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Wolfgang Klug
Wohlfahrtsverbände als „freie" Unternehmer im Sozialstaat? - Soziale Einrichtungen zwischen marktwirtschaftlichen und sozialstaatlichen Erfordernissen


Einleitende Bemerkungen

„Die Wohlfahrtsverbände bündeln Engagement und Sachverstand in wirksamen Arbeits- und Organisationsformen. Aufgrund ihrer Leistungen für das Gemeinwesen sind sie in Politik und Gesellschaft als ein wichtiger Bestandteil des Sozialstaates anerkannt." [Fn.1: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hrsg.), 1992, S. 5.]

Mit diesem Programm stellt sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände (BAG) als Zusammenschluß der Freien Wohlfahrtsverbände vor. Bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von 751.000 in 68.500 Einrichtungen [Fn.2: Ebd., S. 21.] leuchtet der aus dieser Selbstdarstellung herausklingende Stolz durchaus ein. Doch die Wirklichkeit scheint einem anderen Bild zu gleichen: Der Wind bläst den Verbänden ins Gesicht, das Wohlfahrtsverbandsschiff schwankt im Sturm, läßt sich mal vom (Staats-)Wind um die eigene Achse, mal vom (Markt-)Sturm auf die Klippen zu treiben. An der Basis sind die Seeleute, die Mitarbeiter/innen, verunsichert. Derweil hat man den Eindruck, die Steuerleute versuchten es mit Beschwörungsformeln: Genug der Übertreibung - zurück zur Ausgangssituation.

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Die Situation

1. Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen

1.1 Steigende Zahl sozialer Problem

Soziale Arbeit in den neunziger Jahren findet in ihrem Feld steigende gesellschaftliche Disparitäten: Zu den ungelösten Zukunftsproblemen einer in der Krise steckenden Wirtschaft, dauernder Massenarbeitslosigkeit,

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steigenden Wohnungsproblemen, [Fn.3: Rund 1 Mio. Menschen in der BRD sind obdachlos, jedes Jahr werden 200.000 Wohnungen zuwenig gebaut, vgl. Die Zeit 10/1993, S. 15ff.; 2 Mio. Wohnungen fehlen, diagnostiziert Ulrich Pfeiffer, Wenn Wohnen zum Luxus wird, in: Die Zeit vom 4.11.1994, S. 4.] einer zunehmenden Verarmung immer breiterer Bevölkerungsschichten, [Fn.4: Vgl. z.B. R. Hauser/W. Hübinger (1992), S. 17ff.] kommt eine nicht einmal ansatzweise gelöste Migrationsproblematik [Fn.5: Die Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen (FAO) rechnet, daß ca. 1,6 Mrd. Menschen in „ökologisch kritischen" Zonen leben, aus denen sie früher oder später auswandern müssen, vgl. Segbers, in: Ch. Butterwegge/ S. Jäger (1993), S. 17.] hinzu.

Parallel zu der Verschärfung gesellschaftlicher Verwerfungen finden wir eine zunehmende Gewaltbereitschaft besonders junger Menschen. Auch wenn die Ursachen für diese Entwicklung nicht einfach in den genannten gesellschaftlichen Disparitäten zu suchen sind, so ist ein Zusammenhang zwischen sozialer Deklassierung und Gewaltbereitschaft dennoch unverkennbar. [Fn.6: Vgl. „Wenn nur die Straße bleibt..." Gewalttätigkeiten von Jugendlichen sind auch Reaktionen auf defizitäre Lebensbedingungen, in: Sozialmagazin, 16. Jg., 21/1991, S. 26ff.]

1.2 Demographische Situation

Als bedrohlich müssen die Aussichten betrachtet werden, die sich aus der demographischen Entwicklung ergeben. [Fn.7: Vgl. dazu ausführlich: M.R. Textor (1994), S. 58ff.]
Durch das Geburtendefizit in der Bundesrepublik reicht die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie nicht mehr aus, um die Elterngeneration zu ersetzen. Dies führt zu einem sich verstärkenden Ungleichgewicht zwischen der ernährenden und der zu ernährenden Generation. Bis zum Jahr 2030 wird der Anteil der über 60jährigen an der Gesamtbevölkerung voraussichtlich auf 34,9% steigen (1990: 20,4%). [Fn.8: Das statistische Bundesamt geht dabei von einem Geburtendefizit (seit 1990) von 14 Mio. und einer Nettozuwanderung von 4,8 Mio. aus (zitiert in Caritas-Korrespondenz, Freiburg 1993/Abschnitt 6.22).]
Die Folgen werden sein: Steigender Pflegebedarf bei

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gleichzeitig schrumpfendem Potential an Pflegekräften. [Fn.9: Eine vom Diözesan-Caritas-Verband der Erzdiözese München und Freising herausgegebene Studie belegt, daß im Großraum München der häusliche Pflegebedarf bis zum Jahr 2005 um 14% steigen wird, vgl. RNU-Unternehmensberatung (1995), S. 23, während allein in den nächsten zwei Jahren das Defizit an professionellen Pflegekräften auf 100.000 ansteigen wird, in: Gemeinnützigkeit + Management, 1. Jg., 5/1995, S. 1; R. Tichy (1990), S. 128 spricht von einem Rückgang um 2,5 Mio. Arbeitskräfte bis zum Jahr 2020.]
Gleichzeitig werden die Renten- und Pensionszahlungen wachsen, was einerseits die Kaufkraft der Rentnerhaushalte erhöht, andererseits ein nicht unerhebliches finanzielles Risiko für die Rentenkassen bedeutet. [Fn.10: Vgl. R. Hauser (1995), S. 11, prognostiziert, daß der Beitragssatz, der gegenwärtig bei 18,6% liegt, bei unveränderten Rahmendaten der gesetzlichen Rentenversicherung bis ins Jahr 2030 auf 27% steigen müßte, wenn ein Nettorentenniveau von 60% gehalten werden soll.]

