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TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:



Clemens Dannenbeck
Vom Verwiesenwerden und vom Verweisen auf Herkunftsmerkmale.
Fallbeispiele aus dem Projekt „Jugendliche in ethnisch heterogenen Milieus"

[Fn.1: Ich danke Hans Lösch, Felicitas Eßer und Claudia F. Bruner für ihre zahlreichen Anregungen und Unterstützungen bei der Abfassung des Manuskripts.]

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  1. Trotz dauerhafter und damit vielerorts längst vertrauter Niederlassung von Migranten und deren Nachkommen in Deutschland ist es erstaunlich, wie hartnäckig sich in politisch-öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen ganz offen national-ethnische Unverträglichkeits- und Unvereinbarkeitsvermutungen halten. Hierin zeigt sich der ethnisierende Blick: Menschen werden in ihrer Identität auf ein repräsentatives Merkmal - ihre ethnisch-kulturelle Herkunft - reduziert und somit tendenziell als ausschließliche Vertreter von Herkunftstraditionen verglichen und begutachtet. Erst einmal kategorial geschieden und sortiert, kommt es auf andere individuelle Merkmale von Menschen scheinbar gar nicht mehr an. Das, was ein auf seine Abstammung vereidigter Mensch hierzulande an Bedürfnissen und Interessen zu verwirklichen vermag, hängt dann nicht zuletzt davon ab, welche Rechte und Sympathien ihm als Mitglied eines bestimmten national-ethnischen Kollektivs zugebilligt bzw. verweigert werden.

  2. Nationalität und Ethnizität machen sich in allen ihren geachteten und geächteten Spielarten höchst praktisch geltend. Die in der Regel nur sehr bedingte „Kündbarkeit" von Nationalität, Herkunft und Abstammung ist ein beredter Hinweis darauf, daß es auf das, was der einzelne mit diesen kollektiven Merkmalen persönlich verbinden mag, nicht allzusehr ankommt. Das, was dem einzelnen politisch-rechtlich erlaubt oder verwehrt wird - Einreise, Aufenthalt etc. - ist keine Frage des persönlichen Standpunkts, sondern praktisch geltendes Recht.

  3. Unser Projekt geht der Frage nach, was Jugendliche wann und warum dazu bringt, ihre nationale bzw. ethnisch-kulturelle Herkunft als Argument

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    und Maßstab zur Unterscheidung von seinesgleichen und anderen (sozialer Nähe und Distanz) zu verwenden. Anstatt Jugendliche vorab auf die Rolle von Repräsentanten einzelner Nationen, Kulturen oder Ethnien festzulegen, betrachten wir sie unter sozialräumlich vergleichbaren Rahmenbedingungen (dem Münchner Stadtteil Westend), in ihren alltäglichen Umgangsformen, Interessen, Einstellungen und biographischen Erfahrungen. Mit einer solchen Perspektive soll vermieden werden, daß Eigenheiten, Verhalten oder Konflikte von und zwischen den Jugendlichen vorab auf „kulturelle" oder „ethnische" Unterschiede zurückgeführt und „erklärt" werden.

  4. Ob es sich bei Merkmalen wie ethnisch-kulturelle Herkunft um besonders markante oder vielleicht auch um gleichgültige Unterscheidungen handelt, läßt sich nicht vorab ausmachen. Sie können in bestimmten sozialen, politischen und rechtlichen Kontexten einmal etwas zählen, das andere Mal gleichgültig oder aber tunlichst zu verschweigen sein (wenn das möglich ist). Wir meinen darüber hinaus, daß es keineswegs zufällig ist, wann und warum jemand aus dem Ensemble seiner (verschiedenen) Zugehörigkeiten sich gerade auf „Ethnizität" beruft bzw. von anderen darauf festgelegt wird.

  5. Nationalität und Ethnizität können für den einzelnen wesentliche Bestandteile von Identität sein, müssen es aber nicht. Wer jedoch Nationalität und Ethnizität zu unhintergehbaren Besitztiteln von Identität verfabelt, erhebt die schlichte Tatsache, daß jemand über ein staatliches Ausweispapier sowie eine Abstammung und Herkunft verfügt, in den Rang einer „Basisausstattung" von Identität.

  6. Mit unseren empirischen Befunden soll einer weit verbreiteten Vorstellung widersprochen werden, wonach der Verweis auf bestimmte ethnisch-kulturelle Wurzeln für sich genommen schon etwas darüber aussagt, welche Realitäten, Deutungen, Orientierungen und Praxen sich daraus für den einzelnen ergeben. Zwischen der geachteten (Selbst-)Vereidigung auf Ethnizität und dem geächteten Rassismus gibt es Brücken.

  7. Fragen, wer „wir" sind und wer die „anderen", was „Heimat" ist und was „Fremde" kann mit Verweisen auf „Blut", Geographie, Nationalität, Sprache, Ethnie oder Kultur nur sehr bedingt begegnet werden. Zu Hause, vertraut, anders, fremd und/oder (noch) auf der Suche nach etwas anderem zu sein, ist ebenso eine Frage vorgegebener kollektiver bzw. politisch-recht-

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    lich geschaffener Zugehörigkeiten wie auch ein vom einzelnen tagtäglich neu zu treffendes Urteil.

    Aber selbst wenn der einzelne seine kollektiven Zugehörigkeiten und praktischen staatlich-rechtlichen Einbindungen schon grundsätzlich zu seiner eigenen Sache macht und sich mit ihnen identifiziert, stellt dies immer eine persönliche Entscheidung dar, wo er sich wann und warum verorten will. Diese Selbstverortung ist ohne ständige Auseinandersetzung und Kämpfe mit kollektiven Zuschreibungen nicht zu haben. Dies heißt aber auch, Abschied zu nehmen von Vorstellungen, wonach Identität ein verläßliches lebensweltliches Produkt aus letztlich unspaltbaren festen Kernen - z.B. national-ethnischen Wurzeln - sei und keine lebenslängliche Veranstaltung von immer wieder aufs Neue zu treffenden Wahlen.

