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TEILDOKUMENT:




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Marita Bauer
Statement zur Gesprächsrunde:
Perspektiven für die Pflege und die Pflegeberufe


Die heiße Diskussion rund um die Entstehung und jetzt Umsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes hat zunächst dazu beigetragen, daß verstärkt öffentlich gemacht wurde, daß professionelle Pflegeleistungen ein notwendiges Angebot in unserer Gesellschaft sind. Gesellschaftlich darf Pflege nicht mehr als Störfaktor gesehen werden. Themen wie Tod, Behinderung, Pflegebedürftigkeit und Hilflosigkeit und die hohe Zahl alter und allein lebender Menschen fordert uns Pflegende besonders heraus, unsere gesundheitspolitische Verantwortung deutlich zu machen und der Gesellschaft den Wert unseres eigenen beruflichen Tuns bewußt zu machen, diesen Wert öffentlich zu machen und die volle Verantwortung für die Pflege zu übernehmen, uns immer weiter zu qualifizieren und ein berufliches ethisches Bewußtsein weiterzuentwickeln.

Das Ziel der professionellen Pflege ist es, den Pflege- und Hilfebedürftigen solange wie möglich das soziale Umfeld und das größtmögliche Maß an Unabhängigkeit und Lebensqualität zu erhalten bzw. wiederherzustellen.

Deshalb will Pflege im System der Gesundheitssicherung und im Rahmen der Alten- und Behindertenhilfe

  • fachlich kompetente, bedarfsgerechte Pflege und aktivierende Versorgung gewährleisten,
  • durch Information und Austausch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit aller Beteiligten ermöglichen,
  • eine Vertrauensbasis zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringern schaffen,
  • flexibel auf die Notwendigkeiten des Einzelfalles reagieren,
  • die individuelle Lebenssituation und die Selbstversorgungskompetenz respektieren und fördern.

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Nach den gesetzlichen Vorschriften soll die professionelle Pflege Leistungen erbringen wie ganzheitlich orientierte Pflege, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. Dieses ist u.a. in den „Gemeinsamen Grundsätzen und Maßstäben zur Qualität und Qualitätssicherung einschl. des Verfahrens zur Durchführung und Qualitätsprüfung nach § 80" SGB XI beschrieben.

Die Pflege alter, kranker und behinderter Menschen ist aber oftmals fließend und schwer voneinander zu trennen, auch wenn die gesetzlichen und leistungsrechtlichen Vorgaben dieses verlangen. Wir erachten es von daher für notwendig, mit Bedingungen zu schaffen, unter denen beruflich Pflegende ihren Auftrag auch fachlich kompetent durchführen können. Hierfür sind zunächst von allen Beteiligten einige grundsätzliche Voraussetzungen zu beachten.

Pflege ist ein eigenständiger Beruf und selbständiger Teil des Gesundheitswesens und für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit, die Pflegeplanung, Kontrolle der Durchführung und Bewertung der Pflege zuständig und für die eigene Aus-, Fort- und Weiterbildung verantwortlich.

Pflege ist von der/dem Altenpflegerin, Altenpfleger, Kinderkrankenschwester, Kinderkrankenpfleger, Krankenschwester, Krankenpfleger zu koordinieren und die Tätigkeiten der eventuell einzusetzenden Hilfskräfte entsprechend zu überwachen. Eine kompetente professionelle Pflege braucht systematisiertes und fundiertes Wissen, um den komplexen Bedürfnissen des Menschen und der für ihn wichtigen Bezugsperson in der gegebenen Situation entsprechend gerecht zu werden. Originäre pflegerische Aufgaben an ergänzende Berufe abzugeben, würde eine Gefährdung der umfassenden Pflege bedeuten. Unausgebildete Helfer in der Pflege bedürfen von uns der Beratung, Anleitung und Kontrolle, um einerseits ein Absinken der Pflegequalität zu verhindern und anderseits eine Überforderung der Helfer zu vermeiden. Dieses zu berücksichtigen, ist aus unserer Sicht langfristig die kostengünstigste Lösung. Im Sinne der Qualitätssicherung und einem eindeutigen Angebot für die Leistungsempfänger erachten wir es für unerläßlich, daß für die professionelle Pflege gesetzlich Vorbehaltsaufgaben festgelegt werden. Nur so kann die Bevölkerung vor unsachgemäßer Pflege geschützt werden.

Bei der Umsetzung des Gesetzes muß sehr aufgepaßt werden, daß die berechtigten Ansprüche der zu Pflegenden und der Pflegenden auch erfüllt

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werden. Die derzeitigen Diskussionen um die Qualität der Pflegeleistungen haben eine Spannbreite, die selbst im Spagat nicht mehr zu bewältigen ist. M.E. haben alle beteiligten Verantwortlichen nicht die ausreichende Phantasie, sich vorzustellen, daß die Pflege, die sie heute mit bestimmen oder verursachen, die Qualität der Pflege ist, die sie selbst in nicht allzu langer Zeit erfahren. Was halten Sie davon, wenn Ihnen ab morgen vorgegeben wird: Baden - Montag früh; Zähneputzen - Dienstag abend; Mittwoch - kleine Körperpflege; Donnerstag - Waschen mit Aufstehen oder ähnliches?

