FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 48 = Leerseite ]
[Seite der Druckausg.: 49 ]


Ulrike Kretzschmar
Ideen für eine integrative Stadtpolitik 2


„Es sind 15 Jahre vergangen, seit ich in Deutschland ankam... Heute bin ich ein Bonner geworden, bald habe ich die Hälfte meines Lebens in Bonn verbracht... Ich bin Vater von zwei Kindern, die in Bonn geboren sind. Mein ältester Sohn ist neun Jahre alt. Eines Tages fragte er mich: Vater, wer sind wir? Sind wir Türken, Kurden oder Deutsche? Ich konnte ihm nicht antworten, fragte ihn zurück: Als was fühlst du dich? Auch er konnte nicht antworten... Obwohl er hier geboren ist, ist er immer noch fremd. Inzwischen leben drei Generationen meiner Familie in Deutschland. Als Fremde, auch unsere Kinder sind Fremde unter Fremden. Vor kurzem wurde mein Vater pensioniert. Er wird den Rest seines Lebens als Rentner in Bonn verbringen. Für ihn gibt es keine Heimat mehr."

Soweit ein Auszug aus einem Tagebuch eines Bonners ohne deutschen Paß. Integration? - In diesem Fall ist sie wohl eine Idee geblieben.

In Nordrhein-Westfalen leben zur Zeit etwa 2 Millionen Menschen mit einer anderen als der deutschen Staatsangehörigkeit. Seit 1989 - weiter gehe ich gar nicht zurück - sind mehr als 400.000 Aussiedlerinnen und Aussiedler in dieses Bundesland gekommen.

In Bonn leben derzeit etwa 309.000 Menschen, davon - Diplomaten nicht eingerechnet - 38.300 Ausländerinnen und Ausländer aus über 160 Staaten. Das ist ein Anteil von etwa 12,4%. Rund 8.000 Aussiedlerinnen und Aussiedler sind seit 1989 nach Bonn gezogen. Die Arbeitslosenquote in Bonn insgesamt liegt knapp unter 8%, die der ausländischen Einwohnerinnen und Einwohner ist mit annähernd 17% mehr als doppelt so hoch. Der ausländische Anteil an der Gesamtzahl der Sozialhilfeberechtigten beträgt derzeit etwa 37%.

Städte, Gemeinden und Kreise haben in heute kaum noch vorstellbarer Leistung in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg millionenfach erfolgreich integriert. Zwischen 1945 und 1950 haben mehr als 12 Millionen Menschen im Westen Deutschlands einen neuen Lebensmittelpunkt gefunden. Zwischen 1960 und 1974 stieg die Zahl der ausländischen Wohn-

[Seite der Druckausg.: 50 ]

bevölkerung um gut 3,5 Millionen Menschen. Die Zuwanderung vollzog sich in einem wirtschaftlichen Klima, bei dem Wachstum und zunehmende Prosperität eine wirksame Eingliederung begünstigten.

Heute aber stehen die Kommunen vor einer anderen Situation. Ihre Kassen sind bekanntermaßen leer. Ständig werden neue Kostenlasten auf die Kommunen abgewälzt. Die Belastungen der Arbeitslosigkeit werden zunehmend in die Sozialhilfe verlagert. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, Mittel für den Fonds Deutsche Einheit, unzureichende Erstattung für die Versorgung Asylsuchender und sonstiger Flüchtlinge ... usw. usw. Die Kommunen sind längst an dem Punkt angelangt, an dem fast nichts mehr geht. Die Kommunen laufen Gefahr, ihre ureigensten Aufgaben nicht mehr oder nur unzureichend erfüllen zu können. Integration gehört zu diesen gefährdeten Aufgaben.

Aber jammern ist garantiert kein tauglicher Weg aus der Misere.

Die unmittelbare Verantwortung für die Gestaltung der Lebensverhältnisse von Zuwanderern und Einheimischen wird auf der kommunalen Ebene getragen. Und dieser Verantwortung können sich die Kommunen - fehlende Mittel hin, knappe Ressourcen her - nicht entziehen. Wenn aus Vorurteilen Rassismus, aus Mißtrauen Fremdenfeindlichkeit wird, so passiert das nicht irgendwo, sondern in den Kommunen. Die Scherbenhaufen entstehen nicht an den fernen Schreibtischen, sondern vor Ort. Da ist und bleibt es ureigenstes Interesse der Kommunen, auf ein friedliches und auf gegenseitigem Respekt basierendes Zusammenleben von Einheimischen und Zugewanderten hinzuwirken.

Das sind zunächst einmal Worte, aber auf der Grundlage dieses Verständnisses hat sich in den vergangenen 20 Jahren in Bonn ein umfassendes Netz von Einrichtungen, Angeboten und Trägern entwickelt.

Vielleicht ist die Stadt Bonn kein ganz typisches Beispiel, weil durch die besondere Situation der Bundeshauptstadt vieles anders, manches gewiß leichter war, doch vielleicht ist sie aufgrund dieser besonderen Erfahrungen im Umgang mit Ausländerinnen und Ausländern verschiedenster Herkunft ein besonders gutes Beispiel.

Ehe ich Ihnen einige Projekte beschreibe, die meines Erachtens gute Schritte in die richtige Richtung sind, möchte ich ein paar grundsätzliche Bemerkungen vorausschicken, die auf meiner jahrelangen sozusagen hautnahen

[Seite der Druckausg.: 51 ]

Erfahrung im sozialen Bereich verschiedener Kommunen - und dabei immer auch in der Ausländerarbeit - beruhen:

Es sind nicht die großen Konzepte, die auf dem Papier so gut aussehen; wichtig sind die kleinen Schritte und die vielfältigen Schritte. Wir müssen kleinräumig denken, stadtteilbezogen, manchmal auf einen einzigen Straßenzug konzentriert. Dabei liegt es in der Natur der Sache, daß es sich immer nur um Angebote, Anregungen und Hilfestellungen handeln kann. Integration ist ein lang andauernder Prozeß, der oft über Generationen geht. Das Bewußtsein für die Probleme oder die Sichtweisen des jeweils anderen müssen wachsen und können nicht verordnet werden. Und noch etwas habe ich gelernt: Kinder sind ganz besonders talentierte Akteure im Bemühen um Integration. Die Chance, daß die Kinder untereinander und mit ihnen und durch sie die Erwachsenen zu einem Zusammenleben mit mehr Verständnis füreinander und mit mehr Selbstverständnis gegenüber ihrer Verschiedenheit kommen, ist meines Erachtens ein kostbares Gut. Nicht von ungefähr sind daher die acht Beispiele, die ich Ihnen jetzt vorstellen möchte - überwiegend aus dem Kinder- und Jugendbereich.

1. Interkultureller Kindergarten

Voraussichtlich schon Ende dieses Jahres wird es in Bonn einen interkulturellen Kindergarten geben. Es ist ein städtischer Kindergarten, der nach einem Konzept und in Zusammenarbeit mit der Interessengemeinschaft der mit Ausländern verheirateten Frauen (IAF) betrieben werden soll. Hier geht es um weit mehr als um das Bilderbuch, in dem auch ein ausländisches Kind zu erkennen ist. Es soll der Respekt vor dem Anderssein und das Akzeptieren anderer Werte und Normen vermittelt werden. Kinder sollen kulturelle Vielfalt als etwas Selbstverständliches und als etwas Positives erfahren. Das Gemeinsame der Kulturen soll aufgegriffen, Unterschiede aber sollen nicht verheimlicht werden.

2. Hausaufgabenhilfe für Aussiedlerkinder

Die seit 1989 bestehende Hausaufgabenhilfe für Aussiedlerkinder geht auf einen Kreis von Frauen - überwiegend Lehrerinnen - zurück, die sich in

[Seite der Druckausg.: 52 ]

der Aussiedlerbetreuung ehrenamtlich engagieren wollten. Sie boten ihre Hilfe Kindern an, die bedingt durch die Sprachdefizite besondere Probleme in der Schule hatten. Mittlerweile gibt es in allen großen Übergangsheimen in Bonn tägliche Hausaufgabenhilfe, die gerne angenommen wird und weit mehr bedeutet und bewirkt als fehlerlose Hausaufgaben.

3. Mädchenhaus AZADE (von Frauen lernen gemeinsam Bonn e.V.)

Das Zentrum besteht seit 1989 und hat sich zu einem wichtigen Bestandteil in der Bonner Mädchenarbeit entwickelt.

Das Hauptanliegen besteht darin, deutschen und ausländischen Mädchen Raum - im wahrsten und im übertragenen Sinn - zu geben, in dem sie ihre eigenen Wünsche und Fähigkeiten weiterentwickeln und eine Annäherung zwischen ihren Nationen und Kulturen herstellen können.

4. Kunsttherapeutisches Malen/Kinder auf der Flucht

Ursprünglich gedacht als kleiner Beitrag zur Hilfe gegen die Ängste und Qualen in den Köpfen kleiner bosnischer Flüchtlinge, ist dieses Projekt ganz von alleine ein integratives geworden, als nämlich deutsche und Kinder anderer Nationen von sich aus baten, mitmachen zu können. Hier werden den Kindern künstlerische Techniken vermittelt, mit denen sie Wünsche, Ängste, Sehnsüchte zum Ausdruck bringen, dabei erlebte und erlittene Grausamkeiten ein Stück weit verarbeiten; dabei Sprachbarrieren überwinden und sich mit erstaunlichem Erfolg gegenseitiges Verstehen „ermalen".

5. Jugendförderverein Neu-Vilich „Hütte"

Am Anfang stand ein Brief jugendlicher Spätaussiedler an die Oberbürgermeisterin und der Wunsch, nicht länger auf der Straße herumhängen zu müssen. Zugleich gab es viele Beschwerden Erwachsener über das Verhalten der Jugendlichen. Zahlreiche Gespräche, zunächst ein bißchen mühsam, aber hartnäckig initiiert, brachten Annäherung und Verständnis füreinan-

[Seite der Druckausg.: 53 ]

der mit der Folge, daß die einstigen Beschwerdeführer gemeinsam mit den Jugendlichen einen Verein zur Förderung von Kinder- und Jugendarbeit gründeten. Zum Glück - das gehört auch dazu - fanden sich Sponsoren. So ein Projekt - das muß man wissen - ist nicht ohne Ecken und Kanten. Der Integrationserfolg ist schwer zu definieren. Und trotzdem lohnt es die Anstrengungen. Denn hier ist meines Erachtens wieder einmal der Weg das Ziel.

6. Begräbnisstätte für Muslime

In Abstimmung mit dem Bonner Ausländerbeirat und unter Beteiligung eines islamischen Geistlichen wurde 1989 auf dem Bonner Nordfriedhof eine Abteilung mit Reihengräbern für islamische Beerdigungen geschaffen. Inzwischen wurde auch ein Raum für rituelle Waschungen fertiggestellt sowie ein Musallah-Stein für die Aufbewahrung der Toten errichtet. Die Friedhofskapelle kann selbstverständlich auch von islamischen Gläubigen für ihre Gebete genutzt werden. Anfänge einer Diskussion um das Für und Wider eines internationalen Friedhofs zeichnen sich gerade ab.

7. König-Fahd-Akademie

„Die King-Fahd-Akademie in Bonn muß eine feste Brücke werden zwischen Orient und Okzident, die vom Geist der religiösen Toleranz und Dialogbereitschaft zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen getragen wird." Das sagte unsere Oberbürgermeisterin bei Eröffnung der Akademie im September 1995. Ich möchte jetzt nicht weiter auf diese Akademie eingehen, sondern will sie als Beispiel für ganz praktische Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme anführen: Mitten in Bonn - Bad Godesberg erhebt sich das Minarett der Moschee, doch der Muezzin schweigt. Das war das Zugeständnis an die nicht-islamischen Nachbarn.

8. Referat für Multikulturelles

Um der Integrationsarbeit für Ausländerinnen und Ausländer noch mehr Gewicht zu verleihen und um deutlich zu machen, welche Bedeutung der

[Seite der Druckausg.: 54 ]

Vielfalt der Kulturen und ihrer Menschen beigemessen wird, hat der Rat der Stadt Bonn das Referat für Multikulturelles beschlossen. Es arbeitet seit dem 1.8.1995, entwickelt Konzepte, die der interkulturellen Arbeit, der Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung, dem Dialog der Religionen und Kulturen und der Weiterentwicklung der Angebote für ausländische Seniorinnen und Senioren dienen sollen, intensiviert die Kontaktpflege und den Erfahrungsaustausch mit all den in der multikulturellen Arbeit tätigen Organisationen, Initiativen usw. und hat eine Antidiskriminierungsstelle eingerichtet. Daneben betreibt das Multikulti-Referat, wie es allgemein genannt wird, eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, die zwar auch die Herausgabe eigener Informationsblätter und Broschüren umfaßt, aber weit darüber hinausgeht. Es werden Ausstellungen durchgeführt, es gibt Vorträge in Schulen, in Vereinen usw. Es wurde bereits ein Informationszentrum aufgebaut. Viel Arbeit wird investiert in die Verdichtung vorhandener Netze. Zusammenarbeit wird verstärkt, und - was ich für besonders wichtig halte - Multikulti wird aus dem Sozialdezernat hinaus intensiv in andere Bereiche der eigenen Stadtverwaltung getragen. Das ist gar nicht so leicht, aber sehr wichtig.

Soweit meine Beispiele. Es sind nur wenige gewesen, ich könnte die Reihe stundenlang fortsetzen. Es sind keine Riesenprojekte, keine gewaltigen Summen. Es ist: Handeln in kleinen Schritten, Umgang mit dem Alltäglichen, das alle in unserer Stadt betrifft: vom Kindergarten über das Hochzeitsfest bis zum Platz auf dem Friedhof. Alle Projekte haben eines gemeinsam: Sie sollen vermitteln, daß im jeweils anderen nicht primär der Fremde, sondern der Mensch gesehen wird - auch wenn sie sich zunächst als Fremde begegnen, ob sie nun Asylsuchende, Flüchtlinge, Aussiedler oder Einheimische sind. Wenn sie sich nicht sträuben, zunächst einmal Bekannte zu werden, ist schon ein großer Schritt getan.

Karl Valentin hat das auf eine einfache Formel gebracht: „Wenn ein Fremder einen Bekannten hat, so kann ihm dieser Bekannte zuerst fremd gewesen sein, aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd."

So einfach ist das - und so schwer!


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

Previous Page TOC Next Page