1.3 Öffentliche Finanzprobleme

Sowohl die Zunahme sozialer Probleme als auch die sich verschärfende demographische Entwicklung finden in einer Zeit massiver, bisher ungeahnter finanzieller Probleme der öffentlichen Kassen statt.

Im Vordergrund der Sparpläne stehen die Sozialleistungen, [Fn.11: Im Verbund mit führenden Vertretern der Industrie (z.B. beklagt Siemens-Chef Pierer die Sozialleistungen als „schwindelerregend") und der Bundesbank, die den Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Form als nicht finanzierbar erachtet (beide zitiert in: U. Müller), halten maßgebliche Politiker „unvermeidliche Einsparungen im Sozialbereich für notwendig". (Otto Graf Lambsdorff in der Debatte vom 25.3.1993, in: Das Parlament, 15/1993,4).] insbesondere Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Die Spardebatte wird vornehmlich unter den Stichworten „Standort Deutschland", „Leistungsmißbrauch" und „Lohnabstandsgebot" geführt. Für die soziale Arbeit bedeuten Sparzwänge der öffentlichen Hand in einer Situation steigender Belastungen, daß Effektivität und Effizienz ihrer Leistungen massiv hinterfragt werden. Zuletzt haben wir diese Diskussion im Zusammenhang mit den Pflegesatzverhandlungen der Pflegeversicherung erlebt, als sich führende Politiker offen gegen Kostenberechnungen der Wohlfahrtsverbände gestellt haben.

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1.4 Sozialpolitische Neukonzeptionen

Insbesondere durch die politischen Veränderungen im Hinblick auf ein vereintes Europa gewinnen sozialpolitische Konzeptionen, die an einer „freien" Marktwirtschaft orientiert sind, an Boden. So folgert z.B. B. Kühn mit Blick auf die vier „Freiheiten" des Binnenmarktes (Waren, Kapital, Arbeit, Dienstleistungen):

„Sozialleistungen, die ihre Kosten wert sind, setzen sich auch ohne staatliche Interventionen auf dem Arbeitsmarkt durch" [Fn.12: B. Kühn (1991), S. 44.] , was nichts anderes heißt, als dem freien Markt die soziale Komponente zu überlassen.

Angesichts des nach wie vor beklagenswerten Zustandes der europäischen Sozialpolitik drohen für die deutschen Wohlfahrtsverbände auch aus den Begleitumständen der europäischen Einigung Probleme, denn:

„Ohne tragfähigen sozialpolitischen Boden wird auch in der Union der soziale Halt in den Mitgliedstaaten ins Rutschen kommen, und zwar mit der Konsequenz einer zunehmenden Ressourcen-Verschlechterung der Kommunen und Wohlfahrtsverbände." [Fn.13: B.-O. Kuper/U. Müller (1994), S. 149.]

2. Die Situation der Wohlfahrtsverbände

2.1 Die traditionelle Stellung der Wohlfahrtsverbände

Grundlegend für die Stellung der Wohlfahrtsverbände in der Bundesrepublik ist das in dem Art. 20 GG verankerte Sozialstaatsprinzip, das sich als Gewährleistungspflicht des Staates interpretieren läßt, „jedermann ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten" [Fn.14: H. Zacher (1977), S. 154.].
An der Erfüllung dieses Auftrages nehmen die Wohlfahrtsverbände teil, sie sind dazu in einer

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Vielzahl von Einzelgesetzen ausdrücklich ermächtigt, [Fn.15: So ist beispielsweise in § 17 Abs. 3 Sozialgesetzbuch I eine Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem freien (sprich: wohlfahrtsverbandlichen) Träger vorgesehen; vgl. dazu ausführlich W. Klug (1995), S. 35.] ja ihnen ist eine Vorrangstellung vor dem öffentlichen Träger gesichert. [Fn.16: Das Bundesverfassungsgericht hat am 18.7.1967 diese Vorrangstellung der Wohlfahrtsverbände für verfassungsgemäß erklärt (BVerfG 22, S. 180ff., vgl. bes. S. 200f.). Man spricht von einem „bedingten Vorrang": „Der bedingte Vorrang der freien Träger [...] geht von der Erkenntnis aus, daß sich freie Träger gegenüber öffentlichen Trägern in einer schwächeren Position befinden," so Hans Flierl (1993a), S. 75.]

Schließlich:

Schaubild 1:
„Bedrohungs"-Szenario der Wohlfahrtsverbände


Wohlfahrtsverbände legen Wert auf die Feststellung, daß sie sich sowohl vom staatlichen als auch von kommerziellen Trägern von sozialen Einrichtungen unterscheiden [Fn.17: Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hrsg.), S. 9.]

