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TEILDOKUMENT:



1. Einführende Bemerkungen

Ziel dieser Expertise ist es, eine kritische Analyse von Unterstützungsangeboten für Angehörige dementiell Erkrankter vorzunehmen. Hierzu wird im 1. Kapitel auf die Bedeutung der Thematik hingewiesen, indem zunächst eine Beschreibung des quantitativen Ausmaßes von Demenzerkrankungen erfolgt. In einem zweiten Schritt wird sodann auf die derzeitige Versorgungssituation von Demenzkranken eingegangen. Auf die Auswirkungen, die die Betreuung und Versorgung der Erkrankten für ihre Angehörigen mit sich bringen kann, wird in einem dritten Schritt rekurriert. Eine Analyse der Faktoren, die Art und Ausmaß der Auswirkungen beeinflussen können, schließt das erste Kapitel ab.

Im 2. Kapitel erfolgt eine gezielte Hinwendung zum Thema, denn hier werden wichtige Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige im Überblick referiert. Absicht dieser Ausführungen ist es, auf die im Rahmen dieser Expertise durchgeführte Untersuchung hinzuleiten. Das entsprechende methodische Vorgehen wird in Kapitel 3, die erzielten Ergebnisse in Kapitel 4 wiedergegeben. Während in Kapitel 5 Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Situation von Angehörigen dementiell Erkrankter formuliert sind, erfolgt in Kapitel 6 eine Beschreibung von zwei Einrichtungen, die in vorbildhafter Weise Unterstützungsmaßnahmen für Angehörige von Demenzkranken vorhalten.

Diese Vorbemerkungen abschließend sei an dieser Stelle allen Untersuchungsteilnehmerinnen und –teilnehmern herzlich gedankt. Ohne ihre Bereitschaft, uns wichtige Informationen über ihre Einrichtung mitzuteilen sowie Anregungen zur Erleichterung der Betreuung und Versorgung von dementiell Erkrankten zu geben, hätte diese Expertise nicht in der vorliegenden Art realisiert werden können. Schließlich gilt der Dank auch der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie hat diese Expertise nicht nur finanziell gefördert, sondern während der Projektdauer stets großes Verständnis für aufgetretene Schwierigkeiten gezeigt.

Dortmund, im März 2000

Prof. Dr. Gerhard Naegele

Dr. Monika Reichert



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1.1 Zum quantitativen Ausmaß von Demenzerkrankungen

Altersassoziierte Krankheiten des Gehirns sind bei weitem die wichtigste Ursache für Pflegebedürftigkeit (Jorm, Corber & Henderson, 1987). Unter Versorgungsaspekten gelten dabei vor allem die Demenzerkrankungen (Hirnleistungsstörungen) als bedeutsam. Davon macht der Anteil der Demenzen, die auf degenerative Prozesse zurückzuführen sind ("Alzheimersche Erkrankung"), etwa die Hälfte, der Anteil, der auf vaskuläre Störungen (Durchblutungsstörungen) beruht, etwa 25% aller Demenzerkrankungen aus. Wojnar (zitiert in Schröder, 1999) definiert Demenz wie folgt:

„Mit Demenz werden Störungen der Gedächtnisfunktionen und der intellektuellen Leistungen bezeichnet, die den Erkrankten an einer normalen Interaktion mit der Umgebung hindern und in seinen alltäglichen Aktivitäten beeinträchtigen. Die Demenzkranken leiden unter Störungen des Gedächtnisses, der Unfähigkeit, Neues zu lernen, der Unfähigkeit, früher im Langzeitgedächtnis gespeicherte Informationen willkürlich abzurufen, dem Abbau intellektueller Leistungen, einer zunehmenden Unfähigkeit, sich verständlich zu machen sowie der Unfähigkeit, alltägliche Tätigkeiten auszuführen. Diese Störungen werden von einer Veränderung der Persönlichkeit, einem Verlust der Kontrolle über emotionelle Äußerungen sowie von zahlreichen Verhaltensauffälligkeiten (wie Aggressivität, „Wandern„, paranoiden Ängsten usw.) begleitet„.