Soweit die kurz umrissenen Kernthesen und theoretischen Grundlagen unseres Projekts. Wie sind wir nun praktisch vorgegangen, um den situations- und kontextspezifischen Bedeutungen von ethnischen Selbst- und Fremdzuschreibungen empirisch beizukommen? Zunächst zum Ort der Untersuchung:

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Das Westend

Das Münchener Westend steht für ein „multikulturelles Milieu", das in mancher Hinsicht typisch für sozialstrukturell ähnliche Stadtteile in anderen Großstädten der Bundesrepublik Deutschland sein dürfte. [Fn.2: Eine differenzierte Strukturanalyse des Beobachtungsfeldes liefert der Zwischenbericht an die DFG mit dem Titel „Jugendliche in ethnisch heterogenen Milieus" von Dannenbeck/Eßer/Lösch(1996).]
Es besitzt einen ausgeprägten Wohncharakter, dem bis heute noch Spuren proletarischer Tradition anhaften. Auffällig sind um Innenhöfe gruppierte weitläufige mehrstöckige Wohnblöcke genossenschaftlichen Wohnungsbaus aus dem Anfang des Jahrhunderts. Mit Beginn der achtziger Jahre setzten umfangreiche Sanierungsmaßnahmen ein, die mittlerweile zu einer deutlichen Aufwertung der Wohnqualität geführt haben.

Das Verhältnis der Jugendlichen zu ihrem Stadtteil ist ambivalent - es schwankt zwischen starker emotionaler Identifikation und gelangweilter Gleichgültigkeit. Viele der von uns beobachteten und befragten Jugendlichen verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit im Westend. Hier wohnen ihre wichtigsten und besten Freunde bzw. Freundinnen. Selten verspüren sie das Bedürfnis, über die Grenzen ihres Stadtteils hinauszugehen. Häufig sind sie hier geboren und/oder aufgewachsen, haben spä-

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ter die örtliche Grund- und Hauptschule besucht und die meisten Freundschaftsbeziehungen innerhalb des Stadtviertels geschlossen. Sie „lieben" das Westend. „Ich bin froh, daß ich im Westend aufgewachsen bin", sagt ein 16jähriges Mädchen und meint damit in erster Linie die guten und langjährigen Freundinnen und Freunde, die sie hier gefunden hat und auf die sie sich jederzeit verlassen kann. Auf der anderen Seite machen die Jugendlichen aber immer wieder Erfahrungen mit der äußerst defizitären Infrastruktur. Die schlechten Freizeitmöglichkeiten machen das Westend auch häufig zu einem Ort der Langeweile. Es gibt nur wenige Räume, ob überdacht oder im Freien, an denen man sich treffen kann. „Kein Kino, keine Disko, kein McDonald ..." - das sind häufige Klagen der Jugendlichen.

Im folgenden möchte ich nun - anhand zweier Fallbeispiele - einige empirische Bausteine vorstellen, unter welchen Bedingungen wie mit „Ethnizität" argumentiert wird - oder gerade nicht argumentiert wird - und welche Auswirkungen dies für die Betroffenen haben kann. Mit eingeschlossen in diese Schilderung ist ein kleiner Methodenvergleich. Es handelt sich um unterschiedlich geführte Interviews. Verdeutlichen möchte ich hiermit, wie durch die Art des Miteinander-Redens ganz bestimmte Formen des Ethnizitäts-Diskurses weitergesponnen werden - wissenschaftlich kontrollierte Interviews bilden hier keine Ausnahme im Vergleich zu Alltagsgesprächen oder -kommunikationssituationen - insofern ist auch ein solches Projekt Teil des praktischen Alltags und bildet keine Ausnahme - ebenso wie jede Art pädagogischer Intervention kein Laborexperiment darstellt, sondern Teil des praktischen Alltags ist und ebenso Träger von Diskursen und deren Folgen bleibt.

Paul und Paula [Fn.3: Die Namen sind frei erfunden.] sind ein Geschwisterpaar. Beide stammen aus Somalia. Paul lebt seit drei Jahren im Westend. Zuvor besuchte er ein katholisches Kinderheim. Ein Jahr vor Ausbruch eines Bürgerkrieges hat er das Land verlassen. Die Ausreise erfolgte mit der Mutter. Der Vater ist mit Ausbruch des Bürgerkrieges ebenfalls ausgereist, aber nach Amerika gegangen. Infolge von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern bezüglich des Migrationszieles kam es zur Trennung. Ein Onkel lebt bereits seit zwanzig Jahren in München. Die Familie von Paul hat außerhalb der dortigen Hauptstadt gelebt. Ein Großvater lebt noch im Norden des Landes. Paul besucht die neunte Klasse der Realschule im Westend. Die Mutter ist Kellnerin. Die Aufenthaltsgenehmigungen der Familie sind zeitlich befristet.

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Paula ist mit vier Jahren nach Deutschland gekommen. Nach einem Jahr bei der alleinerziehenden Mutter ist sie für sechs Jahre in einem katholischen Kinderheim untergebracht, ebenso wie ihr Bruder. Paula besucht heute die Hauptschule des Westends. Die Eltern besaßen in Afrika ein Haus. Sie haben sich scheiden lassen, der Vater lebt in Amerika. Die Mutter lebte zunächst „vom Sozialamt", ehe sie sich eine eigene Wohnung leisten konnte. Nachdem die Verhältnisse geordnet waren, „durften" die Kinder dann wieder aus dem Heim zur Mutter ziehen. Paula berichtet von einem „Stiefvater" (den sie möglicherweise nur so nennt), der bei Paul unerwähnt bleibt. Die als äußerst hilfsbereit geschilderte Mutter hat zeitweise eine äthiopische Bekannte aus Italien in ihre Wohnung aufgenommen.

Mit Paul führten wir im März 1997 ein leitfadengestütztes Interview. Paul thematisierte praktisch während des gesamten Interviews schwerpunktmäßig seine schwarze Hautfarbe. Er nahm den Gesprächsverlauf weitgehend selbst in die Hand. Vier Monate später haben wir mit Paula ein biographisches Interview durchgeführt. Die Interviews mit den beiden Geschwistern verlangen geradezu nach einem Methodenvergleich, geht es uns doch um die konkreten Kontexte, in denen Ethnisierungen erfolgen oder ausbleiben, herausgefordert oder gezielt eingesetzt werden. Das Interview an sich kann als Situation betrachtet werden, in der prinzipiell von beiden Instanzen - sowohl von Seiten der Interviewten als auch von seiten der Interviewer - Ethnisches direkt oder indirekt zum Thema gemacht werden kann, sei es durch direkte Fragen, durch ungefragtes Auskunftsverhalten oder durch Reaktionen auf vermeintliches bzw. tatsächliches nonverbales Interaktionsverhalten zwischen den Beteiligten. Paul und Paula war bewußt, daß wir SozialwissenschaftlerInnen sind, die sich, „für Jugendliche im Westend interessieren, wie sie leben und was sie so denken". Diese Formulierung sollte verhindern, daß bei den Interviewten bereits im vorhinein ein Referenzrahmen entsteht, der den Interviewverlauf dann inhaltlich einseitig beeinflußt oder vorstrukturiert hätte.