Dieses System hat bewirkt, daß über lange Jahre hinweg fast die gesamten sozialen Dienstleistungen von Wohlfahrtsverbänden, die sich untereinander und mit der öffentlichen Hand über Umfang, Form und Inhalt abspra-

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chen, organisiert und garantiert wurden. Man sollte aber bei aller Kritik, die berechtigterweise an den Wohlfahrtsverbänden geübt werden mag, nicht vergessen, daß dieses System über mehrere Jahrzehnte von einem breiten Konsens getragen war. Es hat zur Sicherheit, Stabilität und damit zum sozialen Frieden beigetragen. [Fn.18: Vgl. F. Loges (1993), S. 9.]

2.2 Die „neue" Situation

Auf Seiten der Leistungsempfänger sind gravierende Veränderungen eingetreten. Zunehmend wird Kritik an der Art und Weise der „Behandlung" sozialer Probleme durch die Wohlfahrtsverbände laut. Die Vorwürfe richten sich gegen die Anonymität sozialer Großorganisationen [Fn.19: Z.B. G. Müller-Werthmann (1984), S. 32f: „Die Wohlfahrt in der Bundesrepublik Deutschland ist zu einem bürokratischen Apparat verkommen, die Wohlfahrt verwaltet die Hilflosigkeit, staatlich finanziert und sanktioniert. Die Verbände halten sich den Status der gemeinnützigen Vereine, um nicht nur die Wohlfahrt, sondern auch ihr eigenes Wachstum zu pflegen. Es darf nicht vergessen werden, daß sich weder im Deutschen Roten Kreuz noch im Caritas-Verband die Betroffenen selbst organisieren. Sie werden organisiert und sozial verwaltet, sie bleiben im administrativ-bürokratischen Instanzen-Netz der Sozialstaats-Industrie hängen."] und gegen die Monopolisierung sozialer Dienstleistungen [Fn.20: Vgl. D. Tränhardt (in: Bauer/Dießenbacher) dazu: „Den Bürgern bleibt auf diese Weise nur, monopolistische Angebote der Wohlfahrtsverbände zu akzeptieren oder überhaupt auf solche Angebote zu verzichten." (S. 47).] sowie gegen die Definitionsmacht sozialer Probleme durch die Wohlfahrtsverbände. [Fn.21: So H.-D. Engelhardt (1991), S. 88.] Letzteren trauen insbesondere Sozialwissenschaftler die nötige Innovationsfähigkeit zur Lösung sozialer Probleme immer weniger zu. [Fn.22: Vgl. H. Niedrig (1994), S. 270.]

Derweil quält die Wohlfahrtsverbände die Sorge um die Finanzierbarkeit ihrer Leistungen: „Im Pflegezimmer wird nur noch das Mehrbettzimmer bezahlt", titelt die Main-Post vom 11.2.1994 und bezieht sich dabei auf einen derartigen Beschluß des Bezirks Schwaben. Von „finanziellen Verteilungskämpfen" ist die Rede und vom Vorschlag des Präsidenten des Verbandes der bayerischen Bezirke, Georg Simnacher, die Verbände

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sollten den Personalbestand einfrieren und auf „perfektionierte Heimausstattung" [Fn.23: Süddeutsche Zeitung vom 28.6.1993, S. 32.] verzichten.

Die Folgen der staatlichen Finanzknappheit schlagen immer mehr auf die Verbände durch. Diese spüren immer deutlicher die Gefahren finanzieller Abhängigkeit von öffentlichen Geldern. Möglicherweise durch die sich verschärfende Diskussion um die Finanzierbarkeit der Leistungen waren die Wohlfahrtsverbände in jüngster Zeit bereit, erhebliche Eingriffe des Gesetzgebers in die Gestaltung der Dienstleistungen hinzunehmen, wie sich in der wiederholten Veränderung des § 93 BSHG zeigt. [Fn.24: So regelt der neue § 93 (2) Satz 1 BSHG: „Der Träger der Sozialhilfe ist zur Übernahme von Aufwendungen für die Hilfe in einer Einrichtung nur verpflichtet, wenn mit dem Träger der Einrichtung [...] eine Vereinbarung über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung sowie über die dafür zu entrichtenden Entgelte besteht." (Hervorhebung vom Autor). Dazu bemerken M. Gottschalk/V. Jakobi (1993), S. 6: „daß die Sozialhilfeträger auf die Leistungsgestaltung wesentlichen Einfluß nehmen wollen".]

Nicht unerheblich sind die Probleme mit dem derzeitigen Finanzierungssystem: Die überkommene Mischfinanzierung [Fn.25: Vgl. H.-J. Brauns (1994), S. 161 ff.] der Wohlfahrtsverbände bringt neben einem hohen Verwaltungsaufwand ein hohes Maß an Inflexibilität mit sich. Riesige Verwaltungskapazitäten werden gebunden, um die Anforderungen der verschiedenen Kostenträger, deren Auflagen und Verwaltungsrichtlinien zu berücksichtigen. So akzeptieren die Verbände das „Besserstellungsverbot" des öffentlichen Dienstes genauso wie sie die jährlichen Haushaltsunsicherheiten hinnehmen und sich nach kameralistischen Haushaltsvorgaben richten. [Fn.26: „Das Haushaltsrecht - unter dessen bürokratische Regelungen die Verbände zu Unrecht gestellt werden - kennt keine Kosten, die jedem Betriebswirtschaftsstudenten in den ersten Semestern bereits geläufig sind: Planungs- und Entwicklungskosten, Vorfinanzierungskosten, Kosten, um 'im Markt zu bleiben', und vor besonderer Aktualität: Kosten der Personalgewinnung und -erhaltung.", so H. Oppl (1992), S. 156.]
Zu guter Letzt müssen sie sich noch anhören, daß der öffentliche Träger die Aufgabe genauso gut erfüllen könne, wenn der Wohlfahrtsverband dem Kostenträger eine Vollfinanzierung zumute. [Fn.27: In diesem Sinne O. Fichtner (1992), S. 35.]

