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TEILDOKUMENT:


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Peter Kirch
Der Wettbewerb der Krankenkassen aus der Sicht des Bundesverbandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen


In diesen Tagen rückt die Gesundheitspolitik wieder aus dem Wirtschaftsteil auf das Titelblatt der Zeitungen und in die Hauptnachrichten der elektronischen Medien vor. Alle politischen Parteien haben neue Programmpapiere zur Reform des Gesundheitswesens vorgelegt. Alle Akteure des Gesundheitswesens haben sich politisch positioniert. Das übliche Schmeichel- und Drohszenario vor einem Reformgesetz ist in vollem Gange. Eingeläutet hatte die neue Runde der Gesundheitsreform der Bundesgesundheitsminister, als die Unterschrift des Bundespräsidenten unter das Gesundheitsstrukturgesetz noch nicht getrocknet war. Dies ist schon verwunderlich angesichts der Tatsache, daß eine Reihe von strukturellen Veränderungen im Gesundheitswesen noch gar nicht in Kraft getreten sind. Ich darf daran erinnern, daß der parteiübergreifende Kompromiß von Lahnstein zwei Komponenten hatte:

  1. Die Vollbremsung der Ausgaben durch eine zeitlich befristete sektorale Budgetierung und eine partielle Absenkung von Vergütungen überteuerter Leistungen.

  2. Strukturelle Reformen in nahezu allen Versorgungsbereichen und bei der Organisation der Krankenkassen.

Es ist heute nicht der Tag, darüber zu streiten, ob die in Lahnstein und im darauffolgenden Gesetzgebungsverfahren von den Parlamentariern gewollten Vorgaben für wirkliche Strukturänderungen von allen Beteiligten in die Praxis umgesetzt worden sind. Viele Anzeichen sprechen dagegen. Aber es gilt doch festzuhalten, daß manches von dem, was die Akteure im Gesundheitswesen richtig in Schwung bringen soll, erst 1996 oder sogar später wirksam wird.

Dies gilt vor allem für die so heftig umstrittene Reform der Kassenorganisation. Ich will keine alten Wunden aufreißen, doch ich darf daran erinnern, daß diese Reform auf erbitterten Widerstand vieler Kassen, vieler

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Selbstverwalter und mancher Interessenorganisation gestoßen ist. Die meisten hatten es sich doch ganz bequem eingerichtet in der heilen Welt der Krankenkassen, und jetzt dies: Wahlfreiheit für alle Versicherten mit Kontrahierungszwang, intensivierter Wettbewerb zwischen den Krankenkassen sowie kassenartenübergreifender Risikostrukturausgleich und damit Solidarität über die Grenzen der Kassenarten hinweg. Das hat alle Akteure in erhebliche Unruhe versetzt. Es liegt mir fern, diese Unruhe noch zu schüren. Doch es ist offensichtlich, daß eine wettbewerbliche Orientierung der gesetzlichen Krankenversicherung sowohl Chancen als auch Risiken bietet.

Intensivierter Wettbewerb zwischen Kassen bedeutet in erster Linie verschärfte Konkurrenz um Versicherte. Die Politik darf also gewiß sein, daß sich die Unternehmenspolitik der Krankenkassen mehr als heute an den Präferenzen der Versicherten ausrichten werden. Eine andere Frage ist, ob diese Präferenzen gesundheitspolitisch sinnvoll sind. Kassenwahlentscheidungen werden wohl auch künftig in erster Linie durch Versicherte, weniger durch Patienten getroffen werden. Folglich konkurrieren die Kassen auch primär um Gesunde und deren Bedürfnisse und weniger um Kranke und deren Bedarf. Diese Unterscheidung erscheint mir von zentraler Bedeutung für die jetzige Ausgestaltung des Kassenwettbewerbs.