Zur Ausbildungssituation

Auch in diesem Jahr findet ein großer Anteil der ExamensabsolventInnen der Ausbildung Krankenpflege nur schwer einen Arbeitsplatz im Bereich der stationären Akutversorgung. Dieses wird sich in den nächsten Jahren bei einer weiteren Bettenstreichung noch verstärken. Die Ausbildung der Krankenpflege ist aber derzeit noch stark an der Krankenversorgung im Akutbereich ausgerichtet, so daß junge Berufskollegen sich für Arbeitsbereiche (in der ambulanten Versorgung oder im Heimbereich) bewerben müssen, für die sie nicht ausreichend vorbereitet sind. Ihnen wird so die Möglichkeit genommen, unter der Begleitung erfahrener Kollegen Berufserfahrung zu sammeln.

Gleichzeitig sind und werden nach unseren Beobachtungen in der ambulanten Versorgung und im Heimbereich aus Kostengründen verstärkt geringer Qualifizierte (z.B. mit 6-Wochen-Kursen) eingestellt. Der DBfK befürchtet, daß diese jungen Kollegen sich andere Arbeitsbereiche suchen und somit der Pflege langfristig nicht mehr zur Verfügung stehen. Bedingt durch die Einsparzwänge stellen Krankenhäuser zunehmend Überlegungen an, die Anzahl der Ausbildungsplätze in der Krankenpflege zu kürzen oder ganz zu streichen, parallel hierzu werden Pseudoausbildungen kreiert und z.T. auch über die Arbeitsämter finanziert. U.E. wird auch durch diese Entwicklungen ein erneuter Pflegenotstand für die nächsten Jahre vorbereitet.

Mögliche Strategien, diese Entwicklung aufzuhalten, wären:

  • Beteiligung aller Gesundheits- und Sozialeinrichtungen und damit auch der Sozialversicherungsträger an den Ausbildungskosten,

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  • Novellierung des Krankenpflegegesetzes, Schaffung einer integrierten Ausbildung für die Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege,
  • Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen, die auf die veränderten Arbeitsbereiche der Pflege vorbereiten (nicht nur für die neuen KollegInnen, sondern auch für die KollegInnen der Überhänge),
  • Abbau von Pseudoausbildungen oder neuer Berufskreationen für den Pflegebereich,
  • Festschreibung der Ausbildungsqualität in einem bundeseinheitlichen Rahmenlehrplan.

Entwicklung in den stationären und ambulanten Einrichtungen nach dem SGB XI

Neben der Bewältigung allgemeiner Umsetzungsprobleme durch die Umwandlung von Akutbetten, Krankenheimen und Krankenhäusern für chronisch Kranke in Pflegeplätze nach dem SGB XI wurde deutlich, daß auch für diese Pflegebereiche ein analytisches Konzept für eine Pflegepersonalberechnung dringend erforderlich ist, um ein qualifiziertes Pflegeangebot zu erhalten. Die Möglichkeiten der ambulanten pflegerischen Versorgung sind auch in Fachkreisen noch nicht hinreichend bekannt, bzw. es fehlen pflegerische Vernetzungsstellen.

Um in dem ambulanten und stationären zukünftig noch größer werdenden Pflegebereich die Qualität zu sichern und weiterzuentwickeln, halten wir u.a. folgende Maßnahmen für dringend erforderlich:

  • Rechtzeitige Einbeziehung der Pflege in Strukturentscheidungen,
  • Unterstützung bei der gesetzlichen Festschreibung von Vorbehaltsaufgaben für die Pflege,
  • Einbeziehung der Pflegeverbände in die Landes- und Bundespflegeausschüsse,
  • Schaffung eines analytischen Konzeptes für die Pflegepersonalberechnung,
  • Festschreibung und Überprüfung von Qualifikationsstandards.

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Arbeitsplatzangebote

Die politisch initiierten Veränderungen des Gesundheits- und Sozialwesens, den ambulanten Versorgungsbereich zu Lasten des stationären Versorgungsbereiches auszubauen, erfordern eine rechtzeitige Vorbereitung und Einbeziehung aller Berufsgruppen.

Die neuen Arbeitsplatzmöglichkeiten sind trotz umfangreicher Informationen durch die Pflegeverbände noch nicht ausreichend bekannt. Es gibt immer noch keine aussagefähige Statistik über den Pflegebereich, d.h.: Wer ist wo mit welcher Qualität tätig? Welche Qualifizierungsangebote sind für welchen Bereich erforderlich? Welche Pflegefachkräfte stehen für welche Arbeitsplätze zur Verfügung? Um Veränderungen im Pflegebereich gezielt und effektiv zu gestalten, ist es notwendig, statistische Daten über den Pflegebereich zu erheben und auszuwerten und die Pflegeverbände an Qualitätsentwicklungs- und Überprüfungsmaßnahmen zu beteiligen.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß wir uns als Berufsgruppe gern den hohen Qualitätsansprüchen des Gesetzes stellen und diese auch erfüllen wollen. Allerdings dürfen der Gesetzgeber und die Kostenträger hierbei nicht glauben, daß dieses für einen „Liebeslohn" zu erhalten ist. Im Sinne der Pflegebedürftigen, der Angehörigen und auch der Berufsgruppe Pflege muß endlich mit dem Gerangel um Vergütungen Schluß gemacht werden. Es müssen vielmehr leistungs- und qualifikationsgerechte Personal- und Vergütungsstrukturen geschaffen werden, denn unsere Gesellschaft benötigt auch zukünftig professionelle qualitative Pflege mehr denn je.

