FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 80 = Leerseite]

[Seite der Druckausgabe: 81]


Hanjo Schild
Stellungnahme:
Wege zur beruflichen Integration von benachteiligten Jugendlichen


Henrik von Bothmer hat in seinem Grundsatzreferat eine umfassende Darstellung zur Situation benachteiligter Jugendlicher gegeben. Ich möchte in meiner Stellungnahme daher weitgehend darauf verzichten, das zu wiederholen, was er bereits ausgeführt hat. Ich möchte aus meiner Sicht jedoch zwei seiner Themenkomplexe aufgreifen:

  • den Komplex öffentlich geförderter Beschäftigungssektor

    und

  • den Komplex Wege zum Nachholen von Berufsabschlüssen bzw. Ausgestaltung eines „Benachteiligtenprogramms" für Erwachsene.

Zunächst möchte ich jedoch eine kurze Begründung abgeben, warum ich mich in meinem Beitrag auf eine Teilgruppe benachteiligter Jugendlicher, nämlich die der unqualifizierten, für eine Erstausbildung nicht mehr in Frage kommenden jungen Menschen zwischen 20 und 27 Jahren beschränke.

Das hat zum einen natürlich damit zu tun, daß ich als Projektleiter des von BBJ entwickelten und umgesetzten Programms 501 gerade mit dieser Zielgruppe zu tun habe. Das hat andererseits aber auch damit zu tun, daß ich nicht nur auf der berufsbildungspolitischen Seite für diese Zielgruppe den größten Handlungsbedarf sehe, und diese Tagung beschäftigt sich ja vor allem mit dem Modernisierungsbedarf der beruflichen Bildung.

Für die jüngeren sozial benachteiligten Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren gibt es - mein Vorredner hat es erwähnt - eine entwickelte und weitgehend differenzierte Angebotspalette im berufsvorbereitenden und berufsausbildenden Bereich. Das ist bei den Angeboten für die von mir angesprochene Zielgruppe nicht so! Wenn ich hier von Handlungsbedarf spreche, so meine ich das zunächst rein quantitativ: Rechnet man die 14% eines Altersjahrgangs zusammen, die regelmäßig ohne Berufsab-

[Seite der Druckausgabe: 82]

Schluß bleiben, so ergibt sich bei der Altersgruppe der 20- bis 29jährigen eine Gesamtzahl von 1,6 Millionen Personen, von denen ein erheblicher Teil arbeitslos ist bzw. ein stark erhöhtes Arbeitsplatzrisiko trägt und von denen ein erheblicher Teil (das BIBB spricht von jedem zweiten) an einem nachträglichen Erwerb des Berufsabschlusses interessiert wäre.

Über die eher qualitative Seite, die stetig sinkende Angebotsseite von Anlerntätigkeiten und das erhöhte Arbeitsplatzrisiko von Ungelernten möchte ich nicht weiter sprechen, ebenso wenig über den steigenden Bedarf der Wirtschaft an Fachkräften.

Ich möchte vielmehr darauf zu sprechen kommen, wie die Chancen benachteiligter junger Erwachsener nach den uns vorliegenden Erfahrungen verbessert werden können und damit ein Stück Praxis in die Diskussion einbringen. Ich möchte von unseren Erfahrungen im Umgang mit den genannten Zielgruppen sprechen.

Wenn ich von „unseren Erfahrungen" spreche, meine ich die Erfahrungen

  • des freien Trägers BBJ, der das Programm 501 umsetzt (aber natürlich auch die der anderen Träger, die in dem Bereich der Jugendsozialarbeit arbeiten, wie z.B. die in der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit (BAG JAW) zusammengeschlossenen Trägergruppen), und ich meine

  • die beiden inhaltlichen Themenschwerpunkte, mit denen sich das Programm 501 befaßt: das Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekt und der daran angebundene Modellversuch „Differenzierte Wege zum Nachholen von Berufsabschlüssen."

Das Programm 501 ist ein Berliner Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekt für z.Zt. 850 langzeitarbeitslose, un- bzw. minder- oder fehlqualifizierte junge Menschen. Es läuft seit dem 1.4.1988 und wurde ab dem 1.9.1991 auch auf Ostberlin ausgeweitet. Finanziert wird es durch die Senatsverwaltung für Soziales, Berlin, den Europäischen Sozialfonds und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Die Programmteilnehmer/innen haben die Möglichkeit, bis zu drei Jahre lohnkostengefördert auf einem Arbeitsplatz ihrer Wahl in Klein- und mittleren Unternehmen (KMU) zu arbeiten. Diesen Arbeitsplatz suchen sich die Programmteilnehmer/innen in der Regel selbst. Es muß sich dabei

[Seite der Druckausgabe: 83]

um qualifizierende Arbeitsplätze auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt handeln. Eine Einschränkung auf bestimmte Branchen gibt es nicht. In der Regel werden Teilzeitarbeitsverhältnisse (75% der Regelarbeitszeit) in Klein- und Mittelbetrieben mit tarif-, branchen- oder ortsüblichem Entgelt gefördert. Die Arbeitgeber erhalten im ersten Jahr 100%, im zweiten 75% und im dritten Jahr 50% der Lohnkosten erstattet.

Integraler Bestandteil des Programms ist die betriebliche und die außerbetriebliche Qualifizierung. Teil der Fördervereinbarung ist, daß den Programmteilnehmer/innen insgesamt 20% der regulären Arbeitszeit zur Verfügung stehen, um an externen Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen zu können. Dabei handelt es sich im Durchschnitt um sechs Stunden pro Woche. Die Erfahrungen mit der Umsetzung des Programms waren derart positiv, daß sich der Berliner Senat entschloß, das Projekt nach fünfjähriger Modellphase zum arbeitsmarktpolitischen Regelangebot zu machen.

Andere Projekte in diversen Kommunen und Ländern sind in den letzten Jahren vereinzelt gefolgt. Bisher konnten in der bis zu dreijährigen Förderzeit - bis auf wenige Ausnahmen - keine anerkannten Berufsabschlüsse erworben werden, was aus berufsbildungspolitischer Sicht stets bemängelt wurde.

Hier setzt nun der Modellversuch „Differenzierte Wege zum Nachholen von Berufsabschlüssen" an, der seit 1.1.1995 im Rahmen des Programms 501 läuft. Der Modellversuch wird von Seiten des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie und der Senatsverwaltung für Soziales gefördert und durch das Bundesinstitut für Berufsbildung fachlich begleitet. Er ist einer von insgesamt vier z.Zt. laufenden Modellprojekten, die Wege der Nachqualifizierung erproben. Er wird exemplarisch im Berufsfeld „Bürowirtschaft" mit ca. 36 Teilnehmer/innen des Programms 501 durchgeführt.

Am Ende soll der Erwerb eines Berufsabschlusses im Rahmen der gesetzlichen Regelung der Externenprüfung (§ 40.2 Berufsbildungsgesetz) stehen. Letztlich wird von dem Modellversuch erwartet, Antworten zu liefern auf die Frage, wie erwachsenengerechte Wege zum nachträglichen Erwerb von Berufsabschlüssen gegangen werden können.

[Seite der Druckausgabe: 84]

Der Modellversuch hat fünf Entwicklungsschwerpunkte:

  • Individuelle Qualifizierungsplanung, in der anrechenbare schulische und berufliche Vorerfahrungen berücksichtigt werden;

  • Entwicklung und Erprobung eines erwachsenengerechten, modular gestalteten Qualifizierungskonzepts im Bausteinsystem, welches sich an den Vorgaben des Ausbildungsrahmenplans und bestehender Berufsbilder orientiert;
    Die Qualifizierungsinhalte werden in Modulen (Qualifizierungsbündeln) und Qualifizierungsbausteinen (Lerneinheiten) vermittelt;

  • Vernetzung der Lernorte Betrieb und Bildungsträger durch den Aufbau von Lernortkooperationen (mit Partnerbetrieben über zusätzliche Praktika) und Angebote zur Qualifizierung der Anleiter;

  • Entwicklung von zielgruppenspezifischen Ausbildungsmedien und Handreichungen für die Betriebe zur Unterstützung des selbstorganisierten Lernens bzw. der innerbetrieblichen Qualifizierung;

  • Entwicklung eines Qualifizierungspasses für den detaillierten Nachweis aller erworbenen theoretischen und praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten.

Ich möchte unsere Erfahrungen aus der Umsetzung des Programms 501, aber auch des Modellversuchs abschließend in 10 Punkten zusammenfassen: Dabei versteht sich von selbst, daß diese Punkte aus dem Blickwinkel herausgestellt werden: Wie muß ein Angebot für sozial benachteiligte junge Menschen gestrickt sein, um erfolgreich zu wirken. Einen Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich jedoch nicht erheben.

Erfahrungen/Empfehlungen in 10 Punkten

  1. Die Teilnehmer müssen freiwillig an dem Projekt teilnehmen und es muß eine kontinuierliche Einbeziehung der Zielgruppen, also der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in allen sie betreffenden Fragen geben. Das heißt, sie werden vom (Bildungs-)Objekt zum Subjekt.

[Seite der Druckausgabe: 85]

  1. Für jeden Teilnehmer muß ein individueller Entwicklungsplan aufgestellt werden, der die mitgebrachten Voraussetzungen und Erfahrungen sowie die Ziele, die Wege und die Methoden festhält.

  2. Es muß eine entwicklungsbegleitende Beratung erfolgen in Fragen des Beschäftigungs- und Qualifizierungsprozesses, aber auch in Problemlagen sozialer und persönlicher Art. Darüber hinaus sind gezielte gruppenpädagogische Angebote zu unterbreiten, die die Vereinzelung aufheben.