In der Bundesrepublik gibt es keine Gesundheitsstatistik, aus der die genaue Zahl der an einer Demenz erkrankten Personen zu entnehmen wäre. Die bislang vorliegenden Informationen beruhen auf den Ergebnissen epidemiologischer Feldstudien, die unter Zugrundelegung einer Zufallsstichprobe der Bevölkerung eines bestimmten geographischen Raumes durchgeführt worden sind und somit nicht verallgemeinert werden können. Dennoch können unter Anwendung von Metaanalysen als Basis für die Schätzung der auf die Bundesrepublik bezogenen Krankenzahlen herangezogen werden. Diese Schätzungen gehen derzeit von 720.000 bis 850.000 Erkrankten mit mittelschwerer und schwerer Demenz aus, wobei Jahr für Jahr etwa 200.000 Neuerkrankungen hinzu kommen (Domdey 1996). Rechnet man jene Betroffenen mit leichteren Formen hinzu, dürfte die Gesamtzahl bei ca. 1,2 Millionen liegen, aber „ .... auch weit höhere Schätzungen von bis zu 1,5 Millionen (inklusive leichter Demenzen) (können) nicht mit letzter Sicherheit zurückgewiesen werden„ (Deutscher Bundestag, 1996, S. 4).

Demenzen konzentrieren sich insbesondere auf die Gruppe der sehr alten Menschen, wenngleich zunehmend auch jüngere Personen mit dieser Krankheit diagnostiziert werden. Zwar gelten von allen über 65jährigen nur etwa 3% als dementiell erkrankt, allerdings kann von einer Verdoppelung der Prävalenzrate je fünf Lebensjahre ausgegangen werden. Von den über 80jährigen gilt jeder fünfte als demenzkrank, von den über 90jährigen sogar jeder dritte (Häfner, 1993). Die Berliner Altersstudie (BASE) kommt sogar zu noch alarmierenden Befunden: Danach leiden 2% bis 3% der 70jährigen, 10% bis 15% der 80jährigen und fast 50% der 90jährigen an dementiellen Erkrankungen (Helmchen et al. 1996).

Wie viele an einer Demenz leidende (ältere) Menschen künftig unter uns leben, ist eine der zentralen gesundheits- und sozialpolitischen Fragestellungen der Gegenwart, sowohl unter Versorgungs- wie auch unter Kostengesichtspunkten. Nach dem derzeitigen Wissensstand ist eher Pessimismus angebracht, "... es sei denn, die wissenschaftlichen Bemühungen um wirksame medikamentöse Beeinflussung des Krankheitsprozesses würden endlich zu substantiellen Erfolgen führen. Dieses zeichnet sich gegenwärtig jedoch noch nicht ab" (Bruder, 1996, S. 6).

Die Einschätzung einer weiteren Bedeutungszunahme von Demenzerkrankungen beruht insbesondere auf vorliegenden demographischen Prognosen, die allesamt den fortgesetzten Trend zum "dreifachen Altern der Gesellschaft" (Tews, 1995) bestätigen. Demnach ist für die Zukunft sowohl mit einem weiteren Anstieg der absoluten Zahl älterer Menschen, ihres relativen Anteils an der Gesamtbevölkerung sowie der Zahl sehr alter Menschen zu rechnen. Insbesondere die letztgenannte Entwicklung begründet – aufgrund der altersabhängig steigenden Auftetungswahrscheinlichkeit der Demenzkrankheiten - einen starken Anstieg. So ist – vorausgesetzt, die Altenbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland nimmt stetig zu und die Sterblichkeit bleibt gleich – bis zum Jahre 2010 „... mit Zahlen im Bereich von 1,6 bis 1,7 Millionen...„ zu rechnen (Deutscher Bundestag, 1996).

Die Pflege-, Gesundheits- und Sozialpolitik steht damit vor enormen Herausforderungen – immer vorausgesetzt, es gelingt nicht, dementiellen Erkrankungen vorzubeugen bzw. sie erfolgreich zu behandeln. Will man zudem eine Institutionalisierung von Demenzkranken so weit wie möglich vermeiden – ein Wunsch, der auch von den meisten älteren Menschen bzw. von ihren Angehörigen geteilt wird – müssen neue Wege gefunden werden, die eine ambulante Betreuung und Pflege der Kranken auch weiterhin gewährleisten.

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1.2 Die derzeitige Versorgungssituation von Demenzkranken

Im Hinblick auf die derzeitige Versorgungssituation Demenzkranker kommen alle Untersuchungen übereinstimmend zu dem Resultat, daß die überwiegende Mehrheit im Privathaushalt von ihren Angehörigen betreut und versorgt wird. Während Wilz, Gunzelmann, Adler und Brähler (1998) sowie Kurz, Haupt, Müller-Stein, Romero, Zimmer und Lauter (1991) darauf verweisen, daß dies auf 80 bis 90% der Betroffenen zutrifft, geht Bickel (1995) von zwei Drittel aus, ein Anteil, der auch durch die Ergebnisse der Berliner Altersstudie (Mayer & Baltes, 1996) bestätigt wird. Eine stationäre Pflege von Demenzkranken wird von den Angehörigen zumeist erst dann in Erwägung gezogen, wenn sich die Krankheitssymptome verstärken bzw. der Schweregrad der Demenz zunimmt. Dies wird auch durch die bereits zitierte Berliner Altersstudie belegt, nach der 71,1% der schwerdementen Menschen in Heimen leben. Für Leichtdemente beträgt der entsprechende Prozentsatz 18,9% und für Personen mit einer als mittelgradig zu bezeichnenden Demenz 30,3%.