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Sylvia Bühler
Statement zur Gesprächsrunde:
Perspektiven für die Pflege und die Pflegeberufe


Altenpflege - wenn der Beruf zur Belastung wird

Achtzigjährige gehen erstmals in ihrem Leben auf die Straße. Gemeinsam mit ihren Angehörigen und Altenpflegerinnen demonstrieren sie gegen die aufziehende Gefahr einer Zwei-Klassen-Pflege. Groß ist die Enttäuschung bei all jenen, die gehofft hatten, die Pflegeversicherung würde die Situation in der Altenpflege verbessern. Aber nun müssen ganz im Gegenteil Pflegebedürftige und Beschäftigte in den Pflegeheimen befürchten, daß künftig nur noch diejenigen eine gute und humane Pflege erhalten, die es sich finanziell leisten können. Für die anderen wird es nur noch eine Grundversorgung geben. Doch diese „Satt-Sauber-Still"-Pflege lehnen qualifizierte Altenpflegerinnen und Altenpfleger entschieden ab. Schon unter den jetzigen Bedingungen ist die psychische und physische Belastung von Pflegekräften enorm. Für viele ist sie unerträglich. Innerhalb des ersten Berufsjahres steigt ein Viertel der gerade ausgebildeten Pflegekräfte wieder aus. Nach fünf Jahren arbeiten nur noch die wenigsten in ihrem erlernten Beruf. Zu kraß ist der Unterschied zwischen den ursprünglichen Vorstellungen und dem harten Pflegealltag.

Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim hat in diesen Tagen eine Studie abgeschlossen, die die Auswirkungen der Pflegeversicherung in 15 Mannheimer Heimen ein Jahr nach Einführung der 2. Stufe der Pflegeversicherung auf die Beschäftigten untersucht. Es zeichnen sich erschreckende Trends ab: Aus Sicht der Pflegenden haben Handlungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume abgenommen. Das Arbeitsklima innerhalb der Pflegeteams hat sich verschlechtert. Es gab eine deutliche Zunahme körperlicher und psychischer Beanspruchungen wie Gelenks- und Wirbelsäulenerkrankungen, Schlafstörungen und depressive Symptome. In Anbetracht der Tatsache, daß die von uns befürchteten negativen Auswirkungen der Pflegeversicherung erst in den nächsten Monaten voll auf den Arbeitsalltag der Beschäftigten durchschlagen werden, sind die genannten Trends mehr als beängstigend.

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Im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in der Altenpflege ab. Während in der Fachwelt der Ansatz einer aktivierenden, ganzheitlichen Altenpflege nie umstritten war, wird von seiten der Pflegekassen nur die kurative Pflege akzeptiert. Nicht die Qualität der Pflege und Betreuung steht im Mittelpunkt ihrer Überlegungen, sondern ausschließlich die Kosten. Die Debatte um den Standort Deutschland und die Finanzierbarkeit des Sozialstaates hat nun auch die Altenpflege erreicht. Die Anleitung zur Selbständigkeit und die Betreuung altersverwirrter Menschen wird völlig ungenügend berücksichtigt. Während die Pflegebedürftigkeits-Richtlinien noch auf aktivierender Pflege aufbauen, beruhen die Begutachtungs-Richtlinien und die Bewertungen für einen leistungsgerechten Kostenrahmen nur auf einem akutmedizinischen Pflegeverständnis. Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner der Altenpflegeheime ist geistig verwirrt oder psychisch krank. Der damit verbundene hohe Betreuungsbedarf wird außen vorgelassen. Der Hilfsanspruch wird reduziert auf eine minimale Befriedigung der Grundbedürfnisse. In den neu verabschiedeten Begutachtungs-Richtlinien wurden für die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens Zeitkorridore definiert. Neben der Hauptkritik, daß diese Zeitkorridore nicht wissenschaftlich begründbar sind, sondern nur fragwürdige Erfahrungswerte widerspiegeln, befürchten wir, daß unter den derzeitigen mangelhaften Vorgaben aus dem erforderlichen Hilfebedarf nicht die dafür notwendige Zeit abgeleitet wird, sondern daß sich faktisch der Hilfebedarf nach dem vorgegebenen Zeitkorridor ergibt.

Die Konzentration auf körperliche Fähigkeiten beziehungsweise Defizite bedeutet, daß bereits bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit Hilfen, die aufgrund altersbedingter kognitiver Störungen angezeigt wären, in erheblichem Umfange ausgegrenzt und folglich entsprechende Leistungen verweigert werden. Die Leistungen Anleitung, Beaufsichtigung, Überwachung und psychosoziale Betreuung von gerontopsychiatrisch veränderten Menschen werden nur gewährt, wenn sie in unmittelbarem Zusammenhang mit einer körperlich bedingten Pflegebedürftigkeit stehen.

Die derzeit geführte Diskussion darüber, was Altenpflege umfaßt, ist letztendlich auch ein Angriff auf die Fachlichkeit des Berufs der Altenpflegerin. In Zeiten knapper Gelder darf man endlich wieder die Auffassung vertreten: „Pflegen muß man doch wohl nicht lernen, das können Frauen auch ohne

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Ausbildung. Wichtig ist vor allem, daß man sich engagiert, genügend Einfühlungsvermögen besitzt und ausreichend Geduld mitbringt." Wie wenig man sich bei den Pflegekassen und in den Ministerien damit auseinandergesetzt hat, was professionelle Altenpflege alles beinhaltet, das wird spätestens in solchen oder ähnlichen Äußerungen deutlich. Wahrscheinlich ist es auch kein Zufall, daß es überwiegend Männer sind, die den Frauenberuf „Altenpflegerin" systematisch entwerten. Vermeintliche Sparkommissare vertreten derzeit vehement die Auffassung, man müsse die Tätigkeiten der Altenpflege aufspalten, nämlich in solche Tätigkeiten, die von qualifizierten Altenpflegerinnen ausgeführt werden sollten, und in solche, die von angelernten Hilfskräften verrichtet werden können. Bei einer näheren Betrachtung wird schnell klar, daß diese Zuordnung aus fachlicher Sicht oftmals unhaltbar ist. In weiten Teilen entspricht sie nicht mehr dem Verständnis und dem Erkenntnisstand einer ganzheitlichen, aktivierenden Pflege.