Wettbewerb bedeutet aus Sicht des Versicherten, daß er die Wahl zwischen verschiedenen Angeboten hat. Für den Versicherten hat das den unschätzbaren Vorteil, daß er unabhängig von sonstigen Erwägungen seine Zufriedenheit oder Unzufriedenheit durch eine Abstimmung mit den Füßen kundtun kann. Für die Kasse, die sich im Wettbewerb mit anderen befindet, bedeutet dies, daß sie generell und in jedem Einzelfall ihr Handeln auf die Kunden ausrichten muß und ihre Eigeninteressen hinten anstellen muß. Andernfalls nimmt sie in Kauf, künftig ohne Kunden und damit ohne Existenzberechtigung dazustehen. Welch heilsame Wirkung eine solche Gesetzmäßigkeit auf das Verhalten von sozialen Organisationen ausübt, haben wir in den letzten Jahren nicht nur in der Krankenversicherung spüren können. Ich befürchte. Versicherte würden noch häufig am Schalter abgefertigt, wenn nicht der Wettbewerb die Dienstleistungsqualität der Krankenkassen deutlich angehoben hätte.

Auch die meisten Innovationen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verdanken wir dem Wettbewerb - und dem Druck der Budgetie-

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rung. Das Hausarztmodell, vernetzte Praxen oder kombinierte Budgets sind nicht das Ergebnis eines einheitlichen und gemeinschaftlichen Handelns aller Kassenarten, sondern Vorstöße einzelner zur Belebung des Wettbewerbs. Wer das zweifelhafte Vergnügen hat, die politische Meinungsbildung innerhalb eines Subsystems der GKV und dann noch über die Grenzen der unterschiedlichen Subsysteme im Gesamtsystem mitzuerleben, der versteht leicht, warum die GKV bisher nicht als Hort der Innovation auszumachen ist. Gerade in der Innovationsfreudigkeit des Wettbewerbs liegen die besonderen Chancen, die sich auch gesundheitspolitisch nutzen lassen.

Prinzipiell birgt Wettbewerb aber eine Reihe von Risiken. Wettbewerb entfaltet sich entsolidarisierend und zerstörerisch. Es ist geradezu Ziel des Wettbewerbes, die eigenen Vorteile zu Lasten der Konkurrenz zu vergrößern. Diesen Gefahren ist auch der Wettbewerb zwischen Krankenkassen ausgesetzt, wenn der Gesetzgeber nicht die soziale Orientierung durch strikte gesetzliche Rahmenbedingungen erzwingt. Die Spitzenverbände der GKV selbst haben diese Gefahr gesehen. Sie haben eine „solidarische Wettbewerbsordnung" vorgeschlagen, die Fehlentwicklungen der GKV vermeiden soll. Von „solidarischem Wettbewerb" war im übrigen nicht die Rede. Ein solcher Begriff wäre ein Widerspruch an sich. Aber es ist selbstverständlich für eine soziale Marktwirtschaft, daß dem Wettbewerb ein rechtlicher Rahmen und eine politische Zielorientierung vorgegeben wird.

Diese Zielorientierung kann sich in der GKV nur aus der Sozial- und Gesundheitspolitik herleiten. Wettbewerb ist kein Wert an sich, sondern nur ein Instrumentarium, die Solidarziele der gesetzlichen Krankenversicherung möglichst effektiv und effizient zu erreichen. Folglich leiten sich aus diesen Solidarzielen auch Kriterien ab, wie der Wettbewerb auszugestalten ist. Rahmenbedingungen und Wettbewerbsparameter müssen so gewählt werden, daß der Wettbewerb keine Ansätze zur Risikoselektion unter den Versicherten und zur Verschiebung von Patientenproblemen gibt. Wettbewerb muß auf die Steigerung der Versorgungsqualität und auf die Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven in der gesundheitlichen Versorgung ausgerichtet sein. Wettbewerb muß die Bedürfnisse und den Bedarf ganz unterschiedlicher Zielgruppen unter den Versicherten sowie den Patientinnen und Patienten decken. Dabei darf es keine Anreize geben,

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daß Personen mit höheren sozialen und gesundheitlichen Belastungen finanziell stärker zur Kasse gebeten werden und/oder gesundheitlich schlechter versorgt werden. Die Mittelaufbringung nach dem Solidarprinzip und die Leistungsgewährung nach dem Bedarfsprinzip stehen auch in einem wettbewerblichen Krankenversicherungssystem nicht zur Disposition. Ganz im Gegenteil sollten die Auswirkungen einer wettbewerblichen Orientierung auf sozial und gesundheitlich Benachteiligte zum entscheidenden Kriterium für die Korrektur von rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen genutzt werden.