    Die nächsten drei Punkte befassen sich ausschließlich mit dem Aspekt der Qualifizierung:

  3. Es muß eine organisatorische und curriculare Verknüpfung von Qualifizierung im Arbeitsprozeß und Lernen in Kursen erfolgen, das heißt, es gibt eine Lernortvernetzung, wobei der Lernort Betrieb die zentrale Schaltstelle ist. Von großer Bedeutung ist, daß die Zielgruppen selbst die Lernintensität und das Lerntempo bestimmen, und dies jeweils individuell. Dies bedingt eine Organisierung der Qualifizierung im Bausteinprinzip.
    Inhaltlich müssen die drei zentralen Themen der Berufspädagogik vermittelt werden:

    • Fachkompetenzen (Fertigkeiten und Kenntnisse),

    • Methodenkompetenzen (Planen, Durchführen, Kontrollieren; auch Transferfähigkeiten);

    • Schlüssel- bzw. extrafunktionale Qualifikationen.

  4. Es müssen geeignete Lehr- und Lernmittel erstellt werden, auch geeignete Medien, die insbesondere zum Selbstlernen anregen und zum zweiten den Lernort Betrieb als Lernort tatsächlich nutzbar machen. Das heißt auch, daß die Betriebe befähigt werden müssen, ihren Aufgaben gerecht zu werden.

  5. Es ist notwendig, daß die Module und Bausteine zertifiziert und offiziell anerkannt werden; diese Zertifikate müssen gebündelt werden in einem Qualifizierungspaß bzw. -buch, das Entwicklungsschritte dokumentiert.

[Seite der Druckausgabe: 86]

  1. Es ist notwendig, daß die Teilnehmer im Rahmen des Programms soweit materiell abgesichert sind, daß eine Alternative zur Alimentierung gesichert ist.

  2. Es sind geeignete Betriebe für die Teilnahme zu gewinnen, die qualifizierte, qualifizierende und zukunftsträchtige Arbeitsplätze anbieten.

  3. Die Arbeitsplätze und -verträge müssen an „regulären" Verhältnissen orientiert sein. Die Arbeitsplätze müssen zunächst zusätzlich sein (um Mitnahmeeffekte zu vermeiden), sollen mit der Zeit jedoch rentabel gestaltet werden. Arbeitsplatzwechsel sind unbedingt vorzusehen.

  4. Die Umsetzung sollte im Sinne des Subsidiaritätsprinzips aus der öffentlichen Verwaltung ausgelagert werden und freien Trägern überlassen werden, die Regie- oder Koordinationsstellen einrichten. Dabei ist diesen Trägern größtmögliche Flexibilität zu gewährleisten.

Was ist als Fazit aus meinen Ausführungen zu ziehen?

Öffentlich geförderte Beschäftigung, insbesondere in KMU, wirkt arbeitsplatzschaffend und kann sowohl als Instrument der Personalentwicklung/-rekrutierung als auch als Integrationsinstrument für bestimmte Zielgruppen eingesetzt werden. Dabei steht einer Übertragung der Erfahrungen des Programms 501 nichts im Wege - zumindest da, wo der politische Wille vorhanden ist. Allerdings wäre es mehr als hilfreich, wenn das Instrumentarium nicht allein - wie im Berliner Beispiel - aus Landes- oder kommunalen Mitteln bestritten werden müßte (sondern die Bundesanstalt für Arbeit beteiligt werden würde). Sinnvoll wäre z.B. tatsächlich eine Art Benachteiligtenprogramm für Erwachsene im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes.

Das leitet über zum Thema „Nachqualifizierung": Die Kopplung von Erwerbstätigkeit und Qualifikation muß im Rahmen gesetzlicher Regelungen neu organisiert werden und darf nicht dem Prinzip „Zufall" überlassen bleiben; die Erkenntnisse und Erfahrungen der Modellversuche können hierbei genutzt werden. Auch wenn das Ziel immer der nachträgliche Erwerb des Berufsabschlusses bleibt, muß der Zugang zur abschlußbezogenen Qualifizierung individuell, flexibel und offen organisiert werden.

[Seite der Druckausgabe: 87]

Abschließend möchte ich noch ein Wort sagen zu all denen, die den Zugang zu den angebotenen Projekten erst gar nicht finden oder nicht die Ausdauer mitbringen, dort dauerhaft zu bleiben. Es wurde bereits von der Dominanz der bürgerlichen (Arbeits-)Moral gesprochen, mit der „unsere" Zielgruppen häufig überhaupt nichts anfangen können (aus welchen Gründen auch immer). Gerade für diese jungen Menschen sind die Zielsetzungen, wie sie heute hier formuliert wurden, unerreichbar oder werden erst gar nicht angestrebt. Ich glaube, wir müssen lernen, das zu akzeptieren. Am besten gelingt dies, wenn wir diesen Jugendlichen eine Palette an Möglichkeiten anbieten, über die sie sich integrieren können und dabei den Prozeß selbst gestalten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

Previous Page TOC Next Page