Besonders deutlich wurde die fatale Fehleinschätzung der Kassenvertreter hinsichtlich Pflege allgemein auch im Zusammenhang mit dem sogenannten Abgrenzungskatalog in der häuslichen Pflege. Bisher fachlich anerkannte Tätigkeiten aus der Behandlungspflege sollten der Grundpflege zugeordnet und damit nicht mehr von den Krankenkassen finanziert werden. Man ging davon aus, daß diese Tätigkeiten von Angehörigen oder theoretisch auch vom Kranken selbst ausgeübt werden können. Vertreter der Pflegekassen können anscheinend nicht nachvollziehen, warum es einen erheblichen Unterschied macht, ob sich ein fünfzigjähriger Zuckerkranker selbst Insulin spritzt oder ob einer siebenundachtzigjährigen, schwerpflegebedürftigen Frau, die keine Einsichtigkeit mehr in ihre Behandlung hat, Insulin gespritzt werden muß. Erst massive Proteste haben bewirkt, daß der Abgrenzungskatalog in seiner ursprünglichen Form nicht umgesetzt wird.

Neben verschlechterten Arbeitsbedingungen droht Altenpflegerinnen und Altenpflegern zunehmend sogar Arbeitslosigkeit. Bei den aktuell laufenden Pflegesatzverhandlungen zwischen Pflegekassen und Einrichtungsträgern wollen die Kassen das von ihnen entwickelte sogenannte Standard-Pflegesatz-Modell (SPM) durchsetzen. Das Instrument, den Kostenrahmen über eine Durchschnittseinrichtung zu definieren, ist rechtswidrig, denn laut SGB XI sind leistungsgerechte Pflegesätze zu vereinbaren. Dem SPM liegt nicht einmal der in der Heimpersonal-Verordnung vorgegebene Personalanteil von mindestens 50 Prozent Fachkräftequote für betreuende Tätigkeiten zu-

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grunde. In öffentlichen Verlautbarungen beteuern Vertreter der Pflegekassen, selbstverständlich einrichtungsbezogen zu verhandeln. Erste Erfahrungen aber zeigen die Entschlossenheit der Kassen, die Pflegesätze zu drücken.

Für viele Heime würde das SPM Einbußen von 20 bis 30 Prozent bedeuten. Die Pflegekassen gehen fälschlicherweise davon aus, daß es bei den Einrichtungen große Einsparmöglichkeiten gibt. Doch die Pflegeheime sind längst an ihren wirtschaftlichen Grenzen angelangt. Bereits 1993 wurde im Sozialhilferecht das Selbstkostendeckungsprinzip faktisch abgeschafft. Seit dieser Zeit sind die Pflegesätze mehr oder weniger eingefroren. Bei einem Personalkostenanteil von durchschnittlich 70 Prozent ist bei weiterem finanziellem Druck Personalabbau vorprogrammiert. Die Beschäftigten in den Pflegeheimen müssen um ihre Arbeitsplätze bangen. Das Heer der Arbeitslosen wächst weiter. Ganzheitliche Pflege ist personalintensiv, Personalabbau bedeutet deshalb automatisch auch einen Abbau der bewährten Pflegequalität.

Auch in der ambulanten Pflege werden Sozialstationen und private Pflegedienste bei den Vergütungsverhandlungen unter Druck gesetzt. Bei einem Personalkostenanteil von bis zu 90 Prozent haben die Leistungsanbieter fast gar keine andere Möglichkeit, als qualifiziertes Personal durch billigere Hilfskräfte zu ersetzen, natürlich auch hier auf Kosten der Pflegequalität. In Anbetracht eines Finanzpolsters in der Pflegeversicherung von 4,5 Mrd. DM ist diese Entwicklung ein Skandal. (Die immer wieder genannten 8,5 Mrd. DM sind irreführend, da 4 Mrd. DM fest gebunden sind, z.B. durch gesetzlich vorgeschriebene Rücklagen.) Es gibt gute Vorschläge, wie die Überschüsse zu verwenden seien. Aber statt über Qualitätssicherung in der Altenpflege nachzudenken, wecken die Milliarden seltsame Begehrlichkeiten. Die Arbeitgeber wollen Geld zurück. Anscheinend hat man auf Arbeitgeberseite völlig vergessen, daß die Bundesregierung aufgrund der starken Arbeitgeber-Lobby politisch entschieden hat, die Unternehmen durch das Pflegeversicherungsgesetz finanziell nicht zu belasten. Bekanntlich wurde daraufhin ein Feiertag, der Buß- und Bettag, gestrichen. Damit wird der Arbeitgeberanteil am Beitrag kompensiert. Im Rahmen der Einführung der 2. Stufe der Pflegeversicherung versprach die Bundesregierung den Arbeitgebern außerdem, noch weitere Einsparungen im Gesundheitswesen vorzunehmen. Die Folgen sind bekannt: das sozial- und gesundheitspolitisch fatale Bei-

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tragsentlastungsgesetz und die 3. Stufe der Gesundheitsreform. Die Pflegeversicherung wird faktisch alleine von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bezahlt. Daß trotz dieser Kompensation nun gefordert wird, den Beitragssatz zu senken, offenbart die Maßlosigkeit der Arbeitgeber. Auch der Wirtschaftsminister denkt laut darüber nach, die Gelder für seinen maroden Haushalt zu verwenden. Doch zum Stopfen der Haushaltslöcher wurde die Pflegeversicherung nicht eingerichtet. Das Geld muß den Pflegebedürftigen zugute kommen.