Aufgrund des besonderen Bedürfnisses nach Kontinuität und Stabilität, die dementiell Erkrankte hinsichtlich ihrer räumlichen und sozialen Umwelt haben, ist davon auszugehen, daß der Verbleib in der gewohnten häuslichen Umgebung für sie auch therapeutischen Charakter hat. Allerdings ist dies kaum nur durch ambulante Dienste zu gewährleisten: „ .... die Versorgung Demenzkranker durch ambulante Pflegedienste gelingt nur, wenn im Umfeld der Kranken ein stützendes soziales System vorhanden ist„ (Schwarz & Lange, 2000, S. 47). Dieses „stützende soziale System„ wird in erster Linie durch Angehörige des Demenzkranken gebildet. Diese sind aus den unterschiedlichsten Motiven - z.B. Liebe und Zuneigung, Wiedergutmachungs- und Dankbarkeitsimpulse, religiöse und karitative Motive - häufig bestrebt, den Demenzkranken so lange wie möglich selbst zu betreuen und dies, obwohl die Krankheit von vielfältigen und schwerwiegenden Symptomen (z.B. zunehmender Gedächtnisverlust bis hin zur Aphasie und Agnosie, Verhaltensstörungen und Persönlichkeitsveränderungen, vgl. hierzu auch Bauer, 1994; Bruder, 1994) begleitet ist. Wie aber lassen sich die Angehörigen charakterisieren, die selbst größte Belastungen in Kauf nehmen, um dementiell Erkrankte zu betreuen und zu versorgen?

Wie für pflegende Angehörige allgemein festgestellt, wird auch die Mehrheit der Pflegepersonen dementiell Erkrankter von Ehefrauen und Töchtern gebildet. So sind nach Gräßel (1997), der in seine Untersuchung 1.272 pflegende Angehörige von Demenzkranken befragte, 82,8% weiblich. Zwar kommen Adler, Gunzelmann, Machold, Schuhmacher und Wilz (1996) zu einem ähnlichen Resultat, sie können aber auch belegen, daß die Unterstützung und Pflege Demenzkranker durchaus auch von Männern geleistet wird: In ihrer, allerdings nicht repräsentativen Stichprobe von Klienten einer Beratungsstelle, waren es immerhin 24%. Nach Domdey (1996) wiederum werden dementiell Erkrankte zu zwei Dritteln von Ehe-/Lebenspartnern und zu einem Drittel von Kindern und Enkeln betreut. Im Hinblick auf die Variable „Alter„ verweisen die genannten Studien darauf, daß das Durchschnittsalter der Pflegenden 58,1 (Gräßel, 1997) bzw. 61 Jahre (Adler et al., 1996) beträgt, wobei den Erwartungen gemäß die meisten Pflegeleistenden älter als 65 Jahre sind (Stuhlmann, 1995).

Im Hinblick auf die Wohnsituation liegen folgende Informationen vor: Nach einer neueren Untersuchung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim wohnten 83% der Demenzkranken, die bis zu ihrem Tod in einem Privathaushalt gepflegt wurden, „unter einem Dach„ mit ihren Angehörigen. Die übrigen 17% lebten entweder in der unmittelbaren Nachbarschaft (5%) oder aber in einem eigenen Haushalt (12%); beide Gruppen wurden jedoch ausnahmslos von ihren Angehörigen betreut. Diese enge räumliche Nähe ist zwar einerseits dadurch begründet, daß es sich bei den pflegenden Angehörigen der Erkrankten häufig um die Ehepartnerin/den Ehepartner handelt.