Wer glaubt, Wettbewerb sei per se schon eine Garantie für eine kostengünstigere gesetzliche Krankenversicherung, der irrt. Zum einen verursacht Wettbewerb selbst Kosten, so für Vertriebsmaßnahmen, Marketingprogramme, Werbung usw. Zum anderen tendiert ein wettbewerbliches System immer zu einer Ausweitung der Leistungen, um den Präferenzen der Versicherten genüge zu tun. Dies gilt besonders dann, wenn gesetzliche Rahmenbedingungen Anreize geben, sich primär um gute Versichertenrisiken zu kümmern und schlechte Risiken trotz Kontrahierungszwang mit einer ganzen Palette von Tricks abzuwehren. All dies kostet Geld - mehr Geld, als wir bisher für die Verwaltung unserer Krankenkassen aufwenden. Ein Blick auf die administrativen Kosten marktlich gesteuerter Gesundheitssysteme untermauert diese These eindrucksvoll.

Ich weiß, daß Politiker, Selbstverwalter und Kassenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in der schönen neuen Welt des Wettbewerbs gerade jetzt nicht gestört werden wollen. Ich halte Ihnen meine Eindrücke und Erfahrungen entgegen: Von einer konsistenten inneren und äußeren Logik der Wettbewerbsordnung in der gesetzlichen Krankenversicherung kann noch keine Rede sein. Solange die Krankenkassen mit dem betriebswirtschaftlichen Rechenschieber der Deckungsbeitragsrechnung nach positiven Risiken fahnden, über Strategien zur Abwehr oder zur Verschiebung ganzer gesellschaftlicher Gruppen brüten und die Ressourcen zunehmend auf diejenigen konzentrieren, die zum eigenen Wunschklientel gehören, kann von gesundheitspolitisch sinnvollem Wettbewerb keine Rede sein. Deshalb gehe ich nicht davon ab, eine Komplettierung der Wettbewerbsordnung zu fordern. Unerläßlich dazu ist es, den Risikostrukturausgleich um Elemente der Morbidität zu ergänzen. Dies müßte eigentlich für jeden Sozialpolitiker einleuchtend sein.

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In der gesetzlichen Rentenversicherung fließt die unterschiedliche Morbidität von Arbeitern und Angestellten, die sich in krassen Unterschieden bei den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitszeitpunkten darstellt, automatisch in den Ausgleich ein. Es wird doch wohl niemand bezweifeln, daß die Arbeiter in der Gießerei eines Unternehmens erheblich größeren Gesundheitsgefahren ausgesetzt sind als die technischen Angestellten im Konstruktionsbüro derselben Firma. Vom besonderen Morbiditätsrisiko von Sozialhilfeempfängern oder Langzeitarbeitslosen will ich gar nicht erst reden.

Den Einwand, griffige Morbiditätskriterien lägen noch nicht vor, respektiere ich. Zum einen kann aber das Ausgabenprofil durch die Einbeziehung aller Ausgaben der Kassen erweitert werden. Zum anderen kann der Einstieg in Morbiditätskriterien über eine Berücksichtigung der Härtefälle erfolgen. Rund zwei Drittel aller Befreiungsanträge werden heute von Versicherten der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) gestellt. Dies muß Konsequenzen für die Wettbewerbsordnung haben. Oder halten es diejenigen, die eine Verfeinerung des Risikostrukturausgleiches vehement ablehnen, für sinnvoller, daß die AOK für eine gerechte Verteilung sozialer Lasten durch aktive Risikoentmischung sorgen soll? Daß in anderen Kassen eine ungeheure Bereitschaft besteht, bestimmte Personengruppen aufzunehmen, soll sich ja bereits herumgesprochen haben.

Ich kann mich auch nicht damit zufrieden geben, daß notfalls bei den betroffenen AOKs das Türschild ausgewechselt wird. Ich glaube, da unterschätzen Politiker und Wissenschaftler die sozialpolitischen Wirkungen, wenn die AOK in bestimmten Teilen dieser Republik ihre Pforten schließt und Hunderttausende von Menschen gegen ihren Willen in andere Krankenkassen überführt werden. Die betroffenen Aufsichtsämter und Regierungsstellen werden ebenso wenig begeistert sein, wie die aufnahmebereite Konkurrenz. Das bereits angeschlagene Vertrauen in die Sozialpolitik wird dann einen schweren Schlag erleiden.

Im übrigen scheint mir der Staat selbst sein Verhältnis zur wettbewerblichen Krankenversicherung noch keinesfalls geklärt zu haben. Es häufen sich Berichte, daß Aufsichtsbehörden unverändert die Krankenkassen kleinlich am Gängelband halten und über einzelne Marketingaktionen, die Bezahlung des hauptamtlichen Vorstandes oder die innerbetriebliche Umorganisation mitreden wollen. Wer sich für ein wettbewerbliches System

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entscheidet, der sollte wissen, daß dann auch der Wettbewerb diese Dinge regelt. Für klassische Aufsichtsprüfungen ist kein Raum mehr. Umgekehrt halte ich es für skandalös, daß staatliche Stellen bei ihren Aufsichtsprüfungen die Krankenkassen zur gezielten Risikoselektion animieren und solche Aufforderungen auch noch publizieren. Bund und Ländern ist dringend anzuraten, die wettbewerbliche Orientierung nicht nur in Regierungsprogrammen zu beschwören und in Gesetzen zu fixieren, sondern ihr Verhältnis zur wettbewerblichen Krankenversicherung auch in ihren Verwaltungsorganisationen zu klären.

Zwischen Politik und Krankenkassen muß geklärt werden, auf welchen Feldern Kassenwettbewerb stattfinden soll. Die Rahmenbedingungen sind heute so ausgestaltet, daß Kassenwettbewerb im wesentlichen über den Preis, den Service und das Image einer Krankenkasse läuft. Der Leistungskatalog ist einheitlich; Spielräume für eine wettbewerbliche Differenzierung existieren nur im Bereich der Gesundheitsförderung und - in sehr begrenztem Umfang - bei der Rehabilitation. Schließlich bestehen sehr eingeschränkte Möglichkeiten, über Erprobungsregelungen und Modellprojekte wettbewerbliche Akzente zu setzen.

Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht der Beitragssatz einer Krankenkasse. Wir wissen zwar aus sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, daß fast alle Versicherten weder die Höhe des Beitragssatzes noch ihres konkreten Beitrages kennen. Doch ist angesichts der politischen Bedeutung der Wahlfreiheit damit zu rechnen, daß die Medien die unterschiedlichen Beitragssätze der Kassen sehr stark kommunizieren. Damit habe ich auch keine Probleme.

Probleme bereitet mir allerdings eine Tendenz, daß nicht nur die Versicherten über unterschiedliche Beitragssätze besser informiert werden, sondern andere Akteure auf die Kassenwahlentscheidung der Versicherten Einfluß nehmen wollen. Gerade in den letzten Tagen wird intensiv darüber diskutiert, ob Arbeitgeber, Rentenversicherungsträger, Bundesanstalt für Arbeit oder Sozialämter Empfehlungen über die Kassenwahl abgeben können und dürfen. Meine Antwort heißt: Nein. Das Gesetz sieht ein Kassenwahlrecht für Versicherte, nicht für Beitragszahler vor. Im übrigen liefe die eine Empfehlung, die jeweils beitragsgünstigste Krankenkasse zu wählen, bei großen Versichertengemeinschaften wie der gesetzlichen Ren-

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tenversicherung, ökonomisch leer. Versichertenrisiken und Leistungsausgaben bleiben nämlich von Kassenwechseln unberührt.

Aus Sicht der Versicherten ist nach unseren Erkenntnissen das Preis-/Lei-stungsverhältnis der jeweiligen Krankenkasse von ausschlaggebender Bedeutung für die Kassenwahlentscheidung. Viele Versicherte sind durchaus bereit, einen höheren Preis zu akzeptieren, wenn Leistungsgewährung und Service stimmen. Hierzu zählt auch eine Leistungsdarbietung, die auf die eigene Zielgruppe zugeschnitten ist. Der Versicherte will vom Image einer Krankenkasse positiv angesprochen sein und individuell von der Kommunikationsstrategie dieser Kasse erfaßt werden. Trotz gelegentlicher Angriffe, die nur in wenigen Einzelfällen auch wirklich berechtigt waren, hat es sich für die AOK mehr als bewährt, die Gesundheitsförderung in den Mittelpunkt ihrer Unternehmensphilosophie und ihrer Angebote zu stellen. Damit diese Angebote künftig weniger Anlaß zur Kritik bieten, werden wir die Präventionsmaßnahmen vereinheitlichen und einer strengen Qualitätssicherung unterziehen. Das „Bauchtanz-Beispiel" gehört dann hoffentlich der Vergangenheit an.

Wettbewerb unter diesen bestehenden Parametern kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung für Wettbewerb weitgehend unzugänglich sind. Niemand, der hier erweiterte Wettbewerbsfelder sieht, plädiert für eine Öffnung des Leistungskataloges. Vorstellungen der Koalition, den Leistungskatalog in gesetzliche Regelleistungen und satzungsgemäße Mehrleistungen zu splitten, stoßen ebenso auf unsere entschiedene Ablehnung. In Verbindung mit einem Leitbeitragssatz müßte dies zu einer Spaltung der Kassenlandschaft in Luxus- und ALDI-Kassen und letztlich zu einer Zwei-Klassen-Medizin führen. Dieser Trend würde noch verstärkt durch eine Ausklammerung der Satzungsleistungen aus dem Risikostrukturausgleich. Aufgrund statistischer Effekte würde sich das Ausgleichsvolumen bei rd. 20% Satzungsleistungen um rd. 50% reduzieren. Dies wäre für die AOK absolut unakzeptabel.

Als politisch realistischere Alternative schlagen die GKV-Spitzenverbände gemeinsam vor, daß die Versorgungspolitik künftig zum zentralen Wettbewerbsparameter der Krankenkassen wird. Dies bedeutet, daß die Krankenkassen weitreichende Möglichkeiten erhalten sollten, kassenspezifische Verträge mit allen Leistungserbringern zu schließen. Dinge von

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überragender gesundheitspolitischer Bedeutung, wie die Beschreibung von Versorgungsaufträgen und Leistungen oder die Definition von qualitativen und wirtschaftlichen Standards, müßten selbstverständlich einheitlich und gemeinsam auf beiden Seiten der Vertragspartner geregelt werden. Niemand in der gesetzlichen Krankenversicherung fordert die völlige Umgestaltung des Systems von heute und auf morgen, doch wir erwarten, daß die Politik uns wenigstens über Erprobungsregelungen und Modellklauseln die Chance zu einer gesundheitspolitisch sinnvollen Differenzierung einräumt.