Was wir in der Altenpflege derzeit erleben, ist auch ein Ergebnis des politisch gewollten Wettbewerbes im Gesundheitswesen. Hier zeigt sich ganz deutlich: Der Wettbewerb wird weder Qualität steigern noch Bedarfsgerechtigkeit fördern. Das Gesundheitswesen generell und damit auch die Altenpflege ist kein Markt wie jeder andere. Es gelten andere, ganz eigene Gesetze. Wer diesen Bereich ausschließlich dem Wettbewerb überläßt, hat maßgeblich mitzuverantworten, wenn die Altenpflege sich bundesweit auf niedrigstem Niveau einpendelt. Aber wahrscheinlich brauchen sich die Entscheidungsträger um ihre eigene Versorgung im Alter auf hohem Niveau keine Sorgen machen.

Wie der Bundesarbeitsminister vor einigen Tagen in Anbetracht der großen Probleme in der stationären Altenhilfe eine durchweg positive Bilanz der Pflegeversicherung ziehen konnte, ist wohl ausschließlich mit den Bundestagswahlen im nächsten Jahr zu erklären. Wenn Pflegekräfte verhindern wollen, daß die Erfolge der letzten Jahre hinsichtlich der Anerkennung ihres Berufes innerhalb kürzester Zeit zunichte gemacht werden, müssen sie schleunigst aufstehen und sich zur Wehr setzen. Es ist kein Geheimnis, daß Altenpflegerinnen und Altenpfleger nicht gerade zu den Berufsgruppen mit dem höchsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad gehören. Für die Interessen der ihnen anvertrauten alten Menschen haben sie ihre eigenen Interessen bisher immer hintenangestellt. Aber ich sage den Kolleginnen und Kollegen ganz deutlich: „Wenn Ihr Euch jetzt nicht schnell um Eure Interessen kümmert, könnt Ihr für die alten Menschen auch nichts mehr tun. Dann ist der Zug der professionellen Altenpflege aufs Abstellgleis gestellt."

Die Interessen der Pflegebedürftigen sind untrennbar mit denen der Pflegekräfte verbunden. Wie wichtig gute Arbeitsbedingungen, eine umfassende Qualifikation der Beschäftigten und gesicherte Arbeits- und Einkommensverhältnisse für die Motivation und die Arbeitszufriedenheit von Beschäftig-

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ten und damit für die Arbeitsergebnisse sind, erläutern Organisations- und Personalberater den Unternehmen täglich - für viel Geld. Warum will dies ausgerechnet in einem solch sensiblen Bereich wie der Altenpflege kein Kostenträger zur Kenntnis nehmen. Die öffentlichen Beteuerungen, daß die Qualität der Altenpflege gewährleistet bleiben muß, stehen im eklatanten Widerspruch zur tatsächlichen Entwicklung.

Das Zukunftsszenario in der Altenpflege sieht wenig erfreulich aus, wenn wir nicht schleunigst alle Kräfte bündeln, um diesen Prozeß zu stoppen:

  • Qualifizierte Frauenarbeitsplätze werden vernichtet,
  • erhebliche Arbeitsverdichtung für die verbleibenden Beschäftigten,
  • weitere Ausgliederungen von Dienstleistungsbereichen,
  • ein steigender Anteil geringfügig beschäftigter Hilfskräfte, ohne Sozialversicherungspflicht,
  • die Einführung kapazitätsorientierter Arbeitszeiten,
  • Versuch der Tarifflucht der Einrichtungsträger, um Löhne und Einkommen zu drücken.

Leidtragende dieser Entwicklung sind nicht nur die Beschäftigten, sondern natürlich auch die Pflegebedürftigen. Denn zwangsläufig führt dies zu einer erheblichen Reduzierung der Pflegequalität.

Auch die Gewerkschaft ÖTV fordert eine Weiterentwicklung in der Altenpflege. Aber unter völlig anderen Vorzeichen.

Wir empfehlen den Einrichtungsträgern seit langem, ihre Einrichtungen und Dienste entweder selbst auszubauen oder im Interesse der Pflegebedürftigen verbindliche Kooperationen mit anderen Dienstleistern einzugehen. Das Angebot für Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege muß weiterentwickelt werden. Vorpflegerische und pflegeergänzende Dienstleistungen könnten ausgebaut werden.

Auch in diesem wichtigen Teilbereich der Gesundheitsversorgung muß es differenzierte Dienstleistungsangebote geben, die mit anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung vernetzt werden müssen. Die Gewerkschaft ÖTV fordert seit langem vom Gesetzgeber grundlegende Strukturreformen, die eine integrierte Gesundheitsversorgung ermöglichen und fördern.

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Die Gewerkschaft ÖTV setzt sich dafür ein, daß es endlich eine bundeseinheitliche Ausbildung für Altenpflege gibt. Als langfristiges Bildungskonzept fordern wir die einheitliche Grundausbildung zur Pflegefachkraft mit darauf aufbauenden Weiterbildungen in unterschiedlichen Fachrichtungen, z.B. Altenpflege, psychiatrische Pflege, Kinderkrankenpflege und Leitung des Pflegedienstes.