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Der Einstieg

Ich vergleiche zunächst die Intervieweröffnung, um zu prüfen, welcher Referenzrahmen aufgemacht wird, bzw. wie sich der erste Kontakt, zwischen Interviewten und Interviewern gestaltet:

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Paul

Paul wurde zunächst gefragt: „Wie lange bist Du schon im Westend?" Hiermit wird eine zeitliche und eine örtliche Dimension angesprochen. Es wird zum einen signalisiert - was der Befragte aus den Vorgesprächen mit uns auch schon wußte - daß wir uns für seine Wohnumgebung und seine Lebenswelt interessieren. Zum anderen ist die Art und Weise, wie nach dem Zeitraum gefragt wird, bewußt ambivalent gehalten. Paul kann diese Frage bereits als Anspielung auf sein „anderes Aussehen" beziehen. Die Art der Fragestellung zwingt Paul aber nicht zu dieser Interpretation. Immerhin könnte er ggf. ganz einfach antworten „schon immer" - er könnte aber auch einen Hinweis auf einen innerdeutschen oder sogar innerstädtischen Umzug geben. Alles in allem betrachtet scheint die Fragestellung dem Interviewten einen relativ großen Spielraum zu lassen, in welche Richtung die Antwort erfolgt. Paul nutzt diesen Spielraum auch aus, indem er die denkbar knappste Information gibt: „Ja, ich bin jetzt seit drei Jahren... ". Paul verzichtet darauf, den Fragezusammenhang selbst näher zu definieren. Er gibt zwar eine präzise Antwort auf die Frage, signalisiert aber keinerlei biographischen Kontext, auf den die Zeitangabe zutreffen könnte. Nachdem keine weitere Information gegeben wird, erfolgt eine Nachfrage von unserer Seite: „Drei Jahre - und wo hast Du vorher gelebt, vor diesen drei Jahren?" Die Nachfrage weist erneut auf die bereits thematisierte räumliche Dimension der Eingangsfrage hin. Wieder bleibt das möglicherweise dahinterstehende Erkenntnisinteresse in der Schwebe. Es muß Paul aber deutlicher geworden sein, daß es uns um seine Biographie geht. Noch immer kann er jedoch entscheiden, unter welchen Vorzeichen er von seiner Biographie erzählen möchte. Paul liefert jetzt zwei Informationen: „Ja, vor den drei Jahren, da war ich in so einem - ts - (') Kinderheim, weil wir sind erst von Somalia hierher geflogen." Hier sind nun zwei wichtige Dinge geschehen. Der erste Teil der Antwort zeigt, daß Paul bisher entweder seine Migrationsgeschichte nicht „im Kopf" hatte und uns auch nicht unterstellt hatte, wir würden darauf abzielen, oder Paul hat möglicherweise versucht, diesen Aspekt seiner Biographie möglichst lange nicht zu thematisieren. Zum zweiten thematisiert Paul seine Herkunft „Somalia" an dieser Stelle ungefragt und zunächst ohne illustrierende Angabe von Kontexten. So werden weder die Flucht, noch die Umstände, die zu ihr geführt haben, näher erläutert, sondern nur ein Flug aus Somalia erwähnt. Dies kann nun einerseits bedeuten, daß Paul dieser Kontext - im Vergleich zur Gegenwart im Westend, oder zu der Zeit im Kinderheim -

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nicht so wichtig ist. Es kann aber auch heißen, daß er die näheren Umstände seines Weggangs aus Somalia nicht thematisieren will. Schließlich könnte man auch die These aufstellen, daß er uns bis zu einem gewissen Grad unterstellt, daß wir informiert sind über sein „Schicksal".

Aufschlußreich ist nun der weitere Fortgang des Interviews. Paul wechselt nämlich jetzt die Perspektive. Er berichtet nicht mehr von sich und seiner Biographie, sondern von der seiner Mutter, „und ... am Anfang war's für meine Mutter schwierig, Sprache alles noch und... ". Paul verfolgt seine Biographie nicht rückblickend weiter, sondern er definiert einen „Anfang" - den Anfang in Deutschland, von dem er jedoch nicht aus seiner persönlichen Sicht spricht. Nicht von seinen Schwierigkeiten ist die Rede, sondern von denen seiner Mutter. Wir bemerken diesen Perspektivwechsel und versuchen, ihn direktiv zu korrigieren. An dieser Stelle tappen wir in die „Ethnisierungsfalle": „Du konntest ja auch nicht Deutsch?" - diese rhetorische Frage signalisiert nun ganz deutlich, daß wir Paul als Nicht-Deutschen ansehen, wir betrachten ihn darüber hinaus aus einer eindeutigen Defizitperspektive. Hätte man an dieser Stelle nicht neutral insistieren können und müssen, etwa nach dem Muster: „Wie ist es Dir denn ergangen in dieser Zeit?"

Zusammenfassend zeigt dieser Intervieweinstieg folgendes: Es gelingt zunächst, die Situation offen zu halten und Paul gegenüber keinen eindeutigen, von uns angebotenen Referenzrahmen zu liefern. Diese Offenheit nutzt Paul einmal, indem er Information sehr dosiert gibt (knappe und schrittweise Antworten), die Lebensphase vor seiner Ankunft in Deutschland nach Möglichkeit nicht anspricht und auch die Gelegenheit ergreift, generell von seiner Person abzulenken. Dies erfolgt über die Erwähnung seiner Mutter, die eine wichtige Bezugsperson zu sein scheint. Schon nach kurzer Zeit macht eine Zwischenfrage von unserer Seite aus deutlich, daß wir „erkannt" haben, daß Paul (zumindest sprachlich) ein „Fremder" ist. Diese Projektion antizipiert Paul wiederum seinerseits, wenn er so tut, als müsse es uns klar sein, daß er aus Somalia stamme. Diese genauere Analyse einer kurzen Interviewpassage zeigt, wie stark die unbeabsichtigte Bezugnahme auf Ethnizität die Kommunikationssituation „Interview" unterschwellig prägt.

Paula

Mit Paula wurde ein biographisches Interview geführt. Das theoretische Leitprinzip dieser Art der Interviewführung ist die Orientierung am Rele-

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vanzsystem der Gesprächspartner. Es geht zunächst darum, die Gesprächspartner zu einer längeren Erzählung von selbsterlebten Geschichten zu motivieren. Dies wird durch eine knappe, möglichst allgemein gehaltene Eingangsfrage versucht, die ein möglichst geringes Maß an inhaltlichen Themenvorgaben enthalten sollte.

