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Siegfried Jäger
Rassismus und Rechtsextremismus –Gefahr für die Demokratie


1. Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus?

Ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Einfallstor für rechtsextremes Denken ist rassistisches Denken. Es bietet Anknüpfungspunkte für nahezu alle anderen rechtsextremen Ideologeme. Deshalb verdient das Auftreten rassistischer Erscheinungen jeglicher Gestalt und jeglichen Vorkommens auch besondere Aufmerksamkeit.

Rassismus kann selbstverständlich nicht mit Rechtsextremismus gleichsetzt werden, auch wäre es verfehlt, mit der Zunahme rassistischer Haltungen in der Bevölkerung zugleich das Schreckgespenst eines neuen Faschismus an die Wand zu malen.

Seit einigen Jahren ist sichtbar geworden, daß es heute der Rassismus ist, der die Gemüter bewegt, der eine Art Gemütsbewegung geworden ist, auch wenn rassistisches Denken heute nur selten, zumindest im Vergleich zu seiner tatsächlichen Verbreitung und Verankerung, offen und direkt geäußert wird. Die direkt rassistisch motivierten Verbrechen der letzten Zeit bilden nur die Spitze des Eisbergs. Im allgemeinen tritt rassistisches Denken und sich darauf stützendes Handeln heute bei den meisten Menschen in der Regel sozusagen im Schleier auf, versteckt und verkleidet sich, scheut die Nacktheit – ähnlich wie der bigotte Spießer, von heftiger Begierde erfüllt, als keuscher Biedermann erscheinen möchte.

Rassismus gilt vielfach als unanständig; aber wenn etwas unanständig ist, so heißt dies ja noch längst nicht, daß dieses Etwas nicht existent wäre. Genau dies allerdings wird in der Bundesrepublik Deutschland, mehr noch als in anderen europäischen Ländern, trotz der inzwischen erfolgten Eskalation rassistisch motivierter Straftaten, immer noch verbreitet geleugnet. "Wir sind keine ausländerfeindliche Gesellschaft!" – Das kann man allenorts hören – trotz der oder gerade wegen der begangenen Untaten.

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Selbst das Wort Rassismus war direkt verpönt und aus dem öffentlichen Diskurs nahezu verbannt. Es erschien und erscheint, wenn überhaupt, meist nur im Gegendiskurs, und dann auch meist nur unter der verschleiernden Hülle des Wortes "Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit". Erst nach den Anschlägen in Hoyerswerda, Hünxe, Saarlouis, Rostock, Mölln und anderswo wird das Wort Rassismus wieder häufiger verwendet, doch ausschließlich in Verbindung mit der Äußerung von Abscheu gegenüber – wie gesagt wird – rechtsextremistischen Tätern.

Was die Masse der Bevölkerung angeht, spricht man allenfalls von einer gewissen Ausländerfeindlichkeit, die möglicherweise zugenommen habe; dennoch – so wird es geradezu gebetsmühlenartig wiederholt – seien "wir" kein ausländerfeindliches Volk. Doch weder die Annahme, Ausländerfeindlichkeit sei kein sehr verbreitetes Phänomen, noch der Begriff der Ausländerfeindlichkeit selbst treffen den Kern der Sache: Ausländerfeindlichkeit ist nach übereinstimmender Ansicht der seriösen Rassismusforschung bereits rassistisch, [Vgl. Auernheimer 1990.] denn sie diskriminiert Menschen wegen bestimmter genetisch und/oder kulturell bedingter Merkmale und Eigenarten aus der Position der Macht heraus.

Zudem läßt sich zeigen, daß "Ausländerfeindlichkeit" in Deutschland nahezu eine Volksbewegung geworden ist. In Übereinstimmung mit einer Fülle von Umfragen und auch auf der Grundlage unserer eigenen empirischen Untersuchungen zum "Alltäglichen Rassismus" läßt sich sagen, daß die überwältigende Mehrheit aller Deutschen mehr oder minder stark in rassistische Diskurse verstrickt ist.

Dabei ist zu beobachten, daß diese Verstricktheit in den Rassismus nur selten offen zugegeben wird; im allgemeinen bekennen sich nur die Wähler und Sympathisanten rechtsextremer Parteien völlig offen dazu, rassistische Ansichten zu vertreten. [Vgl. dazu im einzelnen auch van Dijk 1990.] Rassismus gilt aber in vielen europäischen Ländern durchaus als schweres Vergehen, auch wenn diskriminierende Äußerungen und Handlungen gegenüber Minderheiten auch dort nur selten wirklich geahndet werden.

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In Deutschland dagegen gibt es immer noch keine speziellen Anti-Rassismus-Gesetze. Die Bundesregierung hält den Artikel 1(1) und 3(3) GG für ausreichend (vgl. Europäisches Parlament S. 59). Das Grundgesetz selbst geht von der Annahme aus, daß es menschliche "Rassen" gibt, was wissenschaftlich heute nicht mehr zu halten ist, wenn es in Art. 3(3) heißt: "Niemand darf wegen ... seiner Rasse ... benachteiligt oder bevorzugt werden." Selbst rechtsextreme Autoren sind inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, daß es unsinnig ist, den "Rasse"-Begriff auf Menschen zu übertragen.

Im Alltagsbewußtsein und in der Alltagssprache – wie im Grundgesetz – hält sich jedoch hartnäckig die Vorstellung, es gäbe menschliche "Rassen", oft verbunden mit der Vorstellung, es gäbe hochstehende und weniger hochstehende menschliche "Rassen". Kein Wunder, daß rassistisch motivierte Handlungen und Äußerungen in Deutschland i.a. nicht mit der erforderlichen Schärfe verfolgt werden, obwohl die Anzahl solcher Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den letzten Jahren (Europäisches Parlament, S. 59) erheblich angestiegen ist.

Seit 1991 bis heute mußten über 4000 Überfälle und Angriffe auf Ausländer und Ausländerinnen konstatiert werden. Meist wurden solche kriminellen Delikte verharmlost, auch vor den Gerichten, wo nur allerschwerste Diskriminierungen von Ausländern, oder, wie man besser sagen sollte: von Einwanderern, geahndet wurden. Erst nach den Brandanschlägen der neuesten Zeit zeigt sich hier ein gewisses Umdenken, das aber der Schwere dieser Verbrechen keineswegs ausreichend Rechnung trägt. Die Urteile fallen meist äußerst milde aus. Dazu kommt: Nur selten werden die Täter überhaupt gefaßt.

Bereits die Rede von der Ausländerfeindlichkeit ist im Grunde verharmlosend, ein Euphemismus, der das damit angesprochene rassistische Denken verschleiert und die Ursachen des Rassismus individualisiert. Solche Verharmlosungen und Verschleierungen sind aber deshalb besonders gefährlich, weil solche Haltungen und Einstellungen rechtsextremen Ideologen und Propagandisten aller Art Anknüpfungspunkte für die Verbreitung rechtsextremer und faschistischer Ideologien und Gedankengebäude bieten.

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2. Der alltägliche Rassismus und seine Ursachen

Doch wie genau stellt sich dieser Rassismus im Bewußtsein der Menschen dar? Wie äußert er sich in ihrer Sprache? Dazu haben wir erstmalig für die Bundesrepublik eine diskursanalytische qualitative Untersuchung durchgeführt, parallel zu Forschungen in anderen Ländern wie z.B. Großbritannien, den USA, den Niederlanden, wo Teun A. van Dijk und seine Arbeitsgruppe solche empirischen Untersuchungen seit über zehn Jahren vorgenommen hat; wir haben uns nicht mit der Analyse von Meinungsumfragen oder sonstigen quantitativen Befragungen begnügt, sondern rund 40 Tiefeninterviews durchgeführt, die sehr akribisch ausgewertet wurden und Haltungen und Einstellungen bloßlegten, die durch solche quantitativen Untersuchungen so nicht erkennbar gemacht werden können. [Jäger 1992. Zu Untersuchungen für andere europäische Länder und die USA vgl. van Dijk 1987 und die bei ihm angeführte reichhaltige Literatur zu verschiedensten Aspekten und Erscheinungsformen von Rassismus; zum rassistischen Diskurs der Eliten vgl. van Dijk 1990 und 1991; auch der Bericht des Europaparlaments vom Juli 1990 enthält einen weiten Überblick.]

Bestätigt werden unsere Ergebnisse durch eine kürzlich erschienene großangelegte Untersuchung von Rudolf Leiprecht über rassistisches Denken bei Jugendlichen (Leiprecht 1990). Insgesamt ist vorweg zu sagen, daß die Inhalte rassistischen Denkens der Deutschen denen von Menschen aus anderen europäischen Ländern bei gewissen nationalen Besonderheiten sehr stark entsprechen.

Bei all diesen Untersuchungen ging es nicht so sehr darum, persönliche Meinungen und Ansichten einzelner Menschen festzustellen, sondern darum, wie sich Rassismus in sozialen Gruppierungen vorfindet und durch welche Prozesse er sich verfestigt und immer wieder reproduziert. Wichtig ist besonders, daß hier nicht allein die Oberfläche der Vorurteile aufgegriffen wird, sondern auch die kognitiven Strategien ermittelt werden, mit deren Hilfe rassistische Gedanken lanciert und allgemein geäußert werden.

Solche Strategien sind z.B. die Bemühungen, von sich selbst ein möglichst positives Bild zu zeichnen bei gleichzeitigem Bemühen, andere auszugrenzen und zu diffamieren. Das führt zu mancherlei Ver-

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schleierungsversuchen und zu Formen eines (scheinbar) verdeckten Rassismus, wie etwa zu den wohlbekannten Formulierungen wie: "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber es sind doch zu viele im Land" und ähnliche. Weitere solche Strategien sind Herunterspielen der Probleme von Einwanderern, unzulässige Verallgemeinerungen von Einzelfällen etc.

Ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger hierfür, ist die Beachtung von Erkenntnissen darüber, wie das menschliche Bewußtsein Informationen aufnimmt, nach welchen Prinzipien es sie aktiv verarbeitet, sie speichert und erinnert. Danach verwenden die Menschen bestimmte relativ stereotype gedankliche Schemata, in die sie neue und alte Informationen eingliedern, was zu mehreren Konsequenzen führt. Zum Beispiel dazu, daß Informationsbruchstücke systematisch nach Maßgabe solcher Schemata vervollständigt werden, ferner dazu, daß Informationen, die nicht in die Schemata passen, abgewehrt werden usw. Solche Schemata sind also Bündelungen von Wissenselementen, die die allgemeinen Charakteristika einer Situation, also gewisse Situationsmodelle darstellen, oder Modelle einer Menschengruppe, eines typischen Ereignisses usw., und sie werden in konkreten Situationen immer durch konkrete Zusatzinformationen gefüllt. So hat man z.B. ein Schema eines fahrenden Autos im Kopf, aber natürlich nicht seine spezielle Form oder gar Farbe. So hat mancher z.B. das Schema einer bestimmten Menschengruppe im Kopf, was dazu führen kann, daß er z.B. allen Dunkelhäutigen dicke Lippen und einen niedrigen Intelligenzquotienten andichtet.

Zu solchen Schemata gehören auch Glaubensvorstellungen, Meinungen, Haltungen, Normen und Werte bis hin zu ausgebauten Netzen oder Bündeln von Haltungen, die man auch als konkrete Ideologien bezeichnen kann. Wichtig ist dabei, daß all diese Schemata nicht individuelle Meinungen etc. darstellen, sondern daß sie sozial sind, Gruppenschemata darstellen, bzw. vorhanden und gültig sein können für größte Bevölkerungsgruppen bis hin zu ganzen Bevölkerungen.

Die Menschen sind auf solche routinisierten Schemata für den Wissenserwerb und das Lernen angewiesen; aber hier liegen auch große Gefahren: die relativ fixen Schemata, einmal etabliert, werden aus verschiedenen Gründen nur selten wieder verändert. Im Gegenteil: Sie werden durch die herrschenden Diskurse in Schule, Elternhaus, Medien

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usw. immer wieder neu verfestigt. Es handelt sich zudem um Resultate des Alltagsbewußtseins und alltäglicher, meist wenig rationaler Begriffsbildung. Mit anderen Worten: Sie sind vielfach die Quelle der Vorurteilsbildung und -verfestigung. [Zu diesen Ausführungen vgl. im Detail van Dijk/Kintsch 1983.]

Welche Gegenstrategien hier möglich sind, darauf werde ich später noch kurz eingehen. Zunächst will ich aber nach den Ursachen für das Zustandekommen dieser konkreten Ideologien fragen.

Die niederländischen Untersuchungen Teun A. van Dijks kommen zu dem Ergebnis, daß es in allererster Linie die Eliten im Lande sind, die solche Schemata eines mehr oder minder verdeckten oder offenen Rassismus produzieren und sozial verbreiten bzw. fortwährend reproduzieren.

Eliten, das sind – etwas vereinfacht ausgedrückt – Regierungen und Parlamente, Behörden, führende Politiker, Arbeitgeberverbände, Direktoren und Manager, führende Akademiker, Journalisten usw., die alle – was besonders wichtig für ihren Masseneinfluß ist – bevorzugten Zugang zu den Medien haben und starken Einfluß auf den Erziehungsdiskurs ausüben, auf Verlage etc.

Neben dem Elitediskurs sieht man natürlich auch andere Einflüsse, die sich bei der Herausbildung eines alltäglichen und massenhaften Rassismus und seiner besonderen Formen geltend machen, so die sozio-ökonomische Situation, internationale Ereignisse, starker Zuzug von Flüchtlingen, auf den man sich nicht ausreichend vorbereitet hat (obwohl er abzusehen war) usw.

Doch auch solche Ereignisse fließen zugleich mit ein in den Diskurs der Eliten, stellen das Feedback für Entscheidungsprozesse dar, die wiederum diskursiv verbreitet werden. Und selbstverständlich spielt auch die rechtsextreme Propaganda eine gewisse Rolle, zumal die rechtsextreme Presse direkt mindestens etwa 5 Millionen Leser und Leserinnen erreicht. [Vgl. dazu S. Jäger (Hrsg.) 1988.]

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Zudem haben sozialdarwinistisch argumentierende Autoren wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt laufend Zugang zur sog. seriösen Presse. So konnte dieser Autor sein Gift erst vor kurzem wieder in der Süddeutschen Zeitung verspritzen. Selbst manche Schulfunksendungen sind nicht frei von rassistischen Einsprengseln. Auch die Hetze von Peter Scholl-Latour gegen den Islam muß in diesen Zusammenhang eingeordnet werden. [Vgl. dazu jetzt auch Auernheimer 1993.]