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Zu den neuen Anforderungen für die Wohlfahrtsverbände gehört die Konkurrenz privater Leistungsanbieter. [Fn.28: Vgl. H. Oliva/H. Oppl/R. Schmid (1991), S. 166; mittlerweile werden beispielsweise die Mehrheit der ambulanten Dienste in Hamburg von kommerziellen Anbietern geleistet (vgl. A. Evers, in: Home Care, 2. Jg., 4/1994, S. 5).]
Zugrunde liegt dieser Entwicklung die Tatsache, daß soziale Dienstleistungen, wie andere Dienstleistungen auch, „Produkte" sind, die den Gesetzen des Marktes unterliegen. [Fn.29: Vgl. H. Oppl (1992), S. 153; vgl. auch W. Klug (1995), S. 40f.]
Mit einem „Klienten" als „Kunden" und einem Wohlfahrtsverband als „Dienstleister" mag sich so mancher Verband noch immer nur schwer anfreunden.

Das Pflegeversicherungsgesetz trägt dieser Entwicklung ausdrücklich Rechnung: Es stellt private Anbieter und Wohlfahrtsverbände in der Möglichkeit der Abrechnung gleich. Der Vorrang der Wohlfahrtsverbände ist damit vorbei. [Fn.30: Mittlerweile sitzen die privaten Anbieter bei den Pflegesatzverhandlungen auch am Verhandlungstisch; vgl. H. Flierl (1995), S. 9; neuerdings droht Bundesarbeitsminister Blüm den Wohlfahrtsverbänden mit dem Kartellamt, sollte es zu „Preisabsprachen" über Pflegeleistungen kommen (vgl. Häusliche Pflege, 4. Jg., 8/1995, S. 548).]

Hinzu kommen hausgemachte Probleme der Wohlfahrtsverbände, sich auf diese neue Lage einzustellen: Weder von den Organisationsstrukturen (meist eingetragene, von Ehrenamtlichen geführte, hierarchisch gegliederte Vereine) noch von den Denkhaltungen des Personals her scheinen viele Wohlfahrtsverbände den massiven Problemen gewachsen zu sein, die auf sie zukommen. [Fn.31: W. Seibel (1992), S. 95ff. beschreibt Fälle von Führungsversagen aus Mangel an Führungskompetenz der Manager.]

2.3 Vorläufiges Fazit

Ziehen wir das vorläufige Fazit, so kommen wir zu gegenläufigen Anforderungen an die Wohlfahrtsverbände, die man nur als „Handlungsklemme der freien Wohlfahrtspflege" [Fn.32: Vgl. H. Oppl (1992), S. 152.] bezeichnen kann:

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  1. Sie sehen sich als sogenannte „intermediäre Instanzen", als Versorgungsinstanz für die Segmente, in denen Markt und Staat versagen. Sie sind deshalb eng mit der öffentlichen Hand verbunden, mit der sie über Jahrzehnte eine innige Verbindung eingegangen sind. In dieser vielbeschworenen „Partnerschaft" war viel von gemeinsamer Verantwortung zwischen Wohlfahrtsverbänden und der öffentlichen Hand für eine bedarfsgerechte Versorgung die Rede. [Fn.33: So der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zu kritischen Äußerungen von Prof. Oppl. Beide Vorträge abgedruckt in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst 6/1993, S. 81-86.]
    Genau diese öffentliche Hand kündigt jetzt - aus Sicht der Verbände einseitig - den Konsens auf, indem sie die Preise für die Leistungen auf niedrigem Niveau budgetiert, private Anbieter mit den Verbänden gleichstellt [Fn.34: Jüngster Beleg ist der Änderungsvorschlag von Bundesminister Seehofer zum § 93. Im Referentenentwurf werden die privaten Anbieter mit den Wohlfahrtsverbänden gleichgestellt. In der Begründung (Stand 22.5.1995) heißt es dazu: „Bei der Schaffung von Einrichtungen wird in Absatz 1 die Subsidiarität der öffentlichen Hand auch gegenüber gewerblichen Trägern eingeführt." (BT-Drucksache 452/95, S. 30.] und die Klientel der Wohlfahrtsverbände zu bevorzugten Sparobjekten macht. Dies verschärft die Gangart der Verbände untereinander, denn damit werden die Verteilungskämpfe um öffentliche Gelder härter.

