozent der Bevölkerung gegen die finanziellen Risiken bei Krankheit absichert mit einem einklagbaren Rechtsanspruch der Versicherten auf medizinische Vorsorge, Prävention, Kuration und Rehabilitation, in dieser umfassenden Form der Vollversorgung, dies als Solidarsystem noch leisten?

Oder soll der Versicherte nicht die Freiheit erhalten, selbst zu entscheiden, welche Absicherung er wünscht? Denn wer kann schon gegen Freiheit sein, und sind deshalb Kern- und Wahlleistungen oder, wie es der frühere SVR formulierte, Zwiebel-, Pfirsich- oder Tortenmodelle die richtige Alternative zur umfassenden Vollversorgung?

Behauptungen wie: Mit begrenzten Mitteln sind nicht unbegrenzt Leistungen zu erhalten, werden permanent in die Diskussion geworfen. Anmerkung dazu: Keinem System, ob als Solidar- oder Privatversicherung, stehen unbegrenzt Mittel zur Verfügung. Kein Privathaushalt, kein öffentlicher Haushalt, kein Unternehmen hat unbegrenzte Mittel – sondern ein Budget. Ein Begriff, der von den einen als Kampfansage verstanden wird und von anderen als notwendiges Steuerungsinstrument zur wirtschaftlichen und effizienten Erbringung der notwendigen medizinischen Versorgung.

Im Mittelpunkt einer modernen Gesundheitspolitik müssen die Patienten mit ihren berechtigten Bedürfnissen stehen. Alle Patienten haben Anspruch auf einen barrierefreien Zugang zu einer qualitätsgesicherten medizinischen Behandlung, die dem jeweiligen gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht.

Wie zielgenau und qualitätsgesichert kommen die rd. 250 Milliarden DM Leistungsausgaben, bei Gesamtausgaben von fast 265 Milliarden Mark, bei den Patienten an? Werden Beitragsmittel durch Überkapazitäten, durch

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nicht medizinisch und/oder nicht qualitätsgesicherte Behandlung falsch gelenkt? Sind Schnittstellen von konkurrierenden fachärztlichen Doppelstrukturen nicht ausgabentreibend? Wird vom Arzt bei der Auswahl eines Arzneimittels bei vorhandenen Alternativen, d.h. gleichen Wirkstoffen und Wirkprinzipien, das wirtschaftlichste Medikament – Stichwort Nutzenbewertung – verordnet?

Nun ist unbestritten, dass eine moderne Gesundheitsversorgung viel Geld benötigt.

Deshalb ist der Frage nachzugehen: Wo stehen wir im internationalen Vergleich? Weltweit, gemessen am BIP, haben wir die zweithöchsten Gesundheitsausgaben mit 10,9 Prozent (1998) hinter den USA mit 13,9 Prozent (1997). In der EU liegen wir an erster Stelle. In der Sprache des Fußballs: Wir sind Vizeweltmeister und Europameister. Am Geld kann es also insgesamt nicht liegen, wenn Unter- und Fehlversorgung zu beklagen sind, wenn wir jede elfte erwirtschaftete Mark unserer Volkswirtschaft für Gesundheit aufwenden. Deshalb benötigen wir eine Priorisierung von Gesundheitszielen.

Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen stellen grundsätzlich keine Fehlentwicklung dar, immer vorausgesetzt:

  • sie sind die Folge des medizinisch–qualitätsgesicherten Fortschritts;

  • sie resultieren aus einer Veränderung des Krankheitsspektrums hin zu langwierigen oder unheilbaren Erkrankungen oder

  • sie sind Folge eines mit der Bevölkerungsalterung verbundenen Anteils von älteren multimorbiden Patienten.

Steigende Ausgaben für Gesundheitsleistungen in einer alternden Wohlstandsgesellschaft sind deshalb a priori nichts Negatives.

Im Gegensatz dazu stellt jedoch ein Wachstum der Gesundheitsausgaben immer dann eine Fehlentwicklung dar, wenn ein solcher Kostenanstieg das Ergebnis von Ineffizienzen oder von kostensteigernden Organisationsmängeln ist.

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Allerdings verbieten die für das Gesundheitswesen typischen Informationsasymmetrien, den Wettbewerb auf dem „Markt für Gesundheitsleistungen„ nach dem Vorbild eines „Warenmarktes„ zu organisieren.