Das SGB XI und seine Durchführungsbestimmungen bedürfen einer grundlegenden Reform und Überarbeitung, damit alte Menschen auch in Zukunft noch in Würde im Pflegeheim leben können. Dafür macht sich die Gewerkschaft ÖTV stark.

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Birgit Hoppe
Statement zur Gesprächsrunde:
Perspektiven für die Pflege und die Pflegeberufe


Die positiven Auswirkungen der Pflegeversicherung auf die Alten- und Krankenpflege sind schnell benannt: Es hat ein Schub zur Neuorientierung eingesetzt, die Entwicklung von Qualitätsstandards wird befördert: Alten- und Krankenpflege profilieren sich in der Begründung ihres Tätigkeitsspektrums, in Anforderungs- und Leistungskatalogen. Verbunden damit sind häufig konzeptionelle Neuorientierungen bei Trägern von Einrichtungen und Diensten.

Damit ist dann aber bereits schon das Positive benannt - und der Nachsatz lautet: Pflege begründet sich infolge der Pflegeversicherung nun gegenüber einer Begutachtungsstruktur, die gravierende Verluste von Fachlichkeit impliziert. Umorientierungen erwachsen aus dem Impuls, eine neue Balance zu finden zwischen Wirtschaftlichkeit und Fachlichkeit, die der Würde, der Lebens- und Arbeitsqualität der Menschen in der Pflege gerecht wird.

Ob dies gelingt, ist derzeit noch offen. Und ob der von den MitarbeiterInnen in der Altenhilfe erlebte Druck Platz gibt für kreative Lösungen, mag ebenso dahingestellt sein. Derzeit überwiegt jedenfalls bei den unmittelbar in der Pflege alter Menschen Tätigen Resignation und Frustration über die fundamentale Gefährdung einer fachlich angemessenen und an der Individualität der pflegebedürftigen Person ausgerichteten Pflege. Knappe Zeitbemessungen für die einzelnen Pflegeverrichtungen korrespondieren zunehmend mit einer hohen Schematisierung von Handlungsabläufen: Dokumentation und Nachweispflichten grenzen die konkreten Betreuungs- und Pflegetätigkeiten immer mehr ein. Und schließlich gilt die einfache Gleichung: Sind die MitarbeiterInnen in den Diensten die Verlierer - und das ist das Fazit vieler Alten- und Krankenpflegekräfte vor allem in der Altenhilfe derzeit -, sind es die Menschen, die der Pflege bedürfen, auch.

Daß auch vor der Pflegeversicherung in Einrichtungen und Diensten der Altenhilfe das Ziel einer am einzelnen Menschen orientierten Pflege nicht immer verwirklicht war, mindert diese Aussagen nicht. Denn ging es in den

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letzten Jahren noch um fachliche Entwicklung, scheint jetzt schon der Erhalt des Status quo als das maximal Erreichbare. Dies ist vollends unverständlich angesichts der Tatsache, daß mit der Pflegeversicherung mehr Geld in die Kassen gekommen ist. Verkehrte Zeiten, in denen man schon froh ist, wenn keine Rückschritte eintreten: und das noch dazu in einem Sektor, für dessen strukturelle Entwicklung, siehe zum Beispiel die noch junge Heimpersonalverordnung, noch viel zu tun war und ist.

Die folgenden Aussagen zu den negativen Wirkungen der Pflegeversicherung auf die Professionen in der Pflege und die Fachlichkeit skizzieren diese Tendenz.

1. Fachlichkeit

- Pflege in der Praxis definiert sich zunehmend nicht mehr über die Frage: „Was ist notwendig?", sondern: „Was wird bezahlt?"

Eine Erläuterung dieser Aussage erübrigt sich zunächst. Allerdings reicht die Wirkung ökonomischer Steuerung weiter, als es auf den ersten Blick erscheint. Schließlich folgt die oben skizzierte verstärkte Dokumentation pflegerischer Tätigkeiten, da sie auf die Einstufung gemäß Pflegeversicherungsgesetz zielen, dem eingeschränkten Fokus der Begutachtungsrichtlinien, die ausschließlich einem defizitären Krankheitsbild folgen.

Faktisch wird dieses Leiden an den begutachteten Menschen sichtbar. Sich selbst so gut wie möglich darzustellen, ist der psychisch unmittelbar nachvollziehbare Impuls eines Menschen, der sich noch nicht aufgegeben hat. Alten- und Krankenpflegekräfte kennen die enormen Anstrengungen, die ihrerseits unternommen werden müssen bzw. die es den alten Menschen kostet, damit der tatsächliche Umfang an Hilfebedürftigkeit auch eingestanden wird.

„Nach dem Besuch des Medizinischen Dienstes der gesetzlichen Krankenversicherung haben wir dann häufig tagelang zu tun, um dem alten Menschen die notwendige Grausamkeit der ungeschönten Begutachtung begreiflich zu machen und ihn wieder aufzubauen," heißt es häufig von MitarbeiterInnen in der Pflege: psychosoziale Leistungen als Bestandteil der Pflege, die in den Begutachtungsrichtlinien nicht anerkannt werden. Eine Regelung, die nicht nur in dem hier skizzierten Kontext absurd ist.

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- Pflege droht zur reinen Zeittaktpflege zu werden.