Andererseits ist sie aber auch durch den hohen Unterstützungs- und Betreuungsbedarf der Demenzkranken begründet, der in aller Regel ein breites Spektrum umfaßt. Während sich die Hilfeleistungen zu Beginn der Krankheit in erster Linie darauf beziehen, dem dementiell Erkrankten die Organisation des Alltags abzunehmen (z.B. im Hinblick auf die Haushaltsführung), treten aufgrund der sich zunehmend verschlechternden Symptomatik in späteren Stadien die Grund- und Körperpflege sowie die ständige Beaufsichtigung hinzu: So sind nach der Untersuchung von Gräßel (1997) in bezug auf die Körperpflege 83,6%, die Ernährung 44,2% und die Kontrolle der Ausscheidungsorgane 56,4% der Erkrankten vollständig hilfebedürftig. Der Hilfebedarf des Kranken ist daher vielfach „Rund um die Uhr„ gegeben. Auf diesen Sachverhalt verweisen auch 74,2% der von Gräßel in die Stichprobe einbezogenen Angehörigen von Dementen: sie berichten davon, durchschnittlich sechs Stunden in Hilfs- und Pflegetätigkeiten involviert zu sein. Daß dies häufig auch die Nachtstunden umfaßt, wird auch durch den folgenden Prozentsatz illustriert: 57,3% der Pflegepersonen geben an, ihren Schlaf, bedingt durch notwendige Unterstützungsleistungen für den Erkrankten, unterbrechen zu müssen und zwar häufig über Jahre hinweg (vgl. auch Wilz et al. , 1998). In den weiteren Ausführungen soll nun dargelegt werden, welche Auswirkungen bzw. Belastungen dieses hohe Maß an Hilfe und Pflege für die Angehörigen mit sich bringen kann, denn das entsprechende Wissen ist entscheidend für die Initiierung von entlastenden Interventionsmaßnahmen.

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1.3 Auswirkungen der Pflege Demenzkranker auf die Angehörigen

Indem die Pflege- bzw. Betreuungsperson überwiegend ein nahestehendes Familienmitglied ist, wird einerseits zwar ein bestimmtes Maß an Kontinuität und Verläßlichkeit garantiert. Andererseits erfolgt auch die freiwillige Pflegeübernahme häufig unter großen persönlichen Opfern und Einschränkungen (siehe unten). So fühlen sich nach den Ergebnissen der Untersuchung von Infratest Sozialforschung rund 90% der Hauptpflegepersonen „stark" oder „sehr stark" belastet (Schneekloth et al., 1996). Die extremen Belastungen werden häufig noch durch ungünstige Lebens- und Wohnbedingungen und i.d.R. geringere finanzielle Ressourcen verschärft.

Studien, die sich mit dem Belastungserleben von Angehörigen Demenzkranker befaßt haben, belegen insbesondere das hohe Maß an emotionalen Belastungen, das diese Gruppe Pflegender erlebt (vgl. zur Übersicht BmFuS, 1993; Gunzelmann, 1991; Holuscha, 1992; Horowitz, 1985; Kruse, 1990, 1994; Matter & Späth, 1998; Neumann, 1992; Rössler, 1995). Dieser emotionale Stress wird dabei vor allem durch die Versorgung bzw. Sorge um den Kranken verursacht: Die Tatsache, daß sich seine kognitive Leistungsfähigkeit zunehmend verschlechtert und Veränderungen seiner Persönlichkeit unaufhaltsam voranschreiten, bedeutet für den Angehörigen eine enorme psychische Belastung. Hinzu kommen in späteren Stadien der Krankheit die durch die praktischen Pflegetätigkeiten bedingten hohen psychischen Beanspruchungen (z.B. bei Harn- und Stuhlinkontinenz des Demenzkranken) und das ständige Angebundensein an das häusliche Umfeld, das durch die „24-Stunden-Betreuung„ bedingt wird. Schließlich belasten Angehörige auch fehlende Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation und u.U. Entfremdungsgefühle gegenüber dem Kranken.

Neben emotionalen Belastungen werden von den Angehörigen Demenzkranker aber auch physische Beschwerden berichtet. Es ist daher nicht erstaunlich - insbesondere, wenn man die weiter oben beschriebenen emotionalen Belastungen mit berücksichtigt -, daß sich pflegende Angehörige häufig gesundheitlich stark beeinträchtigt fühlen (Halsig, 1995). In welchem Maße dies der Fall sein kann, zeigt eine Untersuchung von Gräßel (1998). Sein Vergleich von Personen, die entweder in die Pflege dementiell Erkrankter oder aber in die von psychisch Gesunden involviert waren, ließ erkennen, daß die erstgenannte Gruppe häufiger über Angstzustände, Depressionen, Schlaflosigkeit sowie Kopfschmerzen klagte und auch einen höheren Konsum an Beruhigungsmitteln hatte.