Deshalb ist die Einführung und Durchsetzung effizienter und kostensparender Verfahrensweisen jedem Versuch der Aufspaltung des Leistungskatalogs in Kern- und Wahlleistungen vorzuziehen.

Letztere bedeutet nämlich eine Schmalspurversorgung, unter der insbesondere die unteren Einkommensgruppen zu leiden haben. Solche Scheinwettbewerbsparameter einer Schmalspurversorgung gehen ausschließlich zu Lasten der Patientenversorgung, und hier insbesondere der chronisch Kranken, und es würde die Kluft zwischen oberer und unterer Sozialschicht noch weiter vertiefen. Statt dessen ist die Versorgung zu optimieren und diese instrumentell in den Dienst der Ziele der Gesundheitspolitik zu stellen.

Angesichts des jüngsten Gutachtens des Sachverständigenrates, das uns im internationalen Vergleich hinsichtlich der medizinischen Leistungen einen Mittelplatz, hinsichtlich der Kosten dagegen einen Spitzenplatz bescheinigt, sollte eine „rationale„ Gesundheitspolitik deshalb ihr „Produktziel„ in einer qualitätsgesicherten und hohen Produktivität der medizinischen Leistungen sehen. Die ökonomische Effizienz ist durch die Beseitigung von Über-, Unter- und Fehlversorgungen zu steigern und nicht durch Scheinparameter von Kern- und Wahlleistungen.

Dazu müssen wir jedoch keineswegs das Rad neu erfinden. Die GKV mit ihren Grundprinzipien, dem Solidaritäts-, Sachleistungs- und Selbstverwaltungssystem, der medizinisch-notwendigen Vollversorgung sowie der paritätischen Finanzierung, ist das System der Zukunft.

Bewertet man das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich, so ist positiv hervorzuheben:

  • Die einkommensunabhängige solidarisch abgesicherte medizinische Vollversorgung durch die GKV;

  • eine niedere Kindersterblichkeit;

  • ein flächendeckendes System der ambulanten und stationären Versorgung.

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Die weniger glänzende Medaillenseite zeigt jedoch:

  • die weltweit zweithöchsten Ausgaben;

  • nur einen mittleren Platz der Lebenserwartung in der Reihe der Industrienationen;

  • schichtspezifische Morbidität und Mortalität;

  • ein ineffizientes Nebeneinander von ambulanter und stationärer Versorgung;

  • Mangel an Prävention.

Der Gesetzgeber – und das ist keine parteipolitische Angelegenheit – schreibt eine dem „Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten„ vor. Davon sind wir teilweise weit entfernt.

Die Diabetesversorgung ist ein Beispiel dafür. 1996 lag in Deutschland die Sterbeziffer sowohl bei Frauen als auch bei Männern etwa dreimal so hoch wie in Großbritannien. Auf der anderen Seite kommt der Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) – in dieser Frage ein wahrhaft unverdächtiger Zeuge – zu dem Ergebnis, dass die 31 Milliarden DM gesamtwirtschaftlichen Kosten der Behandlung des Typ-2-Diabetes vor allem durch Komplikationen verursacht werden, die nicht rechtzeitig erkannt oder adäquat behandelt werden. Zitat: „Eine frühzeitige und konsequente Behandlung des Typ-2-Diabetes würde der Volkswirtschaft Kosten in Milliardenhöhe ersparen.„ (Quelle: Verband Forschender Arzneimittelhersteller, Statistics 2000, S. 42)

Ist es bei begrenzten Finanzmitteln und vor allem für das Leben der Patienten nicht sinnvoll, die Prävention voranzubringen, um diese Erkrankung frühzeitig zu erkennen und leitliniengestützt zu behandeln?

Die Liste der Beispiele könnte beliebig erweitert werden. Wir haben erhebliche Versorgungs- und Qualitätsdefizite mit gravierenden Folgen für die Lebensqualität und mit einer hohen Zahl an verlorenen Lebensjahren für die betroffenen Bürger. Andererseits, und auch das zeigen Beispiele, haben wir Mengen- und Ausgabeentwicklungen, die medizinisch nicht begründbar sind. Augenfälligste Beispiele sind ungewöhnlich große Differenzen, bspw. bei den Arzneimittelausgaben pro Versicherten und KV´en sowie bei Krankenhausvergleichsdaten mit Nachbarländern und zwischen den einzelnen

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Regionen Deutschlands oder bei Linksherzkathederuntersuchungen. Angesichts des medizinischen Fortschritts und des demographisch gesellschaftlichen Wandels kommt es deshalb in Zukunft mehr denn je darauf an, die zur Verfügung stehenden Ressourcen möglichst effizient einzusetzen.

Es wird zwar viel von Geld gesprochen, aber weniger über die sinnvollste, qualitätsgesicherte Verwendung der Krankenversichertenbeiträge. Lassen Sie es mich auf einen Nenner bringen: Gesundheitspolitik als Mittel der Einkommenspolitik und der Gewinnmaximierung greift zu kurz.

Nachdem die früheren Bundesregierungen ihre Gesundheitspolitik eindimensional am Ziel der „Kostendämpfung„ ausgerichtet haben, hat die jetzige Bundesregierung mit ihrer „Gesundheitsreform 2000„ neue Akzente gesetzt. Sie hat die Qualität der Versorgung zu einem zentralen Gegenstand politischer Entscheidungen gemacht.

Dabei kommt der Selbstverwaltung weiterhin die wichtigste Rolle zu.

Das wird jetzt, wo das Arzneimittelbudget und der Kollektivregress abgeschafft wird, die ärztliche Selbstverwaltung beweisen können, dass sie sowohl willens als auch in der Lage ist, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die Arzneimittelkosten in einem angemessenen Rahmen zu halten. Die Ergebnisse der Arzneimittelausgaben der ersten vier Monate lassen hier jedoch erhebliche Zweifel aufkommen.

Das Gesagte verdeutlicht aber auch, dass die medizinisch epidemiologische Orientierung an Bedeutung gewinnt. Deshalb kann es auch nicht primäres Ziel sein, mehr Geld in das System zu bringen, solange andererseits noch offensichtliche Über-, Unter- und Fehlversorgung festzustellen ist. Das haben die Tabellen gezeigt, oder um nochmals an die Aussagen der Deutschen Krebsgesellschaft oder die Untersuchungsergebnisse des VFA zur Diabetikerversorgung zu erinnern.
Das alles ist kein einfacher Prozess. Jahrelang gefährdete, neben einem Mangel an Innovation, „kreatives Abrechnungswesen„ und „angebotsinduzierte Mehrleistung„ die Vergütung der einzelnen Leistungen. Dies ist nur durch mehr Transparenz und durch mehr Qualität zu heilen. Die Bundesregierung strebt folgerichtig mit der neuen Datentransparenz-Regelung an, die Diskussion um die Bewertung der Versorgung zu versachlichen und auf eine solide empirische Basis zu stellen.

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Unter diesem politischen Ansatz gehen wir neue Wege. Dazu gehört besonders:

  1. Die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus durch den Ausschuss Krankenhaus (§137 c SGB V);

  2. die Entwicklung von Kriterien für eine „im Hinblick auf das diagnostische und therapeutische Ziel ausgerichtete zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung„ für mindestens 10 Krankheiten pro Jahr, d.h. evidenzbasierte Leitlinien durch den Koordinierungsausschuss, bei denen Hinweise auf Über-, Unter- oder Fehlversorgung vorliegen (§ 137 e SGB V).

Die Arbeit der gemeinsamen Selbstverwaltung entwickelt sich hier über die Richtlinienkompetenz hinaus via Subdelegation durch den Gesetzgeber zu einer Initiierungs- und Zielbildungsaufgabe. Damit kann die Selbstverwaltung auf die Prozesse der Gesundheitsproduktion unmittelbar einwirken.

Allerdings ist besondere Vorsicht geboten, wenn ohne hinreichende evidenz-basierte wissenschaftliche Basis Grenzwerte neu definiert werden. So gelingt es, ganze Bevölkerungsgruppen in eine medikamentöse Dauerbehandlung zu führen, obwohl weder der Dauernutzen für die Patienten noch die Folgeschäden absehbar sind.

Noch einmal: Wichtig ist aber, dass die Ziele am Nutzen für den Patienten orientiert werden. Leistungserbringer müssen motiviert und professionalisiert werden.

  • Nur mit diesen Instrumenten kann in der Gesellschaft eine rationale Auseinandersetzung zu Über-, Unter- und Fehlversorgung entstehen.

  • Nur so finden wir einen realistischen Weg, der unser Gesundheitssystem von der Einkommens- und Umsatzpolitik zur Gesundheitspolitik führt.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

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