Die Eingangsfrage lautete: „Wir interessieren uns für Jugendliche, das heißt, wie sie heute aufwachsen und was sie erleben. Erzähle mir doch Deine Lebensgeschichte, alles, was Dir so einfällt, an was Du Dich erinnerst." In der Eingangsfrage wurde bewußt auf inhaltliche Hinweise oder Impulse verzichtet, die über die Erklärung des Interesses an der individuellen Biographie hinausgehen. Weder sollte von Seiten der Interviewer ein spezifisches Augenmerk auf Geschlecht, noch auf Herkunft, Status oder Hautfarbe etc. gelenkt werden. Die Wahl der Termini „Aufwachsen" und „Erleben" sollte zum Erzählen anregen, die Reihenfolge des Erzählten - ob chronologisch oder assoziativ - sollte der Interviewten überlassen bleiben.

Die Eingangserzählung ist kurz - und doch im Vergleich zu den dosierten Informationshäppchen, die uns Paul zunächst gab, als in sich geschlossene Passage zu werten, die später einer sequentiellen Analyse unterzogen werden kann:

„Ähm - ich bin mit vier nach Deutschland gekommen, ich kann mich eigentlich nur schwach an Somalien erinnern. Und dann war ich im Heim sechs Jahre - ähm - dann:, dann:... bin ich: vom = ähm = na = nach sechs Jahren bin ich äh vom Heim rausgekommen, ich bin mit fünf reingekommen und dann:... äh = dann: bin ich also hierher gekommen, und dann sinn ma umgezogen, da hat meine Mutter Wohnung gefunden und so, und dann:... ähm, ja dann ge = bin ich halt hier = geh ich halt hier zur Schule und so." (Pause)

Es fällt auf, daß Paula nicht chronologisch erzählt, sondern mit einem -wohl aus ihrer Sicht dem - biographischen Einschnitt in ihrem Leben beginnt, mit der Ankunft in Deutschland. Die Auswahl dieser Episode aus dem Spektrum der angefragten lebensgeschichtlichen Ereignisse, weist unzweifelhaft auf deren subjektive biographische Bedeutung hin. Sie stellt keine nachvollziehbare Reaktion auf das Interviewerverhalten dar, wenn auch nicht auszuschließen ist, daß Paula unterstellt, daß wir als „weiße" Wissenschaftler, die ausdrücklich an ihrer Biographie interessiert sind, genau an

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dieser Episode besonderes Interesse haben. Im zweiten Satz nimmt Paula Bezug auf ihre Herkunft. Auch sie erwähnt Somalia ganz beiläufig, so, als müßte es für uns klar sein, daß sie von dort stammt. Auch Paula ist nach Deutschland „gekommen" - so wie Paul „geflogen" ist - beide sind nicht „geflohen", „ausgewandert" oder „vertrieben" worden. Paula formuliert im Gegensatz zu Paul explizit, daß sie über Somalia wenig Angaben machen kann. Ob dies der Fall ist, weil sie sich aufgrund ihres Alters tatsächlich nicht an die Zeit vor ihrer Ankunft in Deutschland erinnern kann, oder ob sie dies nicht will, muß an dieser Stelle offen bleiben.

Am Ende der Eingangserzählung von Paula ist das gleiche thematische Spektrum wie bei Paul ausgebreitet. Allerdings fehlt bis zu diesem Zeitpunkt jegliche verbale Interviewerintervention. Paula's Erzählung ist weit selbstbestimmter zustandegekommen als diejenige von Paul. Darüber hinaus haben wir bei Paula die Chance, nach Somalia zu fragen, ohne daß von unserer Seite aus bereits ein verbales Signal in Richtung unseres eigentlichen Erkenntnisinteresses erfolgt ist. Wir können in diesem Falle auf ein Erzähl-Angebot der Interviewten reagieren. Bei Paul dagegen entstand eine Kommunikationssequenz, innerhalb der bereits ein hohes Maß an wechselseitiger „Information" bezüglich vorhandener, antizipierter oder unterstellter Bilder ausgetauscht wurde. Die Aufmerksamkeit der Analyse muß sich hier von der Analyse der Aussagen des Interviewten zur Analyse der Interviewsituation verlagern.

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Zentrale Erfahrungen

Paulas zentrale Erfahrung, die ihre Erzählungen wie ein roter Faden durchzieht, ist diejenige körperlicher Gewaltanwendung. Paulas' zentrales Thema im Zusammenhang mit dem Heim ist also nicht ethnische Diskriminierung oder negative Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrer Hautfarbe, ihrer erst allmählich sich entwickelnden Sprachkenntnisse oder ihrer fremden Herkunft (wie dies bei ihrem Bruder der Fall ist). Die prägenden Erlebnisse bestanden vielmehr in der Erfahrung körperlicher Gewaltanwendung von seiten der Erwachsenen gegen ihresgleichen, d.h. gegen die Kinder. Die Gründe für die geschilderten drakonischen Erziehungsmaßnahmen stehen sämtlich nicht in irgendwie gearteten „ethnischen" Zusammenhängen: es geht um Essensverweigerung, um „freche" Äußerungen, um Verhalten gegenüber ärztlichen Anordnungen, um Verhalten im Zuge der Hausaufgabenbetreuung etc.

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Paula kommt auf ihre eigene Rolle zu sprechen und auf die Beziehungen zu den anderen Kindern im Heim. Sie gesteht sich Aggressionen ein, zumindest in einem Fall. Sie sei wütend gemacht und geärgert worden. Auch in dieser Erzählepisode spielen ethnische Aspekte keine Rolle, sondern es geht um ein altersentsprechendes Beziehungsproblem unter Mädchen: „hat mir immer alle Freundinnen weggenommen ". Geht man davon aus, daß die erzählten Episoden paradigmatisch für die Erlebnisse im Heim sind und die in ihnen zum Ausdruck kommende Struktur typisch für Paula ist, gelangt man zu dem Ergebnis, daß Hautfarbe, Herkunft und Status als Kind einer alleinerziehenden Asylbewerberin in Paulas' Erleben der ersten Jahre im Heim keine erwähnenswerten Probleme waren.

Hierin unterscheidet sich das Interview von den von den Aussagen ihres Bruders. Trotz der vielen Erzählpassagen, die sich immer wieder um Konflikte zwischen den Jugendlichen drehen sowie um die Art der Austragung dieser Konflikte, werden von Paula nie auch nur Andeutungen in Richtung ethnischer Diskriminierung gemacht. Stets geht es um alterstypische Auseinandersetzungen - etwa um den provozierenden Vorwurf, daß ein Mädchen keine Jungfrau mehr sei, etc.

Paul dagegen macht die Erfahrung, daß im Falle eines Konfliktes - unabhängig vom Anlaß - stets seine Hautfarbe zum Punkt gemacht wird. Durch diese Reduktion auf ein körperlich unveräußerliches Merkmal sieht er sich jeglicher Möglichkeit beraubt, sich gegen die Angriffe zur Wehr zu setzen. An der Tatsache, daß sich nicht-deutsche weiße Kinder ungleich leichter tun, ihr „Ausländersein" gegebenenfalls zu verbergen, stellt er fest, daß ihm allein durch seine Hautfarbe diese Techniken der Informationskontrolle prinzipiell verwehrt sind (vgl. Goffmann, 1979, S. 116ff.) - solange denn „Schwarz-Sein" als diskreditiertes Merkmal gilt.

Aber es ist nach Paul nicht nur die bessere Anpassungs-„fähigkeit" nichtdeutscher Weißer, durch die er sich als Schwarzer von ihnen unterscheidet. Obwohl sie für Paul doch „alle im gleichen Boot" sitzen, macht er die Erfahrung, daß „Ausländer-Sein" für sich genommen keineswegs eine Ressource darstellt, wenn es gilt, seine Haut zu retten.

„Ja, äh, wenn man so sagen kann, die, sang ma so, die deutschen Kinder, die war'n vielleicht nicht so temperamentvoll wie, sag ich mal, so wie die ausländischen Kinder ... hier und ... was ganz komisch is eigentlich, obwohl hier (im Westend - Anm. d. Verf.) eigentlich fast alle Ausländer sind (lacht), wenn es da zu Streitereien kommt,

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dann, dann - ähm - ich würd' vielleicht n' weißen Ausländer sagen, daß er, daß der genauso meine Hautfarbe beleidigt wie eigentlich auch ein Deutscher, ich meine, es is, wenn ma des, ich bin weder in sein Land, noch, ich meine bei, bei, ich, am Anfang, bei Deutsche, da, da hätt’ ich vielleicht, vielleicht n' Tick Verständnis gehabt, aber, das is' irgendwie ganz komisch gewesen (...) den meisten Streit hatt' ich überhaupt mehr mit Ausländern als mit Deutschen (...) die machen genau denselben Fehler, sie wollen selber nicht ausgeschlossen werden, aber machen genau dasselbe".

Solche rassistischen Erfahrungen haben Konsequenzen: Seine „eigentlichen" Freunde sind schwarz und kommen aus seinem Heimatland. Im Westend selbst stammt nur Pauls Familie von dort.

Paul ist nicht sozial isoliert. Er hat auch in der Schule „Freunde", ist auch mit „Weißen" zusammen - er erwähnt besonders den Sportunterricht, „...die kommen aus Rußland, Tschechien und Albanien". Aber diese Kontakte sind nicht sehr dicht. Zu „direkten" Freunden macht Paul einen klaren Unterschied. Z.B. finden zwischen ihm und seinen „weißen" Bekanntschaften keine wechselseitigen Besuche zu Hause statt.

Paul beschreibt sowohl das rassistische Verhalten der Weißen, als auch sein eigenes Empfinden, das - im Sinne einer self-fulfilling-prophecy - schließlich dazu führt, daß er selbst das Gefühl hat, mit ihnen nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen zu können. Seine Beschreibung verdeutlicht den Herstellungs- und Entstehungsprozeß dieses Verhältnisses zwischen Schwarz und Weiß. Ihm fällt ein Junge ein, der als Mischling Kontakte zu deutschen Jugendlichen hat. Angesichts solcher Erfahrungen gelingender Kontakte zwischen „schwarz" und „weiß" zweifelt er an der Erklärungskraft der Hautfarbe und sucht den „Fehler" bei sich selbst. Zusätzlich genährt werden diese Selbstzweifel durch die Tatsache, daß seine Schwester, wie auch einige ihm bekannte Schwarz-Afrikaner, sogar ausgesprochen viele Freundschaften mit „Weißen" unterhalten. So sehr er damit hadert, daß ihm selbst das nicht gelingt, so sehr weist er auf den Preis hin, den diese Schwarzen zahlen müssen. Um diese Freundschaften überhaupt aufrechterhalten zu können, sind sie gezwungen, die ständige Thematisierung ihrer Hautfarbe - sei es ernst oder über Witze - aushalten zu müssen: „... wie die mit denen sprechen ...".

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Geschlecht

Paula berichtet von keinerlei „ethnischer Anmache", von Anspielungen auf ihre Hautfarbe oder ihre Herkunft. Weshalb ist dies so gänzlich anders im Interview ihres Bruders, in dem sich diese Thematik wie ein roter Faden durchzieht? Ist diese Tatsache ein methodisches Artefakt, oder wird die Situation wirklich zwischen den Geschwistern so unterschiedlich erlebt? Stimmt die Vermutung von Paul, daß das Problem Hautfarbe für Jungen und Mädchen etwas völlig anderes bedeutet? Auch Paul trifft ja die Aussage, daß seine Schwester ganz anders mit ihrer Hautfarbe umgehen kann, weil auf sie ganz anders reagiert wird, wie auf ihn.

Paul wurde mit dieser Fragestellung direkt und unmittelbar konfrontiert.

Antwort: „Nun ja. meine Schwester hat sich äh besser gesagt, eher angepaßt anstatt wie ich." Diese „Anpassung" gereicht ihr zu einem Vorteil, um den sie Paul auch bisweilen zu beneiden scheint. Immerhin hat diese Anpassung zur Folge, daß sie mit ihren Leuten besser auszukommen scheint, als er mit den seinen. Dennoch bezeichnet er diesen Unterschied mit einem Ausdruck, den man auch als negativ gemeint interpretieren kann. „Anpassung" ist in diesem Zusammenhang durchaus als ambivalent zu sehen. Es ist ein Terminus, der ihm sicher von Seiten der deutschen Öffentlichkeit bekannt ist, im Sinne einer Erwartung, die man gegenüber den „fremden Asylbewerbern" an den Tag legt - die haben sich gefälligst anzupassen, wenn sie hier sind. In der Vokabel von der „Anpassung" steckt aber auch ein Element von Selbstaufgabe - der „Preis" der Anpassung ist von Paul nicht genannt, schwingt aber untertönig mit.

„Ich weiß nich', des is alles immer (lacht) w, w, wenn ich, wenn ich mit Mädchen befreundet bin, dann is' es, dann glaub' ich nicht, daß sie: äh, daß sie sich mit mir befreunden, nur wenn sie jetzat was gegen meine Hautfarbe hätte, des ss dann geht sie mir lieber aus dem Weg (lacht), aber beiden Jungs, des is eben so, wenn die jetzt, wenn der jetzat gegen meine Hautfarbe hat, dann geht der nicht aus, mir aus dem Weg, weil geht geradewegs aus, auf mir zu, auf mich zu und = und... und bei den Mädchen is' halt leicht zu merken, ob die... Interesse pfft oder nicht hat."

Paul weiß: wenn ein Mädchen auf ihn zukommt, dann steht sie seiner Hautfarbe gleichgültig oder positiv gegenüber, sonst hätte sie gar kein Interesse an ihm. Bei Jungen dagegen ist Vorsicht geboten. Sie „müssen Stär-

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ke beweisen". Pauls Haltung dieser Thematik gegenüber ist ambivalent. Er sieht den offensichtlichen Unterschied zwischen sich und seiner Schwester und führt einen Großteil auf den Unterschied zwischen den Geschlechtern zurück. Zugleich betont er aber auch Unterschiede zwischen sich und seiner Schwester, was das eigene Verhalten „Weißen" gegenüber anbelangt. Hier schwankt Paul zwischen Bewunderung und Ablehnung seiner Schwester. Einerseits ist er mit sich selbst und seinen Rückzugstendenzen unzufrieden und frustriert, andererseits scheint er auch froh darüber zu sein, nicht so anpassungsbereit wie seine Schwester sein zu müssen.

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Beziehungen zum Herkunftsland

Sowohl Paula als auch Paul thematisieren ihr Herkunftsland nur am Rande. Beide haben nur wenige Erinnerungen an die Zeit vor ihrer Ausreise, was zum Teil an ihrem damaligen Alter liegen mag. Beide Geschwister kommen erst gegen Ende ihrer jeweiligen Interviews zu einer ausführlicheren Passage, die Somalia in ihrem Leben betrifft. Während Paul eine konkrete Erinnerung hat und zu einer Kurzerzählung ansetzt, kann Paula nur von einem Erlebnis in Deutschland berichten. Sie erzählt von einer Foltervideodokumentation über Somalia, die sie einmal heimlich durch die Wohnzimmertür gesehen hat und transportiert auf diesem Umweg ihre Emotionen, die sie mit „ihrem" Land verbindet - eine Formel übrigens, die bei beiden Geschwistern auftaucht. Paulas Erzählung wird durch die Frage, ob sie sich vorstellen könnte, einmal wieder in Somalia zu leben, evoziert. Sie wird durch keine Zwischenfragen unterbrochen. Pauls Erzählung ist ebenfalls nicht von Interviewerseite aus unterbrochen, sie ist aber in einem gänzlich anderen Kontext plaziert. Ihr voraus ging eine Frage, die explizit auf die Bedeutung von Hautfarbe und Pauls Einstellung hierzu abzielte: „Für manche is' irgendwie die Hautfarbe: scheints was unheimlich wichtiges oder sie bilden sich ein, es sei was wichtiges äh: mm is' des bei Dir auch so, oder kannst Du darüber eigentlich nur lachen oder Dich ärgern, daß es so was gibt, daß die Hautfarbe so = so wahnsinnig wichtig genommen wird?" Damit ist durch die Art der Fragestellung der Themenbereich der Antwort festgelegt. Daß Paul die Antwort jedoch indirekt gibt, indem er sich fast gleichnishaft in seine eigene Kindheit und sein Herkunftsland zurückversetzt, war durch die Fragestellung nicht vorhersehbar. Nach all seinen Berichten und Erzählungen von rassistischen Diskriminierungen, denen er auf-

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grund seiner Hautfarbe im Alltag unentwegt ausgesetzt ist, die er sich letztlich nicht erklären kann und auf die er teils mit Rückzug, teils mit Selbstschuldzuweisungen reagiert, sieht er sich durch die obige Fragestellung nun seinerseits angesprochen, wie er es mit der Hautfarbe als Bedeutungsträger hält. Paul antwortet jetzt nicht moralisierend. Er zeichnet nicht das Bild einer zukunftsweisenden utopischen multikulturellen Gesellschaft, die er sich wünschen würde. Nach dem Grundtenor seiner Präsentation im Interview, hätte eine derartige Reaktion auf die oben ausgeführte Fragestellung möglicherweise nahegelegen. Paul schlägt jedoch eine andere Richtung ein. Er versucht sich, in seine Kindheit zurückzuversetzen - denn da findet er eine Parallele in seinem eigenen Leben und seinem eigenen Verhalten. Im Alter von sechs Jahren - das muß ganz kurz vor der Ausreise gewesen sein, „da hat der Italiener dort gelebt". Zur Erläuterung ergänzt er: „Somalia war früher 'ne italienische Kolonie. " Offenbar waren Italiener zu dieser Zeit in Pauls Umfeld so präsent, daß er Gelegenheit hatte, mit ihnen in Kontakt zu kommen. „Da war'n viele Italiener und da ham Italiener gelebt, italienische Familie und da war'n halt Kinder, die, da ham sie alles mögliche über das Haus erzählt, was da los geht daß des, daß des Barbaren und alles mögliche sind, und Beleidigung." Zwischen den anwesenden Italienern - die offenbar auch eine gesellschaftliche Funktion innehatten, da sich Paul an ganze Familien erinnert - und den einheimischen Somali gab es Gerüchte. Es bleibt in Pauls Erzählung völlig in der Schwebe, von welcher Seite aus gegen wen die Gerüchte geschürt wurden. Es wird nicht deutlich gemacht, wer „sie" sind und über welches Haus geredet wird, wer mit „Barbaren" gemeint ist und wer beleidigt wurde. Insofern wird im Anschluß auch nicht klar, ob die geschilderte Tat, bei der Paul anwesend war, eine Reaktion auf Beleidigungen der ehemaligen italienischen Kolonialisten gegen die einheimische Bevölkerung darstellt, oder ob sie die kindliche Übersetzung der somalischen Vorbehalte gegen die ehemalige Kolonialmacht repräsentiert: „ dann sind wir, da war ich dabei, sind wir zu ihnen, zu ihrem Haus, ham Steine genommen und ham gegen ihre Tür geworfen". Obwohl Paul - außer seiner persönlichen Beteiligung an der Tat - unbewußt sämtliche Akteure und auch die Umstände, die zu der Tat geführt hatten, im Unklaren beläßt, macht er folgendes klar: Damals in Somalia gehörte er zur Mehrheitsgesellschaft - die Ausländer waren die anderen, die Italiener. Auf diesen Punkt kommt es ihm an. Es geht ihm nicht um die Darstellung eines historisch belasteten Verhältnisses, um die Darstellung von Machtgefällen oder um moralische Legi-

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timations- oder Erklärungsstrategien. Es geht ihm allein um den Unterschied zwischen In- und Ausländern, zwischen Mehrheits- und Minderheitsangehörigen: „Und ich mu, ich hab' damals gelacht und (lacht) tja, es is', es is', es is' genau dasselbe gewesen ... bloß mit, bloß mit diesem Unterschied, daß der, daß ich der Ausländer bin und nicht die (...) wenn jetzat = wenn jetzat = wenn jetzat alle in einer Gegend schwarz wären und ein ein Weißer zu mir, mich beleidigt, über meine Hautfarbe beleidigt, dann würde ich nur lachen, es gibt hier Tausende und der kann sich zum Teufel scheren, weil, aber hier is' es so." Das Argument „Hautfarbe" sticht nur so lange, wie es als wirksames Argument durchgesetzt werden kann - etwa, wenn es von der Mehrheit verwendet oder gestützt wird. Damit ist es als solches austauschbar. Es würde in einem umgekehrten gesellschaftlichen Kontext, in dem die Schwarzen zahlenmäßig überlegen sind, irrelevant und geradezu lächerlich werden. Paul ist klar, daß es nicht die Hautfarbe selbst ist, die ihn in seine schwierige Lage bringt. Es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die es der weißen Mehrheit erlauben, in wirksamer Weise die Hautfarbe zum Differenzkriterium zu erklären. Und Paul geht noch einen Schritt weiter und kehrt die Situation um. Er selbst - belegt an einem konkret erzählten Beispiel - würde sich umgekehrt auch nicht anders verhalten, er wäre dann nur seinerseits in der privilegierten Position. Er entdeckt ein allgemeines Muster menschlichen Verhaltens und abstrahiert es aus den konkreten historischen und situativen Zusammenhängen.

Ganz anders demgegenüber, wie sich seine Schwester gegenüber empfundenen Beleidigungen oder Bedrohungen zur Wehr setzt. In ihrem abschließenden Interviewabschnitt reagiert sie unmittelbar auf die Frage, ob sie sich vorstellen könnte, mal wieder in Somalia zu leben. Sie projiziert sich also nicht in eine Situation, in ein Erlebnis oder eine Erfahrung, die mit ihrem Herkunftsland zusammenhängt hinein, sondern reflektiert die Situation von außen: „Mhm (überlegend) da is' jetzt Krieg!" Also ich glaub' nicht, also ich würd' jetzt gerne, also mir gefällt Deutschland sehr (Tasse fällt um), also (lacht, hebt Tasse wieder auf), also mir gefällt Deutschland jetzt sehr gut, also ich bin auch hier aufgewachsen und so. " Paula ist hin- und hergerissen. Angesichts der Kriegssituation glaubt sie nicht, daß sie in Somalia leben möchte. Somalia scheint jedoch nichtsdestotrotz emotional besetzt zu sein. Ihr rationales Abwägen wird nämlich durch einen nicht zu Ende ausgeführten Satz unterbrochen, der besagt hätte, was sie „jetzt gerne" tun würde. Sie scheint diesen Gedanken - der möglicherweise hieß, daß sie eigentlich

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jetzt schon gerne zu Hause sein würde, wenn nur nicht der Krieg wäre - aber nicht recht zuzulassen. Vielmehr bricht sie ihn abrupt ab und bringt ein formelhaftes Urteil über Deutschland, das eher wirkt, als möchte sie einer von ihr uns unterstellten Erwartungshaltung gerecht werden. Zusätzlich wird dies noch unterstützt durch die bewußte wörtliche Wiederholung. Die heruntergefallene Tasse weist auf die körperliche Anspannung, von denen diese Überlegungen augenscheinlich begleitet sind. Relativiert wird ihr Lob auf Deutschland allerdings durch den Einschub „jetzt". Dies mag ein kleiner, aber feiner Hinweis darauf sein, daß es keinesfalls immer so war, daß es ihr in Deutschland gefallen hat, ein Hinweis auch auf möglicherweise erfahrene Probleme, von denen sie im Interview nichts berichtet hat. Paula bekommt ihre Emotionen wieder unter Kontrolle, sie führt ein rationales Argument ins Feld, nämlich daß sie hier aufgewachsen sei. Dies zugleich als „Erklärung" und „Rechtfertigung" für ihre positive Gesamteinschätzung des Aufenthaltes in Deutschland. Nach diesem Prozeß des Abwägens trifft sie nunmehr ein abschließendes Urteil, zunächst zögernd, fast erschrocken über den Unterton von Endgültigkeit, der darin mitschwingt, dann (nicht zuletzt sich selbst gegenüber) noch einmal bekräftigend: „Also. ich glaub' nicht... A = also pfft... aber einmal, ich schwör, nein, eigentlich würd' ich nicht gerne nach Somalien gehen. " Bisher stand den rationalen Überlegungen ganz offenbar ein Gefühl der emotionalen Hingezogenheit im Wege. Was nun folgt, ist eine ausführliche Erzählung, der die Funktion zukommt, ihre an sich möglicherweise vorhandenen positiven Emotionen durch die Vergegenwärtigung von negativen Erfahrungen und Erlebnissen zu bekämpfen. Sie wird an verschiedenen Stellen von der eigenen Erzählung und der geschilderten Grausamkeiten richtiggehend überwältigt. Die Erzählung von der Folterdokumentation gipfelt in der Schlußfolgerung: „Und so was gibt's in Somalien! Ich dacht', des is' doch nicht mein Land:, ich = ich kenn mein Land ja, aber so, Äh: (ablehnend wie igitt), da will ich gar kein Somalier sein, wenn 's so = wenn die so was machen. Des ist end:dumm (...) Ja: ich dachte, die wär'n nett: und so, so wie hier und so und = und und durch des, wir ham in der Stadt gewohnt und so, da dacht' ich, also ich hab so paar Erinnerungen, die war'n so normal, also schön und so. Und doch nicht so verrückt, ich wußte doch nicht, daß die so was machen. So ein Gericht, das ist ja echt wie im Mittelalter." Die Erzählung hat bei Paula die Voraussetzung geschaffen, sich nunmehr gänzlich von ihrem Herkunftsland distanzieren zu können. Sie gibt sich nun nicht mehr hin- und hergerissen, ihr

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Standpunkt ist nun eindeutig. In diesem Kontext zeigt sich, daß die Berufung auf ethnische Argumente Paula fremd zu sein scheint. Selbst wenn sie die Hintergründe des Zustandekommens des Videos nicht kennt und nur über wenig Informationen betreffs der politischen Zusammenhänge der gegenwärtigen Situation in Somalia verfügen sollte, würde es naheliegen, eine Differenz zwischen den im Video auftauchenden Tätern und ihrer eigenen Person zu ziehen, etwa nach dem Muster, daß dies feindliche Clans, politische Gruppierungen etc. sein müssen. Statt dessen beschränkt sich ihre Reaktion auf die Selbstdistanzierung von ihren Landsleuten.