  2. Zum anderen sieht sich die freie Wohlfahrtspflege der Notwendigkeit ausgesetzt, wie ein freier Unternehmer handeln zu müssen. Das aber bedeutet, sich frei zu machen von allem, was den wirtschaftlichen Erfolg gefährdet. Struktur und Personalauswahl müssen dem wirtschaftlichen Handeln ebenso entsprechen wie das Werben um besonders zahlungskräftige Kunden. Rücksichtnahme auf leistungsschwache Gruppen kann sich ein Unternehmer nicht leisten. Letztendlich heißt unternehmerisches Handeln aber: Alle Anbieter, ob staatliche, verbandliche oder private, sind in gleicher Weise Konkurrenten, die es im marktwirtschaftlichen Sinne zu bekämpfen gilt. Das aber ist - zumindest für dieses Leistungssegment - das Ende des traditionellen Systems freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege.

So gesehen bedeutet die derzeitige Lage eine Quadratur des Kreises: Die Wohlfahrtsverbände sollen freie Unternehmer sein, ohne den sozialstaatlichen Gestaltungswillen aufzugeben, wirtschaftlich, ja gewinnorientiert,

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arbeiten, ohne die „schlechten Risiken" [Fn.35: F. Loges (1993), S. 8 befürchtet: „Soziale Einrichtungen und Dienste können nur noch markt- und wirtschaftsorientiert arbeiten und ziehen sich auf Dauer möglicherweise aus vielen sozialen Bereichen zurück. Wer nicht bezahlen kann, der erhält womöglich keine Hilfe mehr."] meiden zu wollen. Das alles mit einem staatlichen Partner, der sich zunehmend distanziert.

Schaubild 2:

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Wege aus der Handlungsklemme

3. Analyse des Bedarfs an sozialen Dienstleistungen

Aus der Sicht der Betroffenen stellt sich der Bedarf an Dienstleistungen im Wohlfahrtsbereich als ein höchst differenzierter und vielschichtiger Prozeß mit fließenden Übergängen von ambulanten und stationären, nachbarschaftlichen, finanziellen und rechtlichen Hilfsanforderungen dar. [Fn.36: Vgl. W. Gaiser/W. Schefold/H.-R. Vetter (1992), S. 14ff.]
Es

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ist für den Betroffenen nicht so wichtig, wer die entsprechende Dienstleistung vollbringt, es ist für ihn entscheidend, daß sie erbracht wird, und zwar in qualitativ und quantitativ ausreichendem Maße. [Fn.37: Vgl. R. Schmidt (1994), S. 149.]
Diese Aufgabe kann von der Bedarfsseite her betrachtet, je nach zu erbringender Leistung, von sehr verschiedenen Instanzen bewältigt werden:

  • Es gibt zum einen Dienstleistungen, die über den freien Markt angeboten werden können (man denke hier an den Bereich der Altenheime und Sozialstationen). [Fn.38: Vgl. F. Loges (1994), S. 59f.]
    Bei diesen Leistungen ist ein Wettbewerb unter vielen Anbietern mit dem Ziel der Befriedigung individueller Wünsche des Kunden und der Gestaltung der Preise wünschenswert.

  • In den Fällen, in denen das Allokationsvermögen des Marktes nicht ausreicht und eine reelle Chance besteht, daß politische Lösungen zu besseren Ergebnissen kommen als Marktlösungen, sind staatliche Eingriffe erforderlich. [Fn.39: So N. Berthold (1991), S. 147.]
    (Zumindest hat sich bislang noch kein Investor um die Obdachlosenfürsorge oder die Führung eines Asylbewerberwohnheimes bemüht.)

  • Und es gibt zum dritten Leistungen, in denen die Stärke in selbstorganisierten Netzen liegt, die von solidarisch operierenden Instanzen am effektivsten geleistet werden können. Dazu zählen z.B. Nachbarschaftshilfen und Selbsthilfegruppen, der Bereich also, in dem es auf partnerschaftliche Zuwendung ankommt. [Fn.40: Zum Gesamtzusammenhang vgl. F. Hegner (1990), S. 125ff.]

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Schaubild 3:

In diesen Versorgungsinstanzen findet die spezifische Dienstleistungsproduktion der Wohlfahrtsverbände statt, in den meisten Fällen in einer Organisation, die nicht in der Lage ist, flexibel auf die organisatorischen Bedürfnisse der einzelnen Segmente einzugehen.

4. Folgerungen für die Entwicklung der Freien Wohlfahrtspflege

Wenn die eben genannte Beobachtung stimmt, heißt das: Wenn ein Wohlfahrtsverband mit seinem heute vorhandenen breiten Leistungsspektrum überleben will, wird es künftig für ihn darauf ankommen, wie er die Ba-

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Schaubild 4:
„Balance" zwischen den Versorgungselementen

lance innerhalb seiner Organisation zwischen den drei Versorgungsinstanzen Markt, (Sozial-)Staat und Selbsthilfe halten kann. [Fn.41: B. Ristok (1995), S. 137f. grenzt von der Finanzierungsseite kommend die drei Bereiche ab: den Bereich des Idealvereins I (mit den Merkmalen Ehrenamt und Freiwilligkeit), den Bereich II des freien Marktes (Merkmale: Wettbewerb, Professionalität, Gewinnerzielung), Bereich III als Zuschußbetrieb (Professionalität ohne Gewinnmöglichkeiten).]
Eine genauere Betrachtung der einzelnen Segmente zeigt, daß dies unterschiedliche Anforderungen beinhaltet:

4.1 Versorgungsinstanz Markt

Ein Teil der Leistungen auf dem sozialen Sektor ist so organisiert, daß „mindestens zwei Anbieter oder Nachfrager auf dem Markt sich gegenseitig zu übertreffen suchen." [Fn.42: Loges(1994),S.59.]
Damit haben wir die klassische Situation eines marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. In diesem Bereich gilt für die

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Freien Wohlfahrtsverbände das Gesetz der Marktwirtschaft: „Auf dem Markt bestehen oder untergehen." [Fn.43: P. Eichhorn (1994), S. 100.]