Der Wettbewerb hat in der Binnenorganisation und im Umfeld der Krankenkassen bereits deutliche Spuren hinterlassen. Bei den AOKs hat eine Fusionswelle den Zusammenschluß von fast 300 autonomen Ortskrankenkassen zu heute noch 20, in der Regel landesweiten Großkassen gebracht. Einen Endpunkt dieses Fusionsprozesses sehe ich noch nicht, zumal unsere wichtigsten Konkurrenten bundesweit organisiert sind und eine Regionalisierung der Krankenversicherung derzeit wenig politische Realisierungschancen hat. Auch die Innungskrankenkassen (IKK) scheinen eine Fusion auf Landesebene anzustreben. Bei den Ersatzkassen stehen Zusammenschlüsse wohl erst bevor. Das System der Betriebskrankenkassen (BKK) mit seiner heterogenen Kassenlandschaft wird sich völlig neu positionieren müssen, zumal es mit gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle Kassen nicht vereinbar ist, daß sich BKKs und IKKs dem Wettbewerb öffnen können, aber nicht öffnen müssen. Hier besteht ebenso gesetzgeberischer Klärungsbedarf wie der Frage der künftigen Ausgestaltung der Selbstverwaltung in allen Kassenarten. Mit fakultativen Regelungen, die faktisch keine Änderung bedeuten, wird der Gesetzgeber sich nicht noch einmal aus der Affäre ziehen können. Schließlich bedarf es auch einer Entscheidung, welche Rolle künftig die Verbände der Krankenkassen spielen. Macht es Sinn, unterschiedliche Verbände und dies noch in unterschiedlicher Rechtsform für AOKs und Ersatzkassen zu haben? Brauchen wir vermehrt Arbeitsgemeinschaften zwischen den Krankenkassen, um gemeinsame Aufgaben zu bewältigen oder setzen wir hier auf eine stärkere wettbewerbliche Differenzierung? Können wir an einem Modell auf Spitzenverbandsebene festhalten, das Aufgaben getrennt nach Versorgungsbereichen federführenden Verbänden zuweist, oder brauchen wir den Hauptverband aller Kassenarten?

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Ich kann Ihnen hier noch kein überzeugendes Lösungskonzept bieten, zumal das Gelände zwischen den Kassenarten und wohl auch in der Politik mehr als vermint ist. Ich kann Ihnen nur die Fragen stellen, die Politik in den nächsten Monaten zu beantworten hat, wenn Sie sich mit dem Thema Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur oberflächlich auseinandersetzen will.

Die Politik und wohl auch wir Selbstverwalter werden Wettbewerb zudem in einen größeren politischen Zusammenhang stellen müssen. Dieser Zusammenhang erstreckt sich zum einen auf die Ausgestaltung des Verhältnisses von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Angesichts einer sinkenden Lohnquote und der Verschiebung gesellschaftlicher Lasten in die Sozialversicherung dürfte die Friedensgrenze zwischen den Systemen ebenso ein politisches Thema werden wie die Diskussion von typischen Finanzierungs- und Steuerungselementen der GKV im System der privaten Krankenversicherung und umgekehrt.

Schließlich sind die Auswirkungen des Wettbewerbs auf Leistungserbringung und Leistungserbringer politisch wie fachlich bisher wenig thematisiert worden. Dies gilt nicht nur für die Diskussion des Reizthemas „Einkaufsmodell", das von vielen in unmittelbarem Zusammenhang mit einer wettbewerblichen Orientierung der GKV gebracht wird. Diese Problematik stellt sich schon viel simpler, wenn künftig unterschiedliche Versorgungsformen und -modelle miteinander konkurrieren sollen, der gleiche Arzt aber beispielsweise in mehreren Modellen mitwirken will oder soll. Das umfassende Thema „Managed Care" als Konsequenz wettbewerblicher Gesundheitspolitik will ich erst gar nicht anschneiden.

Es ist also keine ideologische Verbohrtheit oder die kurzsichtige Positionierung als Vorstandsvorsitzender einer Kassenart, die mich das Fazit ziehen lassen:

Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen hat nur wenige Strukturprobleme des Gesundheitswesens gelöst und läßt viele Fragen offen. Er bietet die Chance, den Präferenzen der Versicherten besser als bisher gerecht zu werden und die Innovationsfähigkeit des GKV-Systems zu verbessern. Im Wettbewerb der Krankenkassen liegen unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen jedoch ganz erhebliche Gefahren, daß gesundheits- und sozialpolitische Ziele konterkariert und knappe Mittel ineffizient eingesetzt werden. Die wettbewerbliche Orientierung des GKV-

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Systems konzentriert sich bisher überwiegend auf die Krankenkassen. Das Umfeld der Krankenkassen ist bisher davon nicht geprägt. Mit dem Vorschlag der GKV, künftig Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung als zentrale Wettbewerbsparameter im GKV-System einzuführen, liegt ein konstruktiver Vorschlag zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens vor, der sich nun Politik und Leistungserbringer stellen müssen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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