Unsere Untersuchungen am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung zeigen: Im Alltagsdiskurs dominieren die folgenden Aussagen über Minderheiten und Einwanderer, die vielfach höchst ideologiebefrachtet sind:

  1. Aussagen, die auf die nationale Einwanderungspolitik bezogen sind
    • Die Einwanderer sind dazu eingeladen worden, in unser Land zu kommen.
    • Man sollte sie nach Hause schicken.
    • Die Einwanderungspolitik sollte strenger gehandhabt werden.

  2. Aussagen, die auf soziale Probleme bezogen sind
    • Ich fühle mich nicht mehr sicher und traue mich nicht mehr auszugehen.
    • Sie sind in Verbrechen verwickelt.
    • Sie verursachen den Niedergang der Stadt bzw. der Nachbarschaft.
    • Sie sind in (andere) negative Handlungen verwickelt.

  3. Aussagen, bezogen auf Arbeit und Beschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit
    • Sie (die eingewanderten Arbeiter) arbeiten hart.
    • Sie haben unangenehme (schmutzige, schwere, monotone) Jobs.
    • Sie haben keine Lust zu arbeiten.
    • Auch "wir" arbeiten nicht gern.
    • Sie nehmen alle möglichen Arten von Reinigungsarbeiten an.
    • Sie verrichten die Arbeit, die "unsere" Leute nicht machen wollen.
    • Sie arbeiten in Fabriken.
    • Sie möchten schon arbeiten, haben aber keine Arbeit.

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  4. Aussagen, die auf Rechte und Pflichten bezogen sind
    • Sie haben die verschiedensten Rechte (hier zu leben, an der Erziehung zu partizipieren, ein Haus zu besitzen usw.).
    • Sie nehmen unsere Häuser in Beschlag.
    • Sie mißbrauchen unser System der sozialen Sicherheit und leben von Sozialhilfe.
    • Sie denken, unser Land wäre ein soziales Paradies.

  5. Aussagen, die auf Normen und kulturelle Unterschiede bezogen sind
    • Sie müssen sich unseren Normen und Regeln anpassen.
    • Sie haben andere Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuche.
    • Es gibt Gute und Böse unter ihnen.
    • Andere Menschen benehmen sich nicht so schlecht wie sie.
    • Sie behandeln ihre Frauen anders bzw. schlechter.
    • Sie haben (zu) viele Kinder.

  6. Aussagen, die auf die Erziehung bezogen sind
    • Erziehung sollte nur in unserer Sprache stattfinden.
    • Die Anwesenheit von Kindern aus Minderheiten verursacht Schwierigkeiten in der Schule.
    • Es bestehen kulturelle Unterschiede zwischen ihren und unseren Kindern.
    • Sie sollten Unterricht über ihre eigene Kultur haben.

Sie sollten Unterricht in ihrer eigenen Sprache haben.

Die Grundstrukturen des Feindbildes gegenüber ganzen sozialen Gruppen besteht aus folgenden Klassen:

1. Sie sind anders bezüglich Aussehen, Kultur, Religion, Mentalität und Normen.

2. Sie passen sich nicht an.

3. Sie sind verwickelt in negative Handlungen (Störungen, Verbrechen).

4. Sie bedrohen unsere sozioökonomischen Interessen.

Diese Eckpfeiler des Ideologieschemas gegenüber Minderheiten im Alltagsbewußtsein entsprechen nun, wie Medienanalysen ergeben haben, exakt denen des Schemas der Eliten, womit die These bestätigt scheint,

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daß der alltägliche Rassismus eine direkte Folge des rassistischen Elite-Diskurses ist. [Auch zum Elite-Diskurs hat van Dijk eine große empirische Untersuchung durchgeführt (van Dijk 1991) Wie sein Forschungsbericht (Vortrag in Hamburg auf dem Kongress Migration und Rassimsus, van Dijk 1990)) ausweist, bestätigen auch diese Untersuchungen seine Kernthese.]

Diese Beobachtungen entsprechen fast völlig denen der holländischen Forscher, wobei hier einige Akzente anders gesetzt werden müssen und weitere rassistische Schwerpunkte zu beobachten sind. So zeigte sich in unseren Interviews u.a. ein schwerer Anti-Semitismus, der sich oft gegen Türken richtet, denen auch ein Holocaust angedroht wird, und die Diskriminierung von Sinti und Roma.

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3. Weshalb zu erwarten ist, daß sich rassistische Haltungen weiter verfestigen werden

Zu Beginn dieses Jahres sind die Grenzen für den EG-Binnenmarkt geöffnet worden. Freizügigkeit in Europa steht auf der Tagesordnung; zugleich aber auch Abschottung gegenüber dem Rest der Welt. Schon lange macht das Bild von der Festung Europa die Runde, ein Kampfbegriff der Rechten, der das Bewußtsein erzeugen soll, wir müßten uns gegen jede weitere Zuwanderung durch Errichtung von und Rückzug hinter feste Mauern verteidigen. In diesem Zusammenhang ist auch die Änderung des Artikels 16 GG zu sehen und die Möglichkeit von out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr. [Vgl. dazu Link 1993.]

Dies alles geschieht in einer Situation, in der weltweit der Hunger und die Armut zunehmen und Kriege und gewalttätige Auseinandersetzungen die Menschen millionenfach zur Flucht aus ihren Städten und Dörfern zwingen. Der Film "Der Marsch" symbolisiert plakativ und daher Bedrohungsgefühle auslösend diese neue Völkerwanderung von den armen Ländern der Dritten Welt in Richtung der industriellen Zentren. Dieser Marsch ist längst im Gange, wenn auch weniger spektakulär, als die Filmleute sich das ausgemalt haben. Und diese Völkerwanderung ist kein Naturereignis, sondern eine Folge des

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"ungleichen Tausches", wie die Ökonomen sagen, der zwischen Arm und Reich seit vielen Jahren stattfindet und in der Dritten Welt zu einer Situation geführt hat, die diese Völkerwanderung auslöst. [Vgl. dazu Nuscheler 1991.]

Diese Entwicklung ist seit langem absehbar gewesen. Es handelt sich nicht um ein Ereignis, das plötzlich über uns hereingebrochen wäre. Doch obwohl diese Entwicklung weitestgehend absehbar gewesen ist, ist es versäumt worden, in irgendwie angemessener Form darauf zu reagieren. Weder wurde die Entwicklungshilfe erweitert, noch wurde etwas gegen die ungebremste Ausbeutung der Dritten Welt durch die reichen Industrienationen unternommen: Die Länder der Dritten Welt sind so verschuldet, daß sie weiteres Kapital in Milliardenhöhe aufnehmen müssen, nur um den Kapitaldienst zu befriedigen. Auch in den Ländern, den Städten und Dörfern und in den Betrieben der Bundesrepublik sind keine auch nur annähernd ausreichenden Maßnahmen getroffen worden, die den auf uns zu kommenden Problemen gerecht würden und die Integration der Flüchtlinge erleichtern würden.

Im Gegenteil: Die allgemeine Devise scheint zu lauten: Schotten dicht! Denn das Boot ist voll! Dämme errichten gegen die über uns hereinbrechenden Fluten fremder Menschen. Das war und ist der Kerntenor der sogenannten Asyldebatte auf der politischen Bühne, die sich auch die SPD hat aufzwingen lassen, und in den meisten Medien! Diese sind hauptverantwortlich für die derzeitige Eskalation rassistischer Diskurse und – in deren Gefolge – rassistisch motivierter Verbrechen.

Fragen wir uns: Woher diese Eskalation von Haß und Gewalt – in Hoyerswerda, Saarlouis, Hünxe, Rostock, Mölln und anderswo, z.B. bereits 1988 in Schwandorf, wo eine ganze türkische Familie zu Tode gekommen ist? – kommt, dann muß sich unsere Aufmerksamkeit auch auf die öffentliche Debatte richten, wie sie in den Medien und durch die Medien geführt wird.

Es wäre völlig zu kurz gegriffen, hier allein eine verfehlte städtische Politik verantwortlich zu machen. Auch erklärt die erdrückende Armut der Dritten Welt und die egoistische Wirtschafts- und Entwicklungspolitik der Industrieländer nur die Tatsache, daß und warum viele

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Menschen aus den verarmten Ländern fliehen, um ihr Leben zu retten. Auch die von vielen Politikern und Medien kolportierte Erklärung, die große Zahl der Asylsuchenden und Einwanderer sei die Ursache für den wachsenden Rassismus, halte ich für völlig verfehlt. Flüchtlinge sind immer ins Land gekommen – nach dem Krieg weit über zehn Millionen. Offensichtlich führt ja nicht allein die zudem noch falsche Annahme, es seien zu viele, die da kämen, dazu, Menschen totzuschlagen, mit Messerstichen schwer zu verletzen und Kinder in ihren Betten anzuzünden.

Die Eskalation der Gewalt gegen Ausländer und Ausländerinnen richtet sich zudem ja nicht allein gegen Flüchtlingsunterkünfte, sondern inzwischen ganz allgemein gegen Menschen dunkler Hautfarbe, anderer Kulturen, anderer Religion und sonstiger von "unserer Normalität" abweichender Eigenschaften. Sie richtet sich auch gegen Menschen, die schon lange bei uns wohnen, einschließlich solcher, die schon längst die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Das neueste Beispiel dafür ist die gemeine Scheinhinrichtung eines türkischen Gastarbeiters in Mülheim an der Ruhr, die zum Tode dieses Menschen infolge eines Herzschlags führte. Die Angriffe von rechts richten sich zudem inzwischen zunehmend auch gegen solche Personen, die sich für Ausländer einsetzen.

Doch wie erklärt sich diese Welle der Gewalt, die besonders stark seit etwa zwei Jahren unser Land überflutet?

Eine wichtige Ursache liegt in der Art und Weise, wie Politiker, besonders seit der Bonner Wende und verstärkt seit Mitte der 80er Jahre, das Thema Asyl und Ausländerrecht in der Öffentlichkeit und in den Medien debattieren, und in der Medienberichterstattung selbst.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an die Beschlüsse des Bundestages von 1982 über das Arbeitsverbot und den Konzentrationszwang für politische Flüchtlinge, die nahezu einstimmig gefaßt worden sind. Durch das Arbeitsverbot entstand in der Bevölkerung erst das Bewußtsein, daß die Flüchtlinge auf unsere Kosten leben. Durch die Konzentration der Flüchtlinge – da war doch was! – wurde die Wahrnehmung geballter Menschenmengen ("Fluten", "Massen") für die Öffentlichkeit erst möglich. Diese Beschlüsse müßten unverzüglich außer Kraft gesetzt werden. Es hat zwar eine Lockerung des Arbeitsverbots gegeben, es wirkt aber faktisch uneingeschränkt weiter. Die

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derzeitigen Pläne von sozialdemokratischer Seite, Flüchtlinge in Sammellagern unterzubringen, müßten auch unter diesem Gesichtspunkt revidiert werden.

Die zu erwartende Außerkraftsetzung des Art. 16 GG ist m.E. nur ein weiterer Höhepunkt falscher Politik und ein weiterer Markstein für die Tatsache, daß sich die Bundesrepublik weiter nach rechts entwickelt, indem sie ehedem nur im rechtsextremen Lager gehandelte Ideologeme auch in das Zentrum der Gesellschaft aufnimmt und ihnen damit eine Kraft verleiht, mit der sie durch rechtsextreme Parteien und Organisationen selbst niemals hätte ausgestattet werden können.

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4. Die falsche Verarbeitung von Alltagspraxen und ihr Beitrag zum Entstehen rassistischer Konzepte

Manche Forschungen reduzieren die Ursache des Entstehens rassistischer Einstelllungen fast ausschließlich auf den Einfluß der Eliten und ihren privilegierten Zugang zu den Medien. Die Frage, welches Interesse sich hinter dem rassistischen Elitediskurs verbirgt, beantworten z.B. die niederländischen Forscher um Teun A. van Dijk damit, daß sie auf das generelle Herrschafts- und ökonomische Interesse der Eliten verweisen und auf ihr Bemühen, ihre Macht zu legitimieren und abzusichern (van Dijk 1990).

Doch ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Zwar ist mit den Analysen und empirischen Untersuchungen der Niederländer mit Sicherheit eine ganz wichtige Quelle des Rassismus sichtbar gemacht worden. Doch es erscheint mir nötig und möglich, die Analyse noch ein Stück weiter zu treiben. [Vgl. hierzu auch Jäger/Jäger 1990.]

Ich bin nämlich nicht der Ansicht, daß die Schemata der Eliten einfach nur unten übernommen werden. [Zwar verweist auch van Dijk auf raffinierte Strategien der Eliten, z.B. ihre verhüllenden und ambivalenten sprachlichen Mittel, deren sie sich bedienen. Auch weist er nach, daß die Individuen durchaus aktiv und kreativ mitagieren bei der Füllung bestimmter Schemata. Doch hier sind noch andere Kräfte "am Werk", auf die einzugehen sein wird.] Zu vermuten ist, daß hier ein kompli-

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zierteres Wechselverhältnis vorliegt und daß die eigenen und individuellen Anteile am Zustandekommen rassistischer Bewußtseinsinhalte und Handlungsbereitschaften dabei eine wichtige Rolle spielen.

Einmal ist davon auszugehen, daß es bestimmte Intellektuelle gibt, die allgemein verbreitete und diffuse Alltagsvorstellungen über Einwanderer und Menschen anderer Länder rationalisieren und zu einigermaßen plausiblen Theorien ausbilden und ihnen dadurch größere Stringenz und Glaubwürdigkeit verleihen. Sie formulieren eine Art Lehre, eine plausibel wirkende rassistische Theorie daraus, die deshalb besonders einleuchtend ist, weil sie die Grundgedanken vieler Menschen in sich aufgenommen hat.

Doch wie kommen die Menschen zu den genannten rassistischen diffusen Gefühlen und Haltungen? Was ist ihr eigener Anteil an deren Zustandekommen? Welche Ursachen hat dies? Und weiter: Welches Interesse steht dahinter, daß solche Haltungen durch theoretische Absicherung und Verbreitung weiter verfestigt werden?

Damit stellt sich die schwierige Frage nach der Art und Weise und den Gründen der spezifischen psychischen Verarbeitung bestimmter gesellschaftlich zugewiesener Lebenspraxen der Menschen und deren Funktion für die jeweilige Gesellschaft.

Bekanntlich hatte bereits Theodor W. Adorno behauptet, daß die den Menschen aufgenötigten heutigen Lebenspraxen zu psychischen Dispositionen führen, die sie zur Verinnerlichung autoritärer, rassistischer und antisemitischer Haltungen tendieren läßt (Adorno 1973). [Auf eine genauere Analyse der derzeitigen gesellschaftlichen und ökonomischen Situation der Bundesrepublik und auf die damit einhergehende Verteilung und Beschaffenheit sozial unterschiedlicher Lebenspraxen gehe ich an dieser Stelle nicht ein. Siehe dazu ganz knapp aber weiter unten sowie Jäger/Jäger 1990. Wichtige Basisliteratur stellten für uns neben den Schriften Adornos zum Thema dar: Hirsch/Roth 1986 und Hirsch 1990 sowie Mahnkopf/Hübner 1988.]
Dies verweist bereits darauf, daß die vorher dargestellten Schemata der Aufnahme von Informationen mit Sicherheit auch eine individual- und sozialpsychologische Dimension haben, die beachtet werden muß. Sie ist dann besser zu verstehen, wenn es zuvor gelingt, den Begriff des

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Rassismus schärfer zu fassen als dies im alltäglichen Umgang damit im allgemeinen üblich ist.

Speziell im Hinblick auf eine überzeugende theoretische Fassung des Rassismusbegriffs sind die Bestimmungen des englischen Soziologen Stuart Hall besonders wichtig. [Die folgenden Überlegungen zum Begriff des Rassismus entsprechen teilweise wörtlich einem Thesenpapier, das in Butterwegge/Isola 1990 erschienen ist. Wenn ich mich hier im wesentlichen auf Stuart Hall stütze, dann im Bewußtsein der Tatsache, daß Hall selbst in intensiver Auseinandersetzung mit weiteren theoretischen Ansätzen agiert, so z.B. denen von Robert Miles (vgl. z.B. Miles 1989) und Etienne Balibar (vgl. z.B. Balibar/Wallerstein 1990).]

Hall konstatiert im Alltagsbewußtsein vieler Menschen einen "Rassismus ohne Rassen": Rassismus als soziale Praxis, wie Stuart Hall sagt, wobei körperliche Merkmale platt zur Klassifizierung bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzt werden (vgl. Hall 1989, S. 913ff.). Diese körperlichen Merkmale fungieren nach Hall in rassistischen Diskursen als Bedeutungsträger zur Markierung von Unterschieden, die man dazu braucht, um sich gegenüber anderen abzugrenzen.

Das tun Menschen zwar allgemein, doch – so sagt er – "Wenn dieses Klassifikationssystem dazu dient, soziale, politische und ökonomische Praxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen, dann handelt es sich um rassistische Praxen" (Hall 1989, S. 913), um sog. "Ausschließungspraxen".

Neben Konstatieren von Andersartigkeit, negativer oder positiver Bewertung dieser Abweichung von "unserer" Normalität ist jedoch noch ein dritter Faktor von Bedeutung, wenn wir von Rassismus sprechen: Der Faktor der Macht, über die die Ausgrenzenden faktisch verfügen. Das tun sie bereits, worauf insbesondere van Dijk und Nora Räthzel aufmerksam gemacht haben, wenn die Ausgrenzenden zur Mehrheitsgruppe gehören oder zur Gruppe derjenigen, die die Macht im Staate hat. Erst wenn diese drei Faktoren: Andersartigkeit, Bewertung, Macht zusammen auftreten, kann von Rassismus die Rede sein.

Ausschließungspraxen liegen nach Hall nun auch dem kulturellen Rassismus zu Grunde: Auch wenn bestimmte Lebensgewohnheiten, Sitten

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und Gebräuche einer bestimmten Menschengruppe verabsolutiert und naturalisiert werden, sozusagen als die einzig normale Form zu leben angesehen werden, und andere, davon abweichende Lebensformen – und das ist ganz wichtig – negativ (oder auch positiv) bewertet werden, ohne daß dies unbedingt genetisch oder biologisch begründet wird, ist von Rassismus zu sprechen. Auch dies dient der genannten Ausschließung anderer Menschen, der Abgrenzung und der Legitimation, die Anderen zu bekämpfen. [Rassismus liegt nicht vor, wenn z.B. Angehörige von Minderheiten "uns Eingeborene" als "anders" wahrnehmen und "unser Anderssein" negativ (oder positiv) bewerten. Zum Rassismus gehört wesentlich dazu, daß er mit Herrschaft über andere verbunden ist bzw. sein kann. Nora Räthzel schreibt dazu: "Unseres Erachtens wird der Prozeß der Konstruktion einer Gruppe als minderwertige "Rasse" erst dann zum Rassismus, wenn die "konstruierende Gruppe" die Macht hat, ihre Definition, ihre Konstruktion durchzusetzen, die Lebensbedingungen der so definierten Gruppe zu bestimmen." (Räthzel 1990, S. 4).]

Diese differenzierte Fassung des Rassismus-Begriffs scheint mir nützlich und richtig zu sein, da sie andere moderne anti-rassistische Theorien ergänzt und weiter ausbaut, worauf ich hier nur verweisen kann. [Vgl. Lewontin/Kamin/Rose 1988.] Der so gefaßte Rassismus-Begriff macht sich an der Funktion der Ausgrenzung und der i.R. negativen Beurteilung der Ausgegrenzten fest, was sowohl für den genetischen wie auch für den kulturellen Rassismus gültig ist: Andere ausgrenzen, um eigene soziale und materielle Vorteile zu erlangen und sich selbst zu behaupten. Um dies zu legitimieren, braucht man aber einen Grund, eine Rechtfertigung, kurzum: eine Ideologie.

Rassistisches Denken hat nun die typischen Merkmale einer Ideologie, und diese hat Funktion und Charakter einer Religion. Sie ist – zunächst – quasi-religiös. [Vgl. dazu besonders auch Kellershohn 1989.] Quasi, weil sie nicht auf etwas Transzendentales gerichtet ist, sondern bestimmte aberwitzige Annahmen an etwas ganz Konkretem festmacht. – Bereits bei Marx kann man nachlesen, weshalb viele Menschen Religion brauchen. Er schreibt: Religion ist für die Menschen "Protestation gegen das wirkliche Elend." "Die Religion", heißt es da, "ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer

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herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes." (MEW 1, S. 378). Ohne Religion würden viele schlicht verrückt, weil sie ihr Leben nicht aushalten würden. So dürfte wohl auch Rassismus eine Art "Opium des Volkes" sein. Dies um so mehr, als Religionen, zumindest in unseren Breiten, ihre Überzeugungskraft bei vielen Menschen fast vollständig eingebüßt haben. Die aufs Jenseits gerichteten falschen Konsumversprechungen halten gegenüber den Einsichten der modernen Wissenschaft und den konkret hiesigen Konsumangeboten moderner Gesellschaften nicht mehr so richtig stand. Da aber die erfahrenen Mängel und Entbehrungen dieser Welt sich nicht mehr in eine jenseitige Welt abbiegen lassen, müssen dafür entsprechende irdische Blitzableiter gefunden werden.

Hall fragt nun auch, "inwiefern Rassismus eine authentische Form sein kann, in der untergeordnete soziale Gruppen ihre Unterordnung leben und erfahren". Und er meint: "Wir müssen begreifen, wie Gruppen, die von den Reichtümern unserer Wohlstandsgesellschaft ausgeschlossen sind, die aber gleichwohl zur Nation gehören, sich mit ihr identifizieren wollen, im Rassismus eine authentische Form der Identitätsgewinnung und des Selbstbewußtseins finden können." (Hall 1989, S. 916). Und er fragt weiter, "wie" die Subalternen im Rassismus Identität und Selbstbewußtsein finden können.

In einem ersten Schritt kommt Hall zu dem Ergebnis, Rassismus legitimiere subjektiv dazu, gebe einem also scheinbar das Recht, andere abweichende Gruppen, mit denen man um einen Platz an der Sonne kämpfe, auszuschließen. Demnach würde Rassismus subjektiv erst überflüssig, wenn die Subalternen sich nicht mehr den Platz an der Sonne streitig machen müßten. Solange kapitalistische und sonstwie verursachte materielle, soziale und psychische Mangelerscheinungen systematisch erzeugt werden und nicht genug für alle da ist, werden wir also auf jeden Fall mit Rassismus rechnen müssen.

Die besondere Hartnäckigkeit und schematische Verfestigung rassistischer Vorstellungen im Bewußtsein vieler Menschen, von der ich vorher bereits gesprochen habe, hat nach Hall aber noch einen weiteren Grund, den er psychoanalytisch dingfest zu machen versucht: Ausgrenzung der Anderen werde vielfach dadurch legitimiert, daß man die anderen als im Gegensatz zu sich selbst und in der Regel negativ defi-

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niere. Durch diese Konstruktion des Anderen werden Identitäten produziert und Identifikationen abgesichert. Man braucht also die anderen, um sich selbst zu definieren. Die anderen sind aber deshalb für viele Menschen bedrohlich, weil sie in ihnen möglicherweise einen Teil von sich wiedererkennen, den man verdrängen oder unterdrücken muß, wie z.B. die (wenn auch nur vorgestellte) Wildheit und Ausgelassenheit, die vermeintlich lässige Trägheit oder auch die sexuelle Freizügigkeit und Kraft der anderen, insbesondere anderer "Rassen" oder auch des anderen Geschlechts, wobei letzteres Sexismus legitimiere, usw.

Hall, den ich hier nur in aller Kürze referiere, meint dazu im Hinblick auf anti-rassistische Gegenwehr: "Strategien und Politik des Antirassismus, die nicht versuchen, in diese tieferen und grundlegend widersprüchlichen Schichten des Rassismus hinabzusteigen, werden scheitern, weil sie sich auf die Oberflächenstruktur einer ausschließlich auf das Rationale zielenden Politik beschränken." (S. 921).

So kann hier zunächst gesagt werden, daß der Mediendiskurs und die kurzschlüssigen Politikeransprachen auch deshalb leichtes Spiel haben, weil sie mit gewissen Alltagskonzepten der gedanklichen Weltbewältigung vieler Menschen korrespondieren. Sie produzieren das Alltagsbewußtsein nicht nur, sie reproduzieren es auch.

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5. Die gesellschaftliche Funktion des Rassismus

Welche gesellschaftliche und politische Funktion aber hat die Verbreitung des Rassismus in heutigen Gesellschaften?

Entfaltete rassistische Theorien sind Resultat der Rationalisierung von Alltags-Vorstellungen über Ausgrenzung und Abwendung von angeblich durch die Minderheiten und die Einwanderer drohenden Gefahren. So ist die Alltags-Vorstellung stark verbreitet, man müsse den Gesellschaftskörper reinigen, man müsse die eigene Identität und die der Gemeinschaft vor Überflutung, Promiskuität, Durchmischung und Durchrassung ("Blutschande") bewahren usw.

Diese Vorstellungen verbinden sich primär mit anderer Hautfarbe, fremden Namen, anderer Religion und anderer Kultur. Zugleich sind

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diese Vorstellungen noch ziemlich unbegrifflich und relativ zusammenhangslos.

Durch die Rationalisierung von Alltagsvorstellungen durch intellektuelle Rassisten werden diese nun zu einem Herrschaftsinstrument umfunktioniert, das sich gegen diejenigen richten läßt, die diese Vorstellungen und Ängste hegen, die also im Grunde selber Opfer sind. Damit kommen wir der Frage nach der Funktion solcher Rassentheorien schon erheblich näher:

Der französische Soziologe Etienne Balibar schreibt dazu in Verbindung mit seinen Analysen des Rassismus in Frankreich: "Aus ... (der) Kombination unterschiedlicher Praxisformen, Diskursformen und Vorstellungen in einem ganzen Netz von Gefühlsstereotypen läßt sich die Herausbildung einer rassistischen Gemeinschaft erklären (oder auch einer Gemeinschaft von Rassisten ...) sowie auch die Art und Weise, wie sich gleichsam spiegelbildlich die Individuen und Kollektive, die dem Rassismus ausgesetzt sind (also dessen "Objekte"), dazu gezwungen sehen, sich selbst als eine Gemeinschaft wahrzunehmen." (Balibar 1989, S. 369f.).

Wie ist das möglich?

Balibar unterstellt den Menschen zu Recht ein Begehren nach Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen sie leben. Er geht davon aus, daß sich die intellektuellen Rassisten genau dies zunutze zu machen versuchen, indem sie mit einer Ideologie darauf antworten, für die Anknüpfungspunkte in der Masse der Bevölkerung in Gestalt von spontanen Gefühlen und Vorstellungen bereits vorliegen. Die Stoßrichtung dieser rassistischen Theorie ist ihre "Logik der Unterwerfung des Gesellschaftlichen unter die Denkformen von Natur und Rasse" (Balibar 1989, S. 372, meine Hervorhebung, S.J.) und, wie er sagt, eine "Zersetzung des Klassenbewußtseins". (Balibar 1989, S. 372).

Balibar führt rassistisches Denken also nicht auf die Klassenstruktur zurück, wie dies gelegentlich versucht worden ist, sondern begreift es als "eine typische Form der politischen Entfremdung". (Balibar 1990, S. 18). Die rassentheoretisch erklärte Welt aber erscheint als unveränderbar, weil ja die Natur herrscht und in ihr das Recht des Stärkeren; das Soziale wird naturalisiert. Damit ist jede Diskussion über Verände-

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rungen des Sozialen ausgeschlossen. Diese "Einsicht" muß in den Massen zu Gefühlen von Fatalismus und Ohnmacht führen: Wir können nichts ändern; gegen die Gewalten der Natur hilft nur die Gewalt einer Herrschaft, einer Herrschaftselite der Starken bzw. die eines übermenschlichen Führers.

Auch der kulturelle oder, wie Balibar ihn nennt, der differentialistische Rassismus operiert mit dem Natur-Mythos, indem er Kulturen und kulturelle Eigenarten als naturgegeben bestimmt.

Dies geschieht in der Weise, daß Gesellschaften eine natürliche Bestimmung, die in ihrer Geschichte wurzelt, unterstellt wird, so daß diese in ihrer Identität scheinbar unveränderbar sind. Dieser kulturelle Rassismus bzw. seine Theorie operiert neben dem genetischen, der weiterhin existiert und propagiert wird, und er erfüllt eine ähnliche Funktion wie dieser: Ausgrenzung zu legitimieren und Ängste zu erklären, indem diese als die Ursache tatsächlicher Bedrohung der eigenen Existenz hingestellt werden. Die Vertreter dieses Neo-Rassismus sind, wie Balibar meint, keine Mystiker des Erbguts mehr, sondern ganz "realistische Techniker der Sozialpsychologie" (ebd. S. 375).

Solche rassistischen Ideologen geben i.a. sofort zu, daß "Rassen" keine biologischen Formationen darstellen und die Fähigkeiten der Menschen und ihr Verhalten nicht aus den Genen kommen, sondern daß dies alles an ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Kulturen liegt. [Vgl. z.B. den Artikel des Biologen Kühn in der rechtsextremen Zeitschrift MUT Nr. 267 vom September 1989, S. 38-51.]

Damit unterlaufen sie zugleich den humanistischen und kosmopolitischen Anti-Rassismus der Nachkriegszeit, der sich gegen den genetischen Rassismus richtete und für die Anerkennung der Unterschiedlichkeit und Gleichwertigkeit der Kulturen eingetreten ist; die Neo-Rassisten aller Couleur verdrehen diese Position durch Naturalisierung auch des Kulturellen in Richtung Ethnopluralismus und Apartheit, was sich dahingehend auswirkt, daß heute auch das Konzept der multikulturellen Gesellschaft in Richtung Ethnopluralismus gewendet werden kann. Neben der Funktion der Naturalisierung des Sozialen und Kul-

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turellen ist die Funktion der Schwächung des Anti-Rassismus und des Anti-Faschismus unübersehbar.

Menschen, deren Bewußtsein durch Einbindung in den Diskurs des Rassismus strukturiert ist, sind leicht zu beherrschen, weil sie auf ihre eigene Macht verzichten, sich ohnmächtig fühlen. In unseren reichen Industrienationen werden sie jedoch zugleich für diesen Verzicht belohnt: durch einen gewissen Lebensstandard. Das verstärkt die Neigung, auf Kritik und Gegenwehr zu verzichten. Man glaubt, man habe etwas erreicht und möchte dieses Bißchen nicht aufs Spiel setzen. [Vgl. dazu auch die Überlegungen von Foucault zu Biopolitik und Macht.]

Die Verbindungen zwischen Rassismus und Rechtsextremismus liegen nun auf der Hand. Die angesprochenen Rassentheoretiker sind selbst oft Mitglieder rechtsextremer Parteien und Zirkel oder stehen diesen nahe. Sie verfolgen meist den Zweck, Rassentheorien zu verbreiten, um andere rechtsextreme Ideolgeme nachschieben zu können, letztlich in der Absicht, Menschen für ihre Ideologie zu gewinnen und zu organisieren. [In unserer Broschüre "Die Demokratiemaschine ächzt und kracht" haben Margret Jäger und ich diese Verbindungen, die ich hier nicht im einzelnen darstellen kann, aufzuzeigen versucht (Jäger/Jäger 1991).]

Die Funktion der allgemeinen Verbreitung und Verfestigung rassistischen Denkens geht aber weit darüber hinaus. Hier haben wir es mit einem Herrschaftsmittel zu tun, mit dem die Menschen auf die Akzeptanz nicht-demokratischer Herrschaftsformen orientiert werden, zur Akzeptanz von Herrschaft über sie, also dazu, ultrakonservative und autoritäre Regierungsweisen und gesellschaftliche Konzepte eines völkischen Nationalismus zuzulassen oder gar zu favorisieren und jede Form der Gegenwehr dagegen für obsolet, wirkungslos und dumm zu halten.

An dieser Stelle wird auch das Interesse konservativer Kräfte an der Verbreitung rassistischer Ideen deutlich und sichtbar, weshalb rassistische Haltungen zunehmend in der Mitte der Gesellschaft und in der politischen Mitte auftauchen.

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Doch die Brandanschläge und Überfälle auf Einwanderer und Flüchtlingsheime – nicht erst seit Herbst 1991 – unterstreichen die Gefährlichkeit auch solcher intellektueller Brandstiftereien. Auf die Gefahr, daß so etwas wieder geschehen kann, wenn es nicht gelingt, wirkliche Demokratie durchzusetzen, muß nachdrücklich hingewiesen werden.

Und Demokratie, das bedeutet auch: Wahlrecht für Ausländer, wirkliche Gleichberechtigung der Frauen, Schutz der Kinder, der Behinderten und der Alten, vernünftige Zukunfts- und Handlungsperspektiven für Jugendliche, soziale Sicherheit allgemein, ausreichender Wohnraum etc. Dazu gehört auch eine umfassende Anti-Diskriminierungsgesetzgebung, Verbot der Verbreitung rassistischer und anderer diskriminierender Theorien, Verbannung des Rassismus aus Schulbüchern und Medien, aus Schulen und Universitäten etc. Aufklärung gegen Rassismus und Sensibilisierung gegenüber rassistischen Ideologien und Praktiken ist unverzichtbar. Am wichtigsten erscheint aber, daß die Gefühle von Ohnmacht, das eigene Leben zu gestalten, abgebaut werden.

Mit anderen Worten: Die Menschen müssen erfahren, daß sie keine bloßen Objekte sind, deren Handlungsspielräume streng vorgeschrieben und eingegrenzt sind, sondern daß sie zum Handeln fähige Subjekte sind, die an ihrer Situation etwas ändern können und daß die Diffamierung und Diskriminierung anderer dazu völlig ungeeignet ist. Rassistisches Denken ändert ja an der eigenen, häufig sehr unterdrückten und gegängelten Existenz nichts; im Gegenteil: es führt zur Selbstisolation und damit zur Verschlimmerung der eigenen Situation. [Vgl. dazu auch die ausführliche und differenzierte Begründung bei Leiprecht 1990.]

Hinterfragt werden müßte auch die Art und Weise der Beteiligung der Menschen am Konsum. Das will ich hier nur andeuten: Der heute für viele gegebene bescheidene Lebensstandard zwischen Alkohol und Musikantenstadel ist ja kaum mehr als Surrogat für wirkliches Leben.

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6. Einschätzung der jetzigen Situation und Ausblick

Damit rassistische Diskurse wirklich greifen können und demzufolge rassistisch motivierte Gewalttaten bis hin zu Mord und Totschlag geschehen können, bedarf es bestimmter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Deshalb zunächst und etwas thesenhaft einige Bemerkungen zur derzeitigen Situation in der Bundesrepublik Deutschland.

Die erheblichen Wahlerfolge rechtsextremer Parteien in den Jahren 1987 bis 1989 waren auch eine Folge der gesamtgesellschaftlichen politischen und ökonomischen Entwicklung. Die Union konnte ihre Versprechungen einer geistig moralischen Wende nicht einlösen und die Erwartungen eines größeren Teils ihrer Klientel in Richtung Ausländer- und Sozialpolitik, Ost- und Deutschlandpolitik usw. nicht erfüllen. Zugleich kristallisierte sich immer schärfer heraus, was Politologen und Ökonomen als Zweidrittelgesellschaft bezeichnen. Damit ist gemeint, daß ein Drittel der Gesellschaftsmitglieder infolge der riesigen Modernisierungs- und Technologisierungsschübe zunehmend verarmt oder von sozialem Abstieg bedroht ist bzw. sich bedroht fühlt, also zu sog. Modernisierungsopfern wird.

Die Ursachen dieser Rationalisierungsschübe werden in einer Krise des Fordismus gesehen. [Vgl. zu diesen viel zu knappen Ausführungen z.B. Hirsch/Roth 1986 und Hirsch 1990 sowie Jäger/Jäger 1990.]
Damit ist die in den Fordwerken entwickelte tayloristische Arbeitsteilung gemeint, die die gesamte Produktion über einen sehr langen Zeitraum bestimmt hat. Im Zuge sich weltweit verschärfender Konkurrenz und damit einhergehendem Zwang zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität erfolgte eine technologische Revolution, insbesondere durch die Entwicklung der Computertechnologie. Der fordistische Taylorismus ist nicht mehr konkurrenzfähig. Er wird durch eine "postfordistische" Phase abgelöst, die sich nicht nur in der Produktion auswirkt, sondern zu größeren allgemeingesellschaftlichen Verwerfungen führt, die die politische Landschaft und die privaten Lebensbedingungen vieler Menschen erschütterten. Stichworte sind: Abbröckeln der sozialen Sicherheit, zunehmende Arbeitslosigkeit, Verluste und Verschiebungen von Normen und Werten, New Age, Sekten-

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wesen, Zertrümmerung alter Institutionen wie Familie, Gewerkschaften, Glaubwürdigkeitsverluste bei den etablierten Parteien usw.

Die konservativen Parteien und die meisten Medien reagierten auf diese Entwicklung mit der Propagierung einer Ideologie, die der Tendenz nach weg führt von bisherigen demokratischen Errungenschaften und hin zu einem Gesellschaftsmodell, das Züge eines völkischen Nationalismus annimmt. Dies führte konkret auch dazu, daß Ideen, die vordem allein Sache der Rechtsextremen gewesen waren, in der Mitte der Gesellschaft Fuß fassen konnten.

Von dieser Situation profitierten die rechtsextremen Parteien, die sich so nicht als diejenigen erweisen, die diese Entwicklung hervorgebracht haben, sondern nur deren Nutznießer sind. Sie konnten mit plausibel wirkenden Parolen und Programmen bis in die Wählerschaft der SPD hinein Punkte machen und sich als das Original präsentieren, das nun von anderen Parteien nur kopiert worden sei. Im Zentrum ihrer Agitation stand dabei immer das Thema Ausländer, die für den Verlust der sozialen und privaten Sicherheit vieler Menschen in der Bundesrepublik verantwortlich gemacht wurden. Die Diskussion um das neue Ausländergesetz und den Asylparagraphen unter den Unionsministern Zimmermann und Schäuble führte dazu, die Ausländerfeindlichkeit weiter anzufachen, was den rechtsextremen Parteien weiter zugute kam, worauf auch die Unionsparteien und auch die SPD sich in breiterer Form Ideen anschlossen, die bis dato nicht mit ihren Programmen zu vereinbaren waren.

Diese Entwicklung schien aufgrund der Entwicklungen in Osteuropa und mit dem Fall der Mauer sowie der überfallartig durchgepeitschten Vereinigung der beiden deutschen Staaten seit Ende 1989 gestoppt zu sein. Den Rechtsextremen war nicht nur ein wichtiges Thema aus der Hand geschlagen worden; die deutsch-deutsche Vereinigung führte dazu, daß sich die Aufmerksamkeit ganz dieser Entwicklung zuwandte. Rechtsextreme Parteien verloren auf Anhieb ca. vier Fünftel ihrer Wählerschaft. Die Republikaner lieferten sich schwere innerparteiliche Querelen; eine Spaltung der Partei war die Folge.

Diese Phase ist vorbei. Nüchternheit ist eingetreten, und die Folgen der Vereinigung werden im Westen, insbesondere aber im Osten spürbar

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und lösen Ängste und Zorn aus. Der unterbrochene politische Diskurs wurde wieder aufgenommen. Die Folge war, daß sich die rechtsextremen Parteien wieder konsolidieren konnten. Ihnen kam zusätzlich die Tatsache zugute, daß der Hauptfeind, der Kommunismus, besiegt war, worauf sie nun ihre ganze Kraft gegen den Liberalismus richten konnten, also gegen den Kapitalismus und seine staatlichen und sozialen Begleiterscheinungen; nun soll für die "Wiedergewinnung der nationalen Identität" gefochten werden, die nach Ansicht der rechtsextremen Ideologen durch Umerziehung und Fremdherrschaft weitgehend zerstört sei, und für die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937.

Zugleich ist zu beobachten, daß die ehemalige DDR in Armut und Arbeitslosigkeit versinkt. Ihre Sanierung wird nicht möglich sein, ohne die Westdeutschen erheblich zur Kasse zu bitten. In die alte Bundesrepublik und auch in die alte DDR flüchten zunehmend Aus- und Übersiedler. Dazu kommen weitere tausende Asylsuchende und sonstige Einwanderer. Die westdeutsche Wirtschaft investiert nur zögernd in expansiven Bereichen, die sich in der ehemaligen DDR aufgetan haben und geschlossen werden müssen, wenn der Lebensstandard der Bürgerinnen und Bürger wiederhergestellt oder verbessert werden soll. Der diesbezügliche politische Druck ist enorm und wird sich nicht eindämmen lassen.

Expansive Investitionen bedeuten aber Abzug an Rationalisierungsinvestitionen im High-Tech-Bereich. Dies könnte zu einer Minderung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt führen und mittelfristig zu einer wirtschaftlichen Rezession mit den entsprechenden sozialen Folgen und die beanspruchte Führungsrolle Deutschlands in der EG schwächen.

Kurzum: Es entsteht eine sozialpolitische Situation, in der autoritäre und rechtslastige Politikmuster wieder Konjunktur bekommen und Widerhall finden, zumal sie zumindest teilweise auch von den großen Parteien propagiert werden. Deutliche Anzeichen dafür, wer von einer solchen Entwicklung profitiert, lieferten die Senatswahlen in Bremen und die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein 1991, wo selbst Vertreter der knöchernen DVU und der gebeutelten Republikaner Mandate erzielten, bis hin zur Fraktionsstärke. Die Wahlen in Baden-Württemberg von Anfang April 1992 und in Hessen vor wenigen Wochen zeigen deutliche

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Zugewinne rechtsextremer Parteien, die über ihre Erfolge der Jahre 1987-1989 hinausweisen. Wer noch vor kurzem glaubte, im Hinblick auf den Rechtsextremismus sei Entwarnung angesagt, ist drastisch eines Schlechteren belehrt worden.

Deutlich sollte aber geworden sein, daß der Rechtsextremismus von der allgemeinen gesellschaftspolitischen und sozioökonomischen Entwicklung und der damit einhergehenden ideologischen Begleitmusik nur profitiert und diese nicht selbst herbeigeführt hat. Dazu fehlte ihm die gesellschaftliche Macht. Zu befürchten ist aber, daß sich in der Mitte der Gesellschaft, aus dem Zentrum der Macht heraus, dasjenige zumindest teilweise durchsetzt, von dem rechtsextreme Ideologen seit langem schon geträumt haben.

Hier erweist sich denn auch, daß, abgesehen von den Wahlerfolgen der Rechtsextremen, unserer Demokratie auch dann Gefahr droht, wenn es nicht gelingt, den in der Bevölkerung verbreiteten Rassismus abzubauen und die zu beobachtende Revision demokratischer Errungenschaften wieder zu revidieren. Ansatzpunkte für Gegenstrategien habe ich angedeutet. Sie müssen in den folgenden Diskussionen aber weiter entfaltet werden.

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7. Literatur

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[Seite der Druckausg.: 34 = Leerseite]


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