Individuelles Handeln in der Pflege als fachlicher Standard bleibt auf der Strecke. In der Pflege Tätige stecken im direkten und übertragenen Sinn zunehmend in sogenannten Zeitkorridoren, die sie zu einer hohen Schematisierung ihrer Arbeitsabläufe zwingen. Statt Qualität dominiert Quantität: Denn nicht das „Wie" einer Pflegehandlung interessiert, sondern das „Wie lange". Die neu geschaffenen Zeitkorridore in den seit Juni gültigen Begutachtungsrichtlinien, die eine individuelle Einschätzung des zeitlichen Pflegebedarfs vorsehen, werden daran nichts grundsätzlich verändern, da diese sich unverändert nur auf den Bedarf bei körperlicher Pflege und Hilfestellung beziehen.

Pflegequalität, definiert als Übereinstimmung zwischen tatsächlicher und gewünschter Pflege, ist damit unmittelbar in Frage gestellt. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Übereinstimmung mit dem, was der Mensch mit Pflegebedarf an Pflege wünscht.

- Psychosoziale Bedingungen von Gesundheit und Krankheit werden in den Richtlinien zur Pflegeversicherung negiert.

Kenntnisse, die fast schon zu Allgemeinplätzen der Gerontologie bzw. der Pflegewissenschaften geworden sind, stehen zur Disposition.

Das zweite Skandalon ist, daß damit der Bedarf an Pflege und Betreuung der psychisch Erkrankten nicht zur Kenntnis genommen wird: Demenzerkrankungen und Depressionen, die einen immens hohen Pflegebedarf haben, werden so einer schlechtestenfalls rein medikamentösen Behandlung übereignet.

Aber: Der depressive oder demente Mensch löst sich auch dann nicht in Luft auf, wenn man sich die Beschäftigung mit ihm nicht leisten kann oder will.

- Statt einer individuellen Pflege fördern die in der Diskussion befindlichen Modelle, z.B. das Standardpflegesatzmodell, eine individualisierte Strategie der Arbeitsbewältigung in der Pflege. Erfordernisse für Struktur- und Prozeßqualität stehen zur Disposition.

Die ausschließliche Orientierung in der Begutachtungspraxis an den Tätigkeiten direkter Pflege mit den ermittelten Zeitwerten, blendet die Erfordernisse für die Sicherstellung von Struktur- und Prozeßqualität von Pflege aus, obwohl diese als Standards vom Gesetzgeber verlangt werden.

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Gleichzeitig wachsen die Anforderungen an die Professionen in der Pflege, mit den verschiedensten Berufsgruppen, den Institutionen und den Angehörigen vermehrt zu kooperieren, ohne die Basis dafür zu schaffen.

2. Professionen

- Der ökonomisch gesteuerte Eingriff in die Fachlichkeit der Pflege gefährdet den Bestand der Professionen, qualitativ wie quantitativ.

Die erst jüngst erfolgte Initiative seitens des Bundes, einen neuen Beruf für die häusliche Pflege zu kreieren, zweijährig qualifiziert, also unterhalb des Fachkräftestatus, spricht eine deutliche Sprache. Zwar haben die Länder diesen Vorstoß einvernehmlich abgelehnt, doch ist allein die Tatsache eines solchen Vorgehens angesichts der Vielfalt der Berufe im Feld personenorientierter Dienstleistungen und der Diskussionen um ihre Neuordnung eine deutliche Absage an fachliche Standards. Doch ist dies nicht der einzige Sektor, in dem bekanntlich an Qualifizierungsstandards gesägt wird: Die Heimpersonalverordnung, die sowieso nur einen 50prozentigen Fachkräfteanteil vorschreibt, wird immer wieder ins Gespräch gebracht. Auf einmal taucht in den Berechnungen des Standardpflegesatzmodells nur ein Fachkräfteanteil von 40 Prozent auf usf. Daß gerade in den hochkomplexen Situationen der Altenpflege eine hohes Maß an Qualifikation erforderlich ist und daß Altenpflege aufgrund der hohen Arbeitsverdichtung, aber auch des personenorientierten Ansatzes nicht beliebig auf Personen je nach Qualifikationsbedarf aufteilbar ist, sollte eigentlich hinlänglich bekannt sein und keiner Diskussion mehr bedürfen. Zudem handelt es sich zumeist um Eins-zu-Eins-Personenbeziehungen. Ergo?

Insgesamt erfährt Pflege als Profession eine Abwertung in Richtung Laisierung der Pflege.

- Politische Initiativen zu einer zunehmenden Laisierung der Pflege bzw. Absenkung von Qualifizierungsstandards stehen in der Tradition eines Umgangs mit Frauenberufen, der diese als Spielball konjunktureller Veränderungen betrachtet.

Daß Frauen, wenn es darauf ankommt, die Pflege ihrer Angehörigen auch geringfügig bezahlt und auf Kosten ihrer beruflichen Perspektiven zu leisten gezwungen (Stichwort Frauenarbeitslosigkeit) bzw. zu übernehmen bereit

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sind (Stichwort Dominanz der Angehörigenpflege durch Frauen), scheint als eine gesellschaftlich immer noch tragfähige Strategie der Verteilung von Lasten betrachtet zu werden.

- Daß gerade die psychosozialen Dimensionen von Langzeitpflegebedürftigkeit von der Pflegeversicherung als nicht der Pflege zugehörig betrachtet werden, kann in einem strukturellen Kontext zu den tradierten Geschlechtsrollenzuschreibungen betrachtet werden.

Psychische Hilfestellungen werden zugunsten von abgrenzbaren Leistungen ausgegrenzt, psychosoziale Kompetenz wird abgewertet.