Was heißt das konkret? Auf dem Markt werden soziale Dienstleistungen auf der Basis von Verträgen im direkten oder symbolischen Tausch von Leistung gegen Geld angeboten. Damit sind diese Leistungen nicht mehr nur Ausdruck einer möglicherweise altruistischen Haltung, sie haben den Charakter von kommerziellen Gütern angenommen. Die Güter werden angeboten, wenn und solange sie sich „rentieren". [Fn.44: H. Effinger, in: H. Effinger/D. Luthe (1993), S. 16.]
Diesen Gedanken gilt es in die Praxis umzusetzen.

Die Konsequenzen daraus sind einerseits, die organisatorischen Strukturen auf die Wettbewerbssituation einzustellen. Andererseits ist die „Kundensouveränität" in vollem Umfang zu akzeptieren. Der Kunde bestimmt Art, Umfang und Dauer der Leistung, nach seinen Wünschen hat sich der Anbieter zu richten. Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es:

  • Organisationsstrukturen, die dem Verband eine wirtschaftliche Betätigung ermöglichen (z.B. GmbH statt e.V.), [Fn.45: Auch hier kann die EU den Wohlfahrtsverbänden in ihrer derzeitigen Form zum Fallstrick werden: Sollte sich die Auffassung innerhalb der EU durchsetzen, die die Tätigkeit der Wohlfahrtsverbände als in weiten Teilen „gewinnorientiert" definiert, dürften die Tage gezählt sein, in denen Ideal-Vereine riesige Wirtschaftsbetriebe als gemeinnützige Organisationen betreiben dürfen. D. Freier (1992), S. 404, spricht sich demzufolge für „unternehmerisch" orientierte Strukturen aus.]

  • ein funktionsfähiges Controlling, [Fn.46: G. Herr (1992), S. 243: „Das Fehlen eines operativen Instrumentariums stellt die größte Gefahr für Non-profit-Organisationen dar; denn bei fehlenden Möglichkeiten zum Messen kurzfristiger Erfolge kann in Zeiten knapper werdender Ressourcen die Grundlage für das wirtschaftliche Überleben verlorengehen, bevor die Organisation die Gefahr überhaupt erkennt."]

  • ein effektives Marketing,

  • dauernde Anstrengungen der Organisationsentwicklung.

Neben diesen zentralen Aufgaben, die sich an die inneren Funktionen des Verbandes richten, wird sich die Überlebensfähigkeit der Wohlfahrtsver-

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bände im marktwirtschaftlichen Wettbewerb an zwei Fragen entscheiden: an der Frage der Finanzierbarkeit ihrer Leistungen und an deren Qualität.

Für die Qualität ihrer Dienstleistung ist, wegen des für sie charakteristischen uno-actu-Prinzips [Fn.47: Vgl. P. Herder-Dorneich (1992), S. 76, zu Grundstrukturen personenbezogener Dienstleistungen.] der Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsum, die Motivation für und Identifikation des Mitarbeiters mit seiner Arbeit und seinem Arbeitgeber entscheidend. Wenn es den Wohlfahrtsverbänden hier nicht gelingt, neue Wege der Mitarbeiterführung und -qualifizierung zu gehen, [Fn.48: Unter dem bezeichnenden Titel „Wenn man die Ideologie wegläßt, machen wir doch alle das gleiche..." haben die Autoren G. Frank/C. Reis/M. Wolf (1994) einen für die Wohlfahrtsverbände unerfreulichen Befund erhoben: Mit der Identifikation sogar der Leitungskräfte mit ihrem verbandlichen Arbeitgeber ist es nicht sehr weit her.] ist es um ihre Zukunft nicht gut bestellt. [Fn.49: Der Gesetzgeber hat hier sowohl im Krankenhausgesetz als auch im Pflegeversicherungsgesetz die Frage der Qualitätssicherung zu einer der zentralen Anforderungen gemacht und die Träger verpflichtet, Maßnahmen zur Qualitätssicherung zu ergreifen (§§ 137, 108, 111 SGB V; § 80 SGB XI).]

Was die Finanzierbarkeit betrifft, so liegt m.E. ein Teil der Zukunft darin, die Fesseln der Vergangenheit nun endgültig abzustreifen und sich auch bezüglich der Finanzierung der Leistungen auf die unternehmerische Freiheit einzulassen.

Modelle liegen seit längerer Zeit vor: Die bislang gängige Umwegfinanzierung - der Leistungserbringer rechnet mit den Solidarkassen ab - könnte umgewandelt werden in eine direkte Vertragsbeziehung zwischen dem Leistungserbringer und dem Konsumenten:

„Anstelle von Sachleistungen erhält der Leistungsberechtigte grundsätzlich das dafür nötige Geld. [...] Der Leistungsberechtigte kauft die sozialen Dienstleistungen und entscheidet dabei selbst über deren Maß sowie über den Anbieter. [... ]." [Fn.50: D. Freier (1989), S. 370.]

Die Aufgabe des Staates wäre in diesem Fall die Stärkung der individuellen Kaufkraft für die Menschen, deren eigenes Einkommen nicht ausreicht. Zudem muß er die Hilfebedürftigen bei der Wahrnehmung ihrer

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Rechte unterstützen. Der Vorteil der Regelung: Der Nutzer könnte selbst entscheiden, Preise aushandeln, aus einer Reihe von (auch privaten) Angeboten das für ihn passende auswählen. [Fn.51: H. Staiber/U. Kuhn (1992), S. 72.] „Für die Wohlfahrtsverbände", so D. Freier, „bietet das Modell lang erstrebte Vorteile: Sie werden befreit von lästigen Zuwendungsbedingungen, sie werden frei in der Gestaltung ihres sozialen Dienstleistungsangebots bzw. der Kosten und Entgelte". [Fn.52: D. Freier (1989), a.a.O., S. 371.]

4.2 Versorgungsinstanz Staat

Für existentielle Risiken, insbesondere der Menschen, die in der Marktwirtschaft keine Chance haben, hält der Sozialstaat ein Instrumentarium von Fürsorgemaßnahmen bereit, vornehmlich Recht und Geld. [Fn.53: H. Zacher (1968), S. 46; vgl. auch Chr. Sachße (1986), S. 534.]
Aufgaben, die der Staat nicht mit eigenen Einrichtungen erfüllen will, z.B. Beratungsdienste, kann er anderen Instanzen übertragen. Dabei könnte sich der Sozialstaat von der Idee leiten lassen, daß möglicherweise andere gesellschaftliche Gruppen besser als er geeignet sind, versteckte Nöte zu entdecken und innovativ mit diesen Nöten umgehen zu können. [Fn.54: H. Puschmann (1992), S. 41f.]

Allerdings muß das Verhältnis zwischen dem sozialstaatlichen Auftraggeber und dem wohlfahrtsverbandlichen Auftragnehmer für die Zukunft auf andere Füße gestellt werden. Auch hier bedarf es unternehmerischen Denkens und Handelns, allerdings von beiden Seiten: Von jemandem unternehmerisches Risiko zu erwarten, ohne ihm auch eine gesicherte und ausreichende Finanzierung zugestehen zu wollen, ist keinem Unternehmer gegenüber fair - auch nicht gegenüber einem Wohlfahrtsverband.

Erwägenswert erscheint mir auch hier der Vorschlag, Elemente des Wettbewerbs in das Verhältnis öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege einzuführen. So schlägt D. Freier vor, den § 55 BHO (Bundeshaushaltsordnung), der eine öffentliche Ausschreibung vor dem Abschluß öffentlicher

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Verträge über Lieferungen und Leistungen vorsieht, auch für soziale Leistungen anzuwenden. [Fn.55: D. Freier (1992), S. 406f. Bislang wird ohne Ausschreibung i.S. des § 23 BHO operiert.]

Das Ergebnis wäre ein Vertrag über Art und Umfang der Leistung sowie Bezahlung und Bezahlungszeiträume. Damit könnten die Verbände disponieren, sie wären den Zwängen der Haushaltsordnung nicht mehr unterworfen und der Sozialstaat hätte nach wie vor einen verläßlichen Auftragnehmer.

4.3 Versorgungsinstanz Selbsthilfe

Aus ihrer Geschichte [Fn.56: Z.B. K. Gabriel (1992), S. 252.] heraus sehen sich Wohlfahrtsverbände weder als staatliche Ausführungsgehilfen noch als gewinnorientierte Marktteilnehmer. Vielmehr beanspruchen sie für sich, aus einem solidarischen Geist zu agieren, dessen Motivation nicht Gewinnstreben, sondern soziale Gerechtigkeit ist. Insofern sind sie als „intermediäre" Instanzen neben der sozialstaatlichen Umverteilungspolitik ein Gegengewicht zu der ökonomischen Macht der „Reichen", die tendenziell bestrebt sind, die gesellschaftlichen Ressourcen unter sich zu verteilen. Dieser Sektor ist nicht mehr nur eine Versorgungsinstanz zwischen Markt und Staat, er ist in seiner solidarisch-appellativen Funktion auch eine notwendige Alternative zur staatlichen und marktförmigen Wohlfahrtsproduktion.

Angesichts eines anonym-hierarchischen Sozialsystems, angesichts auch einer bürokratisierten Sozialverwaltung [Fn.57: H.-M. Sass, in: Chr. Sachße/T. Engelhardt (1990), S. 81, dazu radikal: „Staatliche Bürokratien sind für die Organisation von Wohlfahrt auch schon deshalb ungeeignet, weil sie (a) nachweislich keine höhere Wohlfahrtsmanagementleistung erbringen als Personen oder Institutionen, die sich im Markt behaupten müssen, (b) nachweislich oft willkürliche Wohlfahrtsbegriffe, Wertbegriffe oder Doppelstandards anwenden und (c) daher eher der Wohlfahrt der Bürger und des Gemeinwesens im Wege stehen als sie befördern."] und unerfüllten Hoffnungen auf die Selbstheilungskräfte des Marktes liegt die Chance einer solchen neuen Sozialarbeit, und damit auch der Wohlfahrtsverbände, in einer Stärkung dieser solidarischen, kleinräumig-dezentralen Versorgung:

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„Überschaubare soziale Strukturen, kleine Netze müssen verstärkt bzw. neu geknüpft werden, weil sie für die Geborgenheit, den zwischenmenschlichen Zusammenhalt, Hilfe und Zuwendung von Mensch zu Mensch, für das Beheimatet-Sein des einzelnen in der Gesellschaft unerläßlich sind. Die primären sozialen Strukturen von Familie, Freundschaft und Nachbarschaft sind deshalb durch das Knüpfen sogenannter 'intermediärer' Netze wie Selbsthilfeinitiativen, 'volunteering'. Nachbarschafts- und 'Kiez'-Projekte zu ergänzen." [Fn.58: T.-G. Vetterlein (in: M. Wulf-Mathies), S. 145.]

Dieser so verstandene sozialstaatliche Auftrag gäbe den Wohlfahrtsverbänden die Chance, durch eine emanzipatorische Aktivierung von Selbstorganisation, Genossenschaften, Nachbarschaftsdienste, Bürgerbewegungen zur Aufhebung der Entmündigung in verschiedenen Lebensbereichen beizutragen.

In diesem Zusammenhang kann an eine alte sozialpolitische Initiative erinnert werden: an die „Sozialgemeinde" aus den späten fünfziger Jahren. [Fn.59: Die Idee stammt von Walter Auerbach (1957), wurde zwar von der SPD in ihr Programm aufgenommen (zuletzt beschlossen vom SPD-Bundesvorstand 1988), aber nie verwirklicht, vgl. ebd., S. 107f.]
Mit einer Neubelebung dieser, im Saarland bereits modellhaft erprobten Idee [Fn.60: Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung des Saarlandes, Politik für alte und kranke Menschen im Saarland - Wege zur Sozialgemeinde, Saarbrücken 1988.] könnten die Wohlfahrtsverbände das Gelände wieder gewinnen, das sie in den Jahren starker Expansion, Bürokratisierung und Professionalisierung an freie Initiativen verloren haben.

Aus einer Basisbewegung mitbürgerlicher Solidarität sind die Wohlfahrtsverbände entstanden. [Fn.61: Vgl. R. Peter (1989), S. 243.]
Zu einer Basisbewegung können die Wohlfahrtsverbände wieder werden, wenn sie sich öffnen für die vielfältigen Selbstorganisationsbestrebungen in den Städten und Gemeinden. [Fn.62: Eine solche Form der Sozialarbeit wurde in Essen entwickelt, vgl. dazu: Institut für stadtteilbezogene soziale Arbeit und Beratung (1989).]
Auf diese Weise könnten sie beispielhaft deutlich machen, daß sie eben doch mehr sind als irgendein auswechselbarer Leistungsanbieter, mehr im Sin-

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ne einer anderen Form des Engagements für das Gemeinwesen. In diesem Sinne wären sie denn auch „Anwalt" mit Mandat, ein Anwalt zumal, wenn es um die humane Gestaltung von Lebensräumen geht. Das allerdings, so ist zu vermuten, geht nicht ohne Konflikt mit dem öffentlichen „Partner" ab. Allerdings scheint dieser momentan geradezu auf diesen Konflikt zu warten.

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Ausblick

„In Zukunft wird vielleicht nicht mehr die Zahl registrierter katholischer Anstalten über Größe und Wirkkraft entscheiden, sondern das personale Element, das überhaupt und in den Anstalten im besonderen nach dem Geist der Liebe lebt." [Fn. 63: F. Klein, zit. in: W. Auerbach (1971), S. 156; vgl. auch: L. Lemke (1959).]

Der dies schrieb, hatte nicht etwa den Caritas-Verband der neunziger Jahre vor Augen, sondern den der fünfziger Jahre. Im Klartext: Für einen Freien Wohlfahrtsverband steht sein Selbstverständnis im Mittelpunkt. Wirtschaftliche Größe durch Teilnahme am marktwirtschaftlichen Prozeß kann ein Vehikel sein, um dieses Ideal zu erreichen. Es muß aber nicht unbedingt die wirtschaftliche Größe sein, die verbandliche Ziele erreichen hilft. Auch die Partizipation an Programmen des Staates führt nicht zwangsläufig zu dem, wozu Wohlfahrtsverbände einst angetreten sind.

Dies soll beileibe nicht heißen, vom Schritt in die Marktwirtschaft abzuraten oder sich aus sozialstaatlicher Verantwortung zu ziehen. Aber es soll an die Potentiale erinnert werden, die zu Selbstbewußtsein ermutigen: sich seiner eigenen Wurzeln, seines gesellschaftspolitischen und sozialstaatlichen Auftrags bewußt sein und für dessen Verwirklichung zu kämpfen.

Um im Bild der Einleitung zu sprechen: Mit entsprechender Motivation und Know-how ausgerüsteten Steuerleuten, mutigem und identifiziertem Personal, voll ausgeschöpften Ressourcen und einem Wissen um die eigene Heimat kann man die vorgeblich widrigen Winde nutzen, um mit diesen Winden in den Segeln zu dem Ziel zu kommen, das man von der Gründung an ansteuerte.

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