Auf die Aufforderung, noch etwas über ihre Familie zu erzählen, sprudelt es aus Paula nur so heraus. Paula bringt zunächst unfreiwillig deutlich indirekt zum Ausdruck, wie ihr Verhältnis zu den Eltern ist: „ich hab' nur 'ne Mutter". Der Vater ist in dieser Aussage nicht nur räumlich nicht anwesend, er ist schlicht nicht existent. Dies kommt ohne eine Spur des Bedauerns über ihre Lippen. Die drastische Formulierung dient im Gegenteil dazu, ihre Mutter „stark zu reden": „aber sie is' stark, also find' ich, weil sie alles durchgemacht, also sie hat uns, wir ham echt, also so = äh, die hat gearbeitet jetzat, jetzt arbeitet sie wieder (,) und so, wir ham äh = ähm, sie hat äh = ähm ... also sie wo = s = ähm sie hat halt gearbeitet und so und um nur, daß wir halt aus dem Heim kommen hat sie halt alles (...), daß wir aus dem Heim kommen und so ... und dann sind wir aus dem Heim gekommen". Die Mutter hat - der Kinder wegen - die Rolle des Vaters übernommen. Die Mutter wird idealisiert, ihr wird bescheinigt, sie habe (das nicht näher spezifizierte) „alles" durchgemacht - kann heißen: Bürgerkriegserfahrungen, die Organisation der Migration, die Scheidung, die Erziehung der Kinder unter den besonders schwierigen Bedingungen, der Zusammenhalt der Familie. Dem Vater wird nichts dergleichen bescheinigt. Während der leibliche Vater totgeschwiegen wird, liefert Paula über ihren sogenannten „Stiefvater" eine ausführliche Erzählung. Er erscheint in einem ausschließlich negativen Licht. Der Stiefvater hat ein Alkoholproblem und nützt die Hilfsbereitschaft ihrer Mutter in finanzieller Hinsicht aus - auch Gewalt wird zumindest angedroht - ob auch angewendet, bleibt offen. Paulas' Mutter gelingt es - gemeinsam mit ihren Kindern, wobei Paula selber trotz ihres Alters offenbar die aktivere Rolle übernimmt - mit Hilfe der Polizei und entschlossenem Handeln und trotz den der Mutter zugestandenen emotionalen Verstrickungen - das Problem zu lösen, indem der Stiefvater „in die Wüste geschickt wird". Der Stiefvater wird als „Äthiopier" bezeichnet - weshalb man mit ihm nur

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Arabisch oder Deutsch reden konnte, nicht Somalisch. Diese Information erfolgt nur zur Verdeutlichung der Erzählsituation und ist mit keinerlei Wertung verbunden - was insofern bemerkenswert ist, als hier eine „ethnische" Wertung sehr naheliegen würde: Nicht nur haben jahrzehntelange kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Somalia und Äthiopien die Geschichte beider Völker geprägt - auch bemüht sich Paula ansonsten nach Kräften, ihren Stiefvater in einem negativen Licht dastehen zu lassen: er ist potentiell gewalttätig, finanziell abhängig, faul, tendenziell kriminell, etc. Dennoch spielt sie nicht die „ethnische" Karte! Ist „Ethnizität" für Paula kein Ordnungsschema? Weshalb verspricht sie sich offensichtlich nichts davon, die Herkunft des Stiefvaters zu einem Differenzkriterium zu machen, das Abwertung und Distanz markiert? Geht sie möglicherweise davon aus, daß weißen Interviewern gegenüber eine solche Argumentation „nichts bringt", da aus der Sicht der „Weißen" alle „Schwarzen" gleich sind - ihnen mithin der „große Unterschied" zwischen Somaliern und Äthiopiern gar nicht weiß gemacht werden kann?

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Fazit

Durch die unterschiedlichen methodischen Zugangsweisen werden bei den Befragten unterschiedliche Konnotationen ausgelöst. Im Zentrum der einen Biographie stand das Thema „Gewalterfahrung", im Zentrum der anderen „Hautfarbe". Darüber hinaus bestehen wechselseitig je unterschiedliche Erwartungshaltungen bezüglich der vorhandenen Referenzsysteme bei Befragten und Interviewern.

Dies ist jedoch nicht ausschließlich methodenkritisch zu interpretieren, vielmehr entsprechen die Interviewverläufe den Alltagserfahrungen, von der viele unserer Befragten berichteten: daß sie nämlich häufig unter dem Blickwinkel ihrer „Ethnizität" betrachtet oder angesprochen werden - deutsche Jugendliche in ihrer Eigenschaft als „Experten" multikultureller Milieus, die Migrantenjugendlichen als Migrationsexperten und Repräsentanten ihrer Herkunftskulturen.

Die Interviews nehmen dadurch zwar völlig unterschiedliche Verläufe, man sollte jedoch nicht daraus schließen, daß dies ausschließlich auf die unterschiedlichen Befragungsarten zurückzuführen ist, denn es gibt in den Interviews Verweise auf spezifische Erfahrungen und Verhaltensweisen des je-

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weiligen Geschwisters. So können die Interviews aber auch zeigen, daß ganz ähnlich verlaufene Biographien zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen mit Herkunftsmerkmalen führen können. Wir können zeigen, daß diese Erfahrungen z.B. geschlechtsspezifisch differieren. Wir können außerdem zeigen, daß die Betroffenen gänzlich unterschiedliche Schlüsse aus ihrem Verwiesenwerden auf Ethnizität ziehen und daß sie gänzlich unterschiedlich mit Ethnizität - d.h. mit ihrer Herkunft, mit ihrer Hautfarbe - umgehen.

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Literatur

Dannenbeck, Clemens/Esser, Felicitas/Lösch, Hans (1997): Jugendliche in ethnisch heterogenen Milieus. Die Entwicklung multikultureller Lebenswelten als alltäglicher Prozeß. DJI-Arbeitspapier 3-131, München

Goffman, Erving (1979): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M.

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