Andererseits ist das Erleben, nicht mehr genügend Zeit für sich selbst, für die Familie, den Beruf und/oder für soziale Aktivitäten zu haben ebenfalls ein ganz entscheidender Stressfaktor (Kruse, 1994). Da sich häufig der Zeitaufwand für die Hilfe/Pflege nicht ohne weiteres reduzieren läßt, besteht eine Strategie der Betroffenen zur Bewältigung aller an sie herangetragenen Anforderungen zunächst darin, die eigene "Frei"zeit sowie die außerfamiliären sozialen Beziehungen zu vermindern. Gerade bei jüngeren Angehörigen kommt oft auch die Berufsaufgabe hinzu, die in vielen Fällen nicht positiv, sondern im Gegenteil, eher negativ erlebt wird (Reichert, 1997). Gerade für Angehörige dementiell Erkrankter kann die – wenn auch nur stundenweise ausgeübte - Berufstätigkeit eine entlastende Funktion haben, denn sie bedeutet nicht nur eine „Pause„ von den pflegerischen Verpflichtungen. Gleichzeitig trägt sie zu dem Gefühl bei, die Lebensumstände noch kontrollieren zu können, gewährleistet ein Einkommen sowie soziale Kontakte.

Erwähnt werden sollte jedoch auch, daß die Reduzierung sozialer Beziehungen bzw. Kontakte auch aus Gründen wie Scham und Unsicherheit erfolgt. Diesbezüglich führt beispielsweise Stählin (1995, S. 154) folgendes aus:

„Die Diagnose wird immer noch als gesellschaftlicher Makel empfunden, der nach Möglichkeit sorgfältig verborgen, abgeschwächt, verschönt, verdrängt wird. Betroffene Angehörige verspüren die damit verbundene Isolation, und die Patienten versuchen nach Möglichkeit ihre Diagnose zu überspielen„.

Diese zunehmende Isolation, der sich viele Angehörigen ausgesetzt fühlen, kann dazu führen, daß sie keine oder nur geringe soziale Unterstützung erleben – hiermit ist wiederum ein erneuter Belastungsaspekt gegeben (Schröppel, 1992). Einen Überblick über Belastungen von Angehörigen dementiell Erkrankter, die bei einer Kumulation u.U. auch zur Gewalt in der Pflege führen können (Dieck, 1993; Naegele & Reichert, 1997; Rückert, 1999), bietet die folgende Tabelle:

Tabelle 1: Items, in denen sich bei mehr als der Hälfte der Pflegepersonen von Demenzkranken Belastetsein ausdrückt – nach abnehmenden Zustimmungsgrad geordnet (Gräßel, 1998)

Items

In %



Zu wenig Zeit für eigene Interessen

84,6

Pflege kostet viel Kraft

84,1

Traurigkeit über das Schicksal der gepflegten Person

79,3

Wunsch nach Ausspannen

76,4

Körperliche Erschöpfung

65,3

Außerhalb der Pflegesituation nicht abschalten können

65,8

Morgendliche Unausgeschlafenheit

63,2

Erschwerte Bewältigung pflegeunabhängiger Aufgaben

63,2

Aufgabe von eigenen Zukunftsplänen aufgrund der Pflege

58,3

Wunsch aus der Pflegesituation auszubrechen

57,2

Konflikt zwischen Pflege und sonstigen Anforderungen

54,9

Pflegebedingte Abnahme mit der Zufriedenheit mit dem Leben

53,9



Für einen nicht unerheblichen Teil von pflegenden Angehörigen ist die Versorgung und Betreuung Demenzkranker schließlich auch mit zum Teil erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden - z.B. bei Übernahme der Kosten für professionelle Hilfen - , die das Haushaltseinkommen und die allgemeine Lebensqualität erheblich mindern können. Als Begründung kann in diesem Kontext auch die Pflegeversicherung angeführt werden: Aufgrund ihrer starken Orientierung an somatischen Aspekten der Pflege werden Leistungen für dementiell Erkrankte häufig abgelehnt, d.h. viele Angehörige müssen Hilfe- und Betreuungsleistungen durch Dritte selbst finanzieren.

Ohne die enormen Belastungen von Angehörigen dementiell Erkrankter zu negieren, wäre es zweifellos zu einseitig, die die Pflege und Betreuung von Demenzkranken primär oder gar ausschließlich unter der Belastungsperspektive zu diskutieren. Trotz extremer physischer und psychischer Belastungen kann die Pflege auch als positiv, individuell befriedigend oder gar als „gewinnbringend" erlebt werden. Angehörige sind somit nicht nur Leidende und Belastete, sondern u.a. auch Träger positiver Erfahrungen. Zu den mit der Pflege einhergehenden „Gewinnen" zählen vor allem (Kruse, 1997; Gatz et al., 1990; Wahl, 1991):

  • früher erhaltene Hilfeleistungen des Gepflegten wieder "gut machen zu können",

  • das Gefühl, etwas sinnvolles zu tun, gebraucht zu werden,

  • die Dankbarkeit und Anerkennung des Gepflegten bzw. der sozialen Umwelt allgemein zu erleben,

  • kein schlechtes Gewissen haben zu müssen,

  • zur Verbesserung bzw. zumindest zur Stabilisierung des Gesundheitszustandes des Pflegebedürftigen beitragen zu können,

  • Erleben, daß die Pflege die Nähe zueinander fördert,

  • u.U. kann der Pflegebedürftige auch eine wichtige Ansprechperson für vertrauliche Dinge sein, vorausgesetzt, es liegen keine massiven kognitiven Einschränkungen vor,

  • finanzielle Zuwendungen von Seiten des Gepflegten, gegebenenfalls aus Leistungen der Pflegeversicherung.

Diese Ausführungen verweisen auf eine differenzierte Betrachtung des Themenkomplexes „Belastungen„, denn sie machen deutlich, daß das Ausmaß der erlebten Belastungen und Nachteile, die die Pflege von Demenzkranken mit sich bringen kann, von bestimmten Faktoren abhängig ist. Dieser Sachverhalt wird auch von Wilz, Alder, Gunzelmann und Brähler (1999) angesprochen, deren Ergebnisse große individuelle Unterschiede hinsichtlich der Bewertung von Belastungsfaktoren wie auch deren Auswirkungen auf die physische und psychische Befindlichkeit belegen.

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1.4 Wesentliche Einflußfaktoren auf das Ausmaß der Belastungen

Im weiteren werden einige wichtige Einflußfaktoren, die Art und Ausmaß der erlebten Belastungen beeinflussen können, genauer betrachtet. Diesbezüglich ist allerdings zu beachten, daß sich diese Faktoren gegenseitig bedingen und hier lediglich aus Gründen der Übersicht analytisch voneinander getrennt sind.

Grad der Hilfe- bzw. Pflegebedürftigkeit des Demenzkranken: Eine bedeutsame - wenn nicht sogar die bedeutsamste - Variable, die entscheidend das Ausmaß der erlebten Belastungen bestimmen kann, ist der Grad der Hilfe- bzw. Pflegebedürftigkeit. Es ist bereits weiter oben angeklungen, daß jene Pflegenden besondere Belastungen emotionaler und physischer Art erleben, die schwer Pflegebedürftige und/oder Angehörige mit problematischen Verhaltensweisen (z.B. Aggressivität, Inkontinenz) versorgen. Des weiteren ist für das Krankheitsbild der Demenz charakteristisch, daß die Betroffenen keine oder nur eine verminderte Orientierung in bezug auf Raum, Zeit, Personen und Situationen haben und damit kaum ihren eigenen Alltag gestalten können (Lind, 1995). Mit anderen Worten:

„Typische Alltagshandlungen wie Essen, Körperpflege, Ankleiden, aber auch kognitiv anspruchsvollere Tätigkeiten wie Umgang mit Geld, Orientierung in der gewohnten Umgebung usw. bereiten den Betroffenen im Verlauf ihrer Krankheit zunehmend Schwierigkeiten (Fuhrmann et al., 1995; Spiegel, 1992).„

Leben Pflegende und die zu unterstützende Person dann auch noch in einem gemeinsamen Haushalt, bestehen häufig keinerlei Möglichkeiten mehr, sich der Pflegesituation zu entziehen, um neue Energien zu sammeln oder um Zeit für sich, andere Familienangehörige, Freunde oder Hobbies zu haben.