Der Mensch mit Pflegebedarf, der Beratungs- und Betreuungsbedarf hat, ordnet sich dieser Leistungsbegrenzung natürlich in seinen Erwartungen an die Pflegeperson nicht unter. Die immensen psychischen Belastungen des Pflegebedürftigen und der Pflegefachkraft werden damit zum privat - und damit unbezahlt - auszuhandelnden Konflikt.

3. Konsequenzen

- Alten- und Krankenpflegekräfte müssen offensiv auf fachlichen Standards bestehen

Für den Altenpflegeberuf zielt dies insbesondere auf sein sozialpflegerisches Profil. Hier dürfen, erst recht aufgrund der oben beschriebenen Situation, keine Kompromisse gemacht werden. Dies schließt eine klare Absage an eine gemeinsame Ausbildung mit den Krankenpflegeberufen ein.

- Rahmenbedingungen der Qualifizierung müssen dahingehend weiterentwickelt werden, daß sie einen klaren Platz im System beruflicher Bildung einnehmen, damit entsprechend Attraktivität und Aufstiegswege der Berufe gewährleistet sind.

Was die Einordnung ins System beruflicher Bildung betrifft, so ist diese für die Altenpflegeausbildung, da sie in der Mehrzahl der Länder nach Schul-

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Hinweis:

Diese Seite ist in der Original-Druckausgabe ein Fehldruck.
Da die Online-Ausgabe nach der Druckausgabe als Vorlage erarbeitet wurde, war der Text leider nicht mehr zu rekonstruieren.

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zeigt auch, daß die Akademisierung der Pflege die Realitäten der Altenpflege als Beruf und Tätigkeitsfeld nur unzureichend wahrnimmt. Die notwendige Verzahnung der Erkenntnisse von Gerontologie und Pflege steckt auf der Ebene der Fachhochschulen allenfalls in den Anfängen: eine Aufgabe, die in der nächsten Zeit aufgrund der oben beschriebenen Tendenz eines rein somatischen Blickes auf Krankheit vorrangig anzugehen ist.

Fazit

Durch die Pflegeversicherung werden die fachlichen Standards und die Professionen in der Pflege, Beratung und Betreuung gegenwärtig zum Spielball ökonomischer Neuverteilungen: Das kann nicht hingenommen werden, noch nicht einmal aus ökonomischen Erwägungen. Geminderte Pflege- und Betreuungsqualität produziert höhere Pflegekosten, verschwendet Investitionen, die in die Ausbildung gegangen sind, und gefährdet qualifizierte Arbeitsplätze, noch dazu in einer „Wachstumsbranche".

Der Qualitäts- und Qualifizierungsschub, den die Pflegeversicherung bringen sollte, steht für die Berufe in der Pflege ebenso wie für die Menschen mit Pflegebedarf noch aus!

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Harald Kesselheim
Statement zur Gesprächsrunde:
Perspektiven für die Pflege und die Pflegeberufe


Mit der Pflegeversicherung ist nicht nur ein zusätzlicher Versicherungszweig entstanden, dessen gesetzliche Grundlagen sowohl hinsichtlich der Vergütungsverhandlungen als auch der Leistungsabrechnungen an die Pflegeeinrichtungen dezidiertere Anforderungen als das Sozialhilferecht stellt. Das Pflegeversicherungsgesetz enthält zusätzlich eine Reihe von Instrumentarien, um die Pflegeprozeßplanung und die Qualitätssicherung in der Pflege gezielter und bewußter als in der Vergangenheit zu betreiben.

Nur etwa ein Drittel der bei der AOK versicherten Pflegebedürftigen nehmen professionelle Hilfe durch ambulante Dienste oder Pflegeheime in Anspruch. Der Schwerpunkt der Pflege liegt damit in der Pflege durch Laienpfleger. Es stellt für die Pflegeberufe eine besondere Herausforderung dar, die Notwendigkeit und Wichtigkeit einer professionellen Pflege zu verdeutlichen. In den Vordergrund des professionellen Handelns treten damit die Planung von Pflegeprozessen sowie die Sicherung der Qualität der Pflege sowohl in den Einrichtungen als auch durch beratende Begleitung der Laienpflege. Zusätzliche Bedeutung erlangt die systematische Koordinierung von rehabilitativen Leistungen zur Vermeidung und Minderung von Pflegebedürftigkeit.

Dieser Zielsetzung trägt die Ausbildung in den Pflegeberufen bislang kaum Rechnung. Das gilt auch für den sowohl im Gesundheitssystem als auch in der Altenhilfe verankerten Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege. Die Ausbildung im stationären Bereich und für den stationären Bereich überwiegt. Vorliegende Gesetzentwürfe zur Neuordnung der Ausbildung in den Pflegeberufen räumen nicht die Zweifel aus, ob die Kranken- und Altenpflegeschulen in der Lage sind, dem „Lernort ambulante Pflege" den ihm zukommenden Stellenwert einzuräumen. Die konsequente Durchsetzung des Vorrangs der ambulanten Pflege erfordert dezidierte gesetzliche Vorgaben über die Verzahnung der verschiedenen Lernorte in der praktischen und in der theoretischen Ausbildung. Dabei wird es ganz wesentlich darauf ankommen. Schlüsselqualifikationen zu vermitteln, die ein modernes Verständnis von ganzheitlicher und rehabilitativer Pflege fördern.

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Geeignete Instrumentarien für eine so angelegte Ausbildung bietet bereits heute das Berufsbildungsgesetz mit seiner Verpflichtung, betriebliche und schulische Ausbildung zu verzahnen und detaillierte Regelungen über Ausbildungsinhalte und Ausbildungsorganisationen in Ausbildungