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[Seite der Druckausg.: 7]


Günther Schultze
Anmerkungen zum Verständnis der "multikulturellen Gesellschaft"


Mehr denn je ist "multikulturelle Gesellschaft" zu einem Reizwort geworden, das zu heftigen Reaktionen in der öffentlichen Diskussion führt. Man kann es durchaus als einen Fortschritt werten, daß dieser Begriff den Sprung aus der Wissenschaft und aus den Kreisen der professionell mit der Thematik befaßten Experten hinein in die politische Ebene und die alltäglichen Gespräche gefunden hat. Klarer ist er dadurch aber auch nicht geworden. Z.Zt. wird er häufig verwendet, um den Entwurf einer Gesellschaft zu skizzieren, in der ausländerfeindliche Verhaltensweisen und Einstellungen überwunden sind und ein friedliches Zusammenleben verschiedener Ethnien und Nationalitäten möglich ist. In diesem Sinn hat er dann einen eher defensiven Charakter.

Der Begriff der multikulturellen Gesellschaft hat den in der Vergangenheit in der öffentlichen Diskussion zur Ausländerthematik dominierenden Begriff der "Integration" abgelöst. Ebenso wie dieser erklärt sich sein Erfolg aus seiner Mehrdeutigkeit, die jedem erlaubt, seine eigenen Vorstellungen und Weltbilder mit einem Etikett zu belegen, das Aufmerksamkeit erzeugt. Die Frage ist, ob dieser Begriffswechsel dazu führt, alte Inhalte und Konzepte lediglich mit einem modernen Begriff salonfähig zu machen, oder ob sich dahinter ein Paradigmenwechsel, ein wirklicher Wandel der wissenschaftlichen Analyse, der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit und der politischen Konzepte verbergen.

Wenn über die multikulturelle Gesellschaft diskutiert wird, schwingen häufig Vorstellungen und Überlegungen mit, die ein Verständnis der tatsächlichen sozialen Prozesse erschweren. Sechs solcher Mißverständnisse sollen an dieser Stelle kurz erwähnt werden:

  1. Es besteht die Gefahr, die kulturelle Dimension des Zusammenlebens verschiedener Ethnien über- und die ökonomische, politische und soziale unterzubetonen. Kulturunterschiede werden häufig als alleinige Erklärungsansätze für auftretende Probleme und Schwierigkeiten von Migranten benutzt. Die Folge ist, daß gesellschaftliche Konflikte mit Hilfe

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    pädagogischer Maßnahmen gelöst werden sollen. Daß viele Probleme aus institutioneller Diskriminierung, rechtlicher Ungleichstellung und ökonomischer Benachteiligung resultieren, wird übersehen.

  2. Es wird häufig ein eingeschränkter Kulturbegriff verwendet, der sich lediglich auf Folkloristisches und Kulinarisches bezieht. Für die multikulturelle Gesellschaft wird mit dem Hinweis auf die Bereicherung unseres Speisezettels und der Belebung unserer Märkte und Straßen geworben. In sozialromantischen Versionen werden den Migrantengemeinschaften jene Eigenschaften unterstellt, an denen es den Einheimischen mangelt: Spontaneität, Solidarität, Kommunikation usw. Diese Zuschreibungen und Projektionen lassen eher die Defizite und Wunschvorstellungen der Einheimischen deutlich werden, als daß sie eine adäquate Beschreibung der Lebensverhältnisse der Migranten liefern.

  3. Die Vorstellungen, daß moderne Gesellschaften sich in erster Linie und hauptsächlich nach dem Kriterium ethnischer Zugehörigkeit differenzieren, ist falsch. Die "deutsche" Kultur steht nicht der "griechischen", "portugiesischen" und "italienischen" Migrantenkultur gegenüber. Es gibt diese homogenen Gebilde nicht. Bei genauerem Hinsehen erkennt man die sich dahinter verbergenden unterschiedlichen Lebensentwürfe, Freizeitgewohnheiten, Kleidungsregeln, aber auch die unterschiedlichen Wertorientierungen und Interessen. Die Vorstellung einer kulturellen Homogenität in einer Gesellschaft, in der sich traditionelle Milieus auflösen und die nach neuen Sinnkriterien sucht, entbehrt jeder Grundlage. Dies trifft selbstverständlich auch auf die Migrantengemeinschaften zu, wie wir in zwei neueren Studien zeigen konnten [Fn_1: Günther Schultze, Griechische Jugendliche in Nordrhein-Westfalen, Bonn 1990; Günther Schultze, Berufliche Integration türkischer Arbeitnehmer - Vergleich der ersten und zweiten Generation, Bonn 1991].

  4. Die Vision einer multikulturellen Gesellschaft, in der es keine Konflikte mehr gibt und in der die Menschen harmonisch zusammenleben, ist weltfremd. Es ist wichtig, die sich entlang ethnischer Differenzierungen ausbrechenden Konfliktlinien zu erkennen und die sich darin ausdrückenden Interessengegensätze und Benachteiligungen ernst zu nehmen. Wir erleben

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    gerade eine Phase, in der ethnische Zugehörigkeit wieder verstärkt als Ausgrenzungskriterium benutzt wird. Die Anwesenheit von Ausländern wird von vielen als Ursache für das Auftreten oder zumindest für die Verschärfung sozialer Probleme und Benachteiligungen bei bestimmten Bevölkerungsgruppen betrachtet. In einer multikulturellen Gesellschaft muß es deshalb gelingen, die Verteilung gesellschaftlicher Chancen und Güter eben nicht nach ethnischen Kriterien zu organisieren. Das Ziel, eine gerechtere Welt zu erhalten, kann nur über solidarische Aktionen von Gleichwertigen, bei der die ethnische Zugehörigkeit eben keine Rolle mehr spielt, erreicht werden.

  5. Die Gegner einer multikulturellen Gesellschaft unterstellen, daß die Verwirklichung dieser Vision zu rechtsfreien Räumen führen würde. "Der Koran ist nicht Gesetz" lautet z.B. die Überschrift eines Artikels von E. Schiffer, Chefdenker für Ausländerpolitik im Innenministerium, im "SPIEGEL" (40/91). Gewaltsame Auseinandersetzungen rivalisierender Ausländergruppen werden als Schreckgespenst an die Wand gemalt. Eine derartige Argumentation läßt dann die Frage, wie innerhalb unseres Verfassungsrahmens die gleichberechtigte Teilnahme von Migranten an politischen und sozialen Entscheidungsprozessen geregelt werden kann, gar nicht mehr aufkommen. Es muß deshalb das Ziel sein, den ausländischen Mitbürgern das Recht einzuräumen, sich an der Verwirklichung der in unserer Verfassung verankerten Grundprinzipien beteiligen zu können; daß sie sich ebenso wie alle Bürger an die dort festgelegten Pflichten und Standards halten müssen, bedarf keiner Diskussion.

  6. Die Verwirklichung einer multikulturellen Gesellschaft ist ohne Wandlung der deutschen Ausländerpolitik zu einer Einwanderungspolitik nicht möglich. Wir müssen abgehen von der Vorstellung, daß die Anwesenheit von Ausländern in unserer Gesellschaft eine potentielle Gefahrenquelle ist und deshalb das rechtliche Instrumentarium in erster Linie die Kontrolle dieser Gruppe gewährleisten soll. Unsere Gesellschaft wird in Zukunft noch stärker als in der Vergangenheit auf die Zuwanderung angewiesen sein, da sonst ökonomische und soziale Probleme zunehmen werden. Dabei muß die deutsche Zuwanderungspolitik Bestandteil einer planvollen europäischen Migrationspolitik sein.

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Das Aufzählen von Unklarheiten und ideologischen Gehalten eines Begriffs ersetzt sicher nicht seine programmatische Weiterentwicklung. Es kann verhindern, daß alte Ideen und Konzepte lediglich in einem neuen Gewand erscheinen, ohne daß sich die Lebensverhältnisse der bei uns lebenden Migranten verbessern. Dies muß jedoch das primäre Ziel unserer politischen und pädagogischen Bemühungen sein.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 2001

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