Verfügbarkeit und Unterstützung durch informelle Helfer und professionelle Dienste: Es dürfte aufgrund der vorliegenden Untersuchungsergebnisse außer Frage stehen, daß sich das Ausmaß an erhaltener emotionaler und instrumenteller Unterstützung unmittelbar auf das Belastungserleben von pflegenden Angehörigen auswirkt (Gunzelmann, 1991; Wahl, 1991). Diesbezüglich stellt sich die Frage, inwieweit Angehörige von Demenzkranken tatsächlich von anderen Personen unterstützt werden. Gemäß den Angaben von Gräßel (1997) erhalten 81,8% Hilfe bei der Pflege, auf Mitarbeit im Haushalt können 27,1% zurückgreifen. Wie aus Tabelle 2 ersichtlich ist, werden die Unterstützungsleistungen sowohl von informellen Helfern als auch von professionellen Diensten und Einrichtungen erbracht. Auch die Untersuchung von Vetter, Steiner, Kraus, Kropp und Möller (1997) gibt Auskunft über die Nutzungshäufigkeit von Hilfen. Ihren Ergebnissen gemäß, die in etwa jenen entsprechen, die im Rahmen der Infratest-Erhebung ermittelt worden sind (Schneekloth et al., 1996), nehmen ca. 69% der Angehörigen von Demenzkranken keine, 18% eine und 14% mehrere Unterstützungsleistungen in Anspruch. Die auffälligen Unterschiede, die zwischen beiden Studien erzielt worden sind, dürften insbesondere darauf zurückzuführen sein, daß – wie Gräßel selbst ausführt (1997, S. 42) – ein Teil seiner Stichprobe über Sozialstationen rekrutiert worden ist: die entsprechenden Personen greifen in aller Regel auf die pflegerischen Leistungen professioneller Helfer zurück.

Tabelle 2: Unterstützung für Pflegepersonen dementiell Erkrankter (Gräßel, 1998)

Variable

In %

Hilfe bei der Pflege (% ja)

81,8

Falls ja:


- Von einem Familienmitglied

17,1

- Von einer Sozialstation

49,2

- Von einer anderen Person

8,9

- Von verschiedener Seite

24,8

Hilfe bei nicht-pflegerischen Aufgaben

27,1

Tagespflege (% ja)

7,2

Kurzzeitpflege (% ja)

22,6

% in Pflegetätigkeit geschult

36,1



Tabelle 3: Nutzungshäufigkeit und Gründe für Nichtinanspruchnahme von Hilfen (Vetter, Steiner, Kraus, Kropp & Möller, 1997)

Hilfsangebote

Anzahl der Nennungen

Angabe in % der Gesamtzahl

Inanspruchnahme von Hilfen zur Zeit

Keine

25

69,4

Eine

6

16,7

Mehrere

5

13,9


Gründe für Nichtinanspruchnahme zur Zeit

Unwissenheit

22

61,1

noch nicht nötig

12

33,3

zu teuer

1

2,8

Andere

1

2,8



Häufig wichtiger als die konkrete ist vielen Angehörigen jedoch die emotionale Unterstützung z.B. in Form von Gesprächen, Trost, Zuwendung und Anerkennung. Der Erhalt gerade dieser Unterstützungsform kann allerdings aus zwei Gründen erschwert werden, die ebenfalls schon weiter oben angeklungen sind: Auf der einen Seite ist der dementiell Erkrankte aufgrund seiner Symptomatik häufig nicht in der Lage, z.B. Gefühle wie Zuneigung und/oder Dankbarkeit für empfangene Hilfeleistungen zu zeigen. Andererseits haben Angehörige durch die erzwungene oder „freiwillige„ Reduzierung von sozialen Kontakten weniger Gelegenheit, emotionale Unterstützung von anderen Personen zu bekommen. Angehörige, die ein hohes Maß an emotionaler Unterstützung vermissen, dürften als besonders belastet bzw. in ihrem psychischen Wohlbefinden eingeschränkt gelten.

Zweifellos kann die Inanspruchnahme professioneller Dienste für pflegende Angehörige eine entlastende Funktion haben (Holz, 2000; Lawton, Brody & Saperstein, 1989). Dennoch ist eine insgesamt immer noch recht geringe Nutzung von Diensten und Einrichtungen – z.B. der Tages- und Kurzzeitpflege - beobachtbar, die durch folgende Gründe bedingt sein kann (vgl. auch Gottlieb, Kelloway & Fraboni, 1994; Matter & Späth, 1998; Naegele & Reichert, 1997; Vetter, Steiner, Kraus, Kropp & Möller, 1997, siehe auch Tabelle 3):

  • Stark ausgeprägter Autonomiewille („kann mir selbst helfen", „brauche ich nicht"),

  • Unkenntnis über externe Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten bzw. mangelnde Zeit, diese zu recherchieren,

  • Gefühl, selbst zu wissen, was für den Kranken gut ist,

  • Schwierigkeiten, die unterschiedlichen Hilfsquellen zu koordinieren,

  • Keine Notwendigkeit,

  • Schlechte Erfahrungen mit der Nutzung von Angeboten,

  • finanzielle Barrieren („zu teuer").

Zahlreiche weitere empirische Untersuchungsergebnisse - so auch die Daten der Berliner Altersstudie (Mayer & Wagner 1996) – lassen zudem schichtspezifische Unterschiede in der Weise erkennen, daß Angehörige der mittleren und oberen sozialen Schichten und/oder Einkommensklassen generell sehr viel häufiger auf ergänzende und unterstützende professionelle Dienste zurückgreifen (können) als Angehörige der unteren Sozial- und Einkommensschichten. Nicht zuletzt sind für die geringe Nutzung professioneller Dienste auch quantitative Versorgungslücken – z.B. in ländlichen Regionen und in bezug auf Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen - ausschlaggebend (Schneekloth et al., 1996).

Verwandtschaftliches Verhältnis zum dementiell Erkrankten: Zunehmend mehr Untersuchungen kommen zu dem Schluß, daß das verwandtschaftliche Verhältnis zum Kranken ebenfalls Art und Ausmaß des Belastungserlebens beeinflußt. So gelten pflegende Ehepartner im allgemeinen als stärker belastet als pflegende Kinder (Adler et al., 1996). Bruder (1998, S. 280) schreibt in diesem Zusammenhang:

„Zu den zentralen Unterschieden zählt weiterhin, daß pflegende Kinder, die in der Regel zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, noch die Perspektive eines längeren Lebensabschnittes ohne die gegenwärtigen pflegerischen Belastungen haben. Für pflegende Ehepaare bedeutet das Erleben des gebrechlichen Partners in der Regel auch die harte Konfrontation mit dem nahen Lebensende und dem Risiko eigener Pflegebedürftigkeit„.

Gleichzeitig ist anzunehmen, daß erwachsene Kinder - z.B. bedingt durch das Vorhandensein eines (Ehe-)partners und/oder eigener Kinder - über mehr Ressourcen für emotionale und instrumentelle Unterstützung verfügen. Noch einmal anders dürfte sich die Pflegesituation von Eltern gestalten, die ihre demenzkranken Kinder betreuen und versorgen. Diesbezügliche Erfahrungen liegen bislang allerdings noch kaum vor, da die Zahl der Betroffenen noch relativ klein ist.

Kindererziehung und Erwerbstätigkeit: Die Pflege eines dementiell Erkrankten kann - und dies erscheint unmittelbar plausibel - insbesondere für jene Angehörigen brisant werden, die gleichzeitig Kinder betreuen und versorgen müssen. Es handelt sich hier um die sogenannte „sandwich-generation", mit der bislang in aller Regel Frauen gemeint sind. Die Erfüllung von familiären, erzieherischen und pflegerischen Aufgaben ist oftmals nur unter größten physischen und psychischen Belastungen möglich.

Wie bereits angesprochen, kann sich eine besondere Belastungssituation für jene Angehörigen ergeben, die parallel zur Pflege und Betreuung des dementiell Erkrankten noch einer Berufstätigkeit nachgehen (müssen). Berufliche Anforderungen und Zwänge können mit privaten Pflegeverpflichtungen konfligieren, wobei die Auswirkungen sowohl im persönlichen (z.B. gesundheitliche Einschränkungen), privaten (z.B. reduzierte soziale Kontakte) wie auch im beruflichen Kontext liegen können (z.B. nachlassende Leistungsfähigkeit). Wie bereits weiter oben angedeutet, ist der häufig praktizierte „Ausweg" der vorzeitigen Berufsaufgabe keineswegs immer als empfehlenswerte „Lösung" anzusehen.

Weitere wichtige Voraussetzungen, die das Belastungserleben beeinflussen, sind (Adler et al., 1996; Bruder, 1994, 1998, Wahl; 1991):

  • die Art der emotionalen Beziehung zum Pflegebedürftigen,

  • das Vorhandensein von echter Wahlfreiheit bei der Übernahme bzw. Fortsetzung der Pflege,

  • das Vorhandensein von hilfreichen aktiven und passiven Bewältigungsstrategien auf Seiten der Pflegenden (aktiv: z.B. Beratung und Unterstützung suchen, passiv: Akzeptanz des Unveränderlichen),

  • das Vorhandensein von „filialen„ und „parentalen„ Kompetenzen„,

  • das Vorhandensein von entsprechenden, die Pflege unterstützenden Rahmenbedingungen (z.B. die Ausstattung von Wohnung und Wohnumfeld).

Das Wissen um die oben genannten Voraussetzungen bietet zweifellos Ansatzpunkte zur Unterstützung von Angehörigen Demenzkranker. Ob die entsprechenden Maßnahmen bislang Berücksichtigung gefunden haben, soll die im nächsten Kapitel beschriebene Auswahl von Angeboten, Diensten und Einrichtungen, die Hilfestellung für pflegende Angehörige bieten, zeigen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001

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