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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 59]
1. Einleitung
1961 schloß die Bundesrepublik Deutschland ein Abkommen über die Anwerbung von Arbeitnehmern mit der Türkei. Nach dem Mauerbau war absehbar, daß ein weiteres Wirtschaftswachstum nur durch zusätzlich ausländische Arbeitskräfte möglich sein würde. Ursprünglich war beabsichtigt, ausländische Arbeitnehmer nur kurzfristig zu beschäftigen und sie je nach konjunktureller Lage anzuwerben bzw. in die Herkunftsländer zurückzuschicken. Aus dem, auch von den Migranten selbst, nur als vorübergehend geplanten Aufenthalt ist ein Daueraufenthalt geworden. Aus ausländischen Arbeitnehmern sind Einwanderer geworden. Die Pionierwanderer der 60er Jahre haben ihre Familienangehörigen nachreisen lassen und ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt. Ihre Enkel werden in Deutschland geboren. Sie kennen die Heimat ihrer Eltern und Großeltern inzwischen nur noch aus Erzählungen und von Urlaubsfahrten. Die Ausländerpolitik der Bundesregierung hat aber der Tatsache, daß Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist, nicht Rechnung getragen. Erst relativ spät wurde erkannt, daß die berufliche und soziale Integration der Zuwanderer gefördert werden muß. Außerdem ist nach wie vor die rechtliche Stellung von Ausländern aus nicht EG-Staaten nur unzureichend geregelt. Auch die Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen wird ihnen weitgehend versagt. Wenn man von einem Einwanderungsprozeß spricht, denkt man in der Regel an eine langsame Angleichung beruflicher, sozialer und kultureller Standards von Einwanderern und Einheimischen. Man geht davon aus, daß die Differenzen zur einheimischen Gesellschaft in der Generationenfolge immer geringer werden. Häufig wird ein Automatismus un- [Seite der Druckausg.: 60] terstellt, an dessen Ende die völlige Verschmelzung der ethnischen Minderheiten mit der aufnehmenden Gesellschaft stehen soll. An dieser Fragestellung setzte ein von der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführtes empirisches Forschungsprojekt an. Wir untersuchten, wie sich die berufliche Situation der ersten und zweiten Generation männlicher türkischer Migranten entwickelt hat und wie diese den sozialen und kulturellen Eingliederungsprozeß beeinflußt
[ Die vollständigen Ergebnisse der Untersuchung sind erschienen in: Schultze, G., Berufliche Integration türkischer Arbeitnehmer, Bonn 1991.]
2. Ergebnisse der Untersuchung
Um die folgenden Ausführungen besser einordnen zu können, soll zunächst ein Überblick über wichtige soziodemographische Merkmale der befragten Väter und Söhne gegeben werden: Die Väter sind alle in der Türkei geboren und zwei Drittel von ihnen verbrachten ihre Kindheit in einem dörflichen Milieu. Sie haben ihre primäre und sekundäre Sozialisation vollständig in der Türkei erfahren. Mit 21 % ist die Zahl der Väter, die keine Schulen besucht haben, relativ hoch. 25 % gingen zwar auf eine Schule, konnten aber den Grundschulabschluß nach fünf Jahren nicht erreichen. Dies gelang 42 % der Väter und lediglich 11 % haben höherwertige Abschlüsse. 87 % der Väter waren vor ihrer Ausreise berufstätig. Bei der zweiten Generation gestaltet sich die Migrationsbiographie differenzierter. 10 % von ihnen sind in Deutschland geboren oder im vorschulpflichtigen Alter eingereist. Die Mehrzahl von ihnen kam im Alter zwischen 6 und 16 Jahren (63 %) in die Bundesrepublik. Dies hatte [Seite der Druckausg.: 61] Auswirkungen auf ihre Schulkarrieren: Drei Viertel haben sowohl Schulen in der Türkei als auch in Deutschland besucht. Sie repräsentieren also die Gruppe der "Seiteneinsteiger". Nur wenige (5 %) haben vor ihrer Ausreise gearbeitet. Die berufliche Situation haben wir an drei Punkten der Biographie ermittelt: unmittelbar vor der Ausreise aus der Türkei, nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und zum Zeitpunkt der Befragung (vgl. Tab. 1). Tabelle 1:
Für die Vätergeneration bestätigt sich hinsichtlich ihrer Tätigkeit in Deutschland die Unterschichtungsthese, die besagt, daß Migranten, die unattraktiven, gering entlohnten und mit einem hohen Risiko ausgestatteten Arbeitsplätze besetzen. 92 % von ihnen begannen als un- oder angelernte Arbeiter und lediglich 5 % als Fach- oder Vorarbeiter. Nicht-manuelle Berufsfelder, die höhere soziale und sprachliche Kompetenzen voraussetzten, waren ihnen weitgehend verschlossen. Diese Beschäftigungsstruktur hat sich im Lauf der Erwerbstätigkeit nur unwesentlich verändert. Bemerkenswert ist lediglich, daß es immerhin 6 % [Seite der Druckausg.: 62] der Väter gelungen ist, sich selbständig zu machen. Dies weist darauf hin, daß es inzwischen in zahlreichen Städten zu ethnischen Gemeinschaftsbildern gekommen ist, zu denen auch die entsprechenden kleineren Verkaufsläden oder Handelsfirmen der Migranten gehören. Die Söhne konnten im Vergleich zu ihren Vätern häufiger auf einem höheren Niveau ins Erwerbsleben einsteigen. Zwar gehören auch sie noch relativ häufig zu den manuellen Klassen (84 %); aber immerhin 20 % gelang es, als Fach- oder Vorarbeiter zu beginnen. Darüber hinaus konnten einige Söhne (14 %) die Barriere zu den nicht-manuellen Berufsfeldern überwinden. Hierbei handelt es sich in erster Linie um personen- und sachbezogene Dienstleistungsberufe. Das Ausmaß der beruflichen Mobilität der Söhne war im Verlauf ihres Berufslebens relativ gering. Die Darstellung intergenerationeller beruflicher Mobilitätsprozesse von Migranten darf sich nicht auf die beruflichen Laufbahnen im Einreiseland beschränken. Das vollständige Ausmaß der Veränderungen wird erst deutlich, wenn die letzte Beschäftigung des Vaters in der Türkei mit der letzten des Sohnes in der Bundesrepublik verglichen wird. Das herausragende Ergebnis dieses Vergleichs ist, daß noch ca. 40 % der Väter vor der Ausreise in der Landwirtschaft tätig waren, die überwiegende Zahl als Landarbeiter. Im Vergleich zu ihrer Tätigkeit in der Bundesrepublik waren mehr Väter in nicht-manuellen Berufen beschäftigt oder arbeiteten als Selbständige. Lediglich 18 % der Söhne konnten hinsichtlich ihrer letzten Tätigkeit der gleichen Klasse zugeordnet werden wie die Väter vor der Ausreise. Diese Zahlen verdeutlichen das Ausmaß beruflicher Veränderungen, mit denen Migrantenfamilien im Verlauf ihrer Geschichte konfrontiert werden. Zum einen sind die Veränderungen bedingt durch die Migration selbst, die nicht nur einen Wechsel der sozialen und kulturellen Umwelt bedeutet, sondern vor allem auch die Umstellung von einer eher agrarisch und handwerklich geprägten Produktionsweise zu einer industriellen. Zum anderen sind die im Vergleich zu den Vätern höheren beruflichen Positionen der Söhne auf die unterschiedlichen Migrationsgeschichten und höheren Eingangsqualifikationen zurückzuführen. [Seite der Druckausg.: 63] Während die These von der Unterschichtung der Berufsstruktur des Einwanderungslandes von Migranten durch die Väter weitgehend bestätigt werden kann, ist für die Söhne eine differenziertere Betrachtung notwendig. Es ist eine Polarisierung feststellbar. Einem Teil gelang es, qualifizierte manuelle Arbeitsplätze zu besetzen und die Barriere zu den nicht-manuellen zu überspringen. Der andere Teil ist wie ihre Väter auf un- oder angelernte Arbeitsplätze verwiesen. Da sie jedoch ein höheres berufliches Aspirationsniveau haben, sind sie hiermit wesentlich unzufriedener. Daß bei der zweiten Generation die berufliche Integration nicht problemlos verläuft, erkennt man auch daran, daß der Anteil der Personen, die ein- oder mehrmals drei Monate arbeitslos waren, höher liegt als bei den Vätern (38 % versus 21 %). Das Brüchigwerden der Normalbiographie - kontinuierlicher Übergang von der Schule in Berufsausbildung und dann in eine Beschäftigung macht sich vor allem bei der hier einbezogenen Migrantenkohorte bemerkbar. Welche berufliche Positionen sie besetzen, hängt maßgeblich von ihrem Bildungsniveau ab. Daß eine differenzierte Betrachtung der zweiten Generation notwendig ist, zeigt sich auch bei diesem Indikator. Wir ermittelten folgendes Bildungsniveau:
[Seite der Druckausg.: 64] Das Bildungsniveau der 20- bis 30jährigen Türken bleibt weit hinter ihren Erwartungen und denen ihrer Väter zurück. 52 % der Väter erhofften den Hochschulabschluß und 7 % das Abitur für ihre Söhne. Es ist u.E. deshalb gerechtfertigt, bei der zweiten Generation türkischer Einwanderer zwischen Migrationsgewinnern und Migrationsverlierern zu unterscheiden. Während den einen gelungen ist, gute Schulabschlüsse zu erreichen und den Sprung auf bessere Beschäftigungsverhältnisse als ihre Väter geschafft haben, bleiben die anderen ohne Schulabschluß und besetzen wie ihre Väter die Positionen auf den unteren betrieblichen Hierarchiestufen. Es stellt sich die Frage, wie diese berufliche Integration die soziale beeinflußt hat. Dabei steht im Mittelpunkt unseres Interesse, in welchem Ausmaß Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Generation bestehen und welchen Einfluß die beruflichen Positionen haben. Ein Indikator, der Aufschluß über die soziale Integration geben kann, ist die Frage, ob Freizeitkontakte zwischen Türken und Deutschen bestehen. Wie zu erwarten, unterscheiden sich hierin die Generationen erheblich: 65 % der Söhne, 26 % der Väter trafen sich in der Freizeit mit Deutschen. Gefragt, ob auch Deutsche zu ihrem Freundeskreis gehören, antworteten 28 % der Väter und 58 % der Söhne mit Ja. Das deutet darauf hin, daß die erste Generation der türkischen Einwanderer trotz ihres über 20jährigen Aufenthalts bis heute nur in geringem Maß intensivere Kontakte zu deutschen pflegt. Diese beschränken sich in der Regel auf Gespräche am Arbeitsplatz. Die Privatsphären bleiben weitgehend getrennt. Auf den ersten Blick liegen die Dinge bei der zweiten Generation anders. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, daß dies nicht generalisiert werden darf. Das Ausmaß an sozialer Integration ist zwischen einzelnen Gruppen sehr unterschiedlich. Von den Söhnen, die ungelernte Arbeiter sind, haben z.B. nur 31 % in ihrer Freizeit Kontakte mit Deutschen, d.h. sie treffen sich nur unwesentlich häufiger mit Deutschen als die Väter. Die angelernten Arbeiter (53 %), die Fach- und Vorarbeiter [Seite der Druckausg.: 65] (83 %) und die in nicht-manuellen Berufen tätigen (85 %) haben dagegen wesentlich häufiger Kontakt mit Deutschen. Daß es gerechtfertigt ist, eine Gruppe innerhalb der zweiten Generation als Migrationsverlierer zu bezeichnen, zeigen auch die Antworten auf die Frage, ob man sich der deutschen Gesellschaft "zugehörig" fühlt oder nicht. 89 % der Ungelernten und 67 % der angelernten Arbeiter verneinen die entsprechende Frage. Für sie wurde Deutschland nicht zur Heimat und sie spüren, daß sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind. Aufgrund dieser Situation und viele der Hoffnungen, die sie und ihre Eltern hegten, nicht in Erfüllung gegangen sind, zeigen sich starke Gefühle der Verbitterung und der Resignation. Die besser qualifizierten Söhne fühlen sich hingegen wesentlich häufiger als Teil der deutschen Gesellschaft. Unterschiede zwischen den Generationen zeigen sich bei den Erziehungszielen für die Kinder. Die Befragten sollten aus 10 Vorgaben die drei Ziele auswählen, die für sie bei der Erziehung ihrer Kinder besonders wichtig sind. Die Antworten beziehen sich auf drei Dimensionen:
[Seite der Druckausg.: 66] Die Söhne nennen am häufigsten gute schulische Leistungen als besonders wichtiges Ziel (vgl. Tab. 2). Für die Väter hingegen liegt die Aufrechterhaltung der eigenen Sitten und Gebräuche an erster Stelle der Rangskala. Bei den Söhnen erscheint dieses Ziel erst auf Platz 4, noch nach den Zielen "Achtung der Eltern/Familie" und "Beruf mit hohem Ansehen". Für die Väter ist es noch relativ wichtig, daß ihre Kinder einen Ehepartner der gleichen Nationalität wählen. Für die Söhne hingegen ist die Vermittlung von sozialen Kompetenzen an ihre Kinder wichtiger als die Nationalität des Ehepartners. Das selbständige Lösen von Problemen und ein kritisches Urteilsvermögen haben bei ihnen höhere Priorität. Eine vollständige Integration in die deutsche Gesellschaft wird sowohl von den Vätern als auch von den Söhnen relativ selten genannt, ebenso wie die Rückkehr ins Heimatland. Aber auch bei diesem Indikator läßt sich zeigen, daß die Antworten je nach beruflicher Situation variieren. Die ungelernten Arbeiter wollen z.B. häufiger als die übrigen, daß ihre Kinder die türkischen Sitten und Gebräuche beachten. Die Ausbildung eines kritischen Urteilsvermögens ist für sie hingegen weniger relevant. Zum Schluß soll noch kurz auf die Rückkehrabsichten eingegangen werden. Die Frage nach Rückkehrabsichten muß mit Vorsicht behandelt werden. Wie unsere Untersuchungen zeigen, ist die Mehrzahl der Personen, die angeben, in die Herkunftsländer zurückkehren zu wollen, nicht in der Lage, einen genauen Zeitpunkt für die Verwirklichung ihrer Pläne anzugeben. Es gilt deshalb zu unterscheiden zwischen der generellen Rückkehrabsicht und konkreten Rückkehrplänen. Die Absicht, irgendwann einmal ins Herkunftsland zurückzukehren, ist oft ein fester Bestandteil der Migrationsidentität. Man hält an dieser Option fest, weil sie angesichts der unbefriedigenden Arbeitssituation, des Gefühls, in der Aufnahmegesellschaft doch nicht akzeptiert zu werden, eine Möglichkeit eröffnet, sich als autonomes, sein Leben selbst bestimmendes Subjekt zu empfinden. Das Thema Rückkehr ist in vielen Familien ein Gesprächsthema, das es erlaubt, die unterschiedlichen Ziele und Pläne der Familienmitglieder auf eine Perspektive hin auszurichten. Deshalb ist zu bezweifeln, daß alle diejenigen, die die Frage nach der Rückkehr bejahten, auch wirklich zurückkehren werden. [Seite der Druckausg.: 67] Tabelle 2:
Die Mehrzahl der ersten Generation (70 %) gibt an, in die Türkei zurückkehren zu wollen. Dies soll aber erst in der Regel nach der Berufstätigkeit erfolgen, um den Lebensabend in der Türkei zu verbringen. Wesentlich schwächer ausgeprägt ist die Rückkehrbereitschaft innerhalb der zweiten Generation (31 %). 54 % sind unentschlossen und 15 % schließen eine Rückkehr eindeutig aus. Interessant ist, daß die Söhne, die ungelernte Arbeiter sind, auch nicht wesentlich häufiger Rückkehrabsichten äußern als die anderen. Dies zeigt, daß die Mehrzahl von ihnen auch in der Rückkehr keine Perspektive der Verbesserung ihrer Lebenssituation sieht. Angesichts der relativ schlechten Arbeitsplatzsi- [Seite der Druckausg.: 68] tuation in der Türkei und der vielfältigen Probleme, denen Rückkehrer ausgesetzt sind, ist eine Rückkehr auch wenig attraktiv. Viele junge Türken befinden sich in einer sehr prekären, mißlichen Situation: Sie fühlen sich weder der deutschen Gesellschaft zugehörig, noch können sie problemlos in die Türkei zurückkehren, weil sie auch dort als Fremdlinge gelten und, bedingt durch ihren Sozialisationsprozeß, erhebliche Probleme der Wiedereingewöhnung haben. Die Ergebnisse unserer Untersuchung widerlegen eindeutig wissenschaftliche Theorien und politische Programme, die von einer quasi naturwüchsigen Akkulturation der Migranten in der Generationenfolge ausgehen - nach dem Motto: Die Zeit wird die Probleme schon lösen. Nicht das Alter oder die Aufenthaltsdauer allein führen dazu, daß jemand sich als gleichberechtigtes Mitglied unserer Gesellschaft empfindet und Chancenungleichheiten verschwinden. Die berufliche Situation und damit die konkreten Arbeitsbedingungen haben wesentlichen Einfluß auf den Integrationsprozeß. Neben der Beseitigung rechtlicher Diskriminierungen muß nach wie vor die Verbesserung der schulischen und beruflichen Situation der Einwanderer ein vordringliches Ziel der Politik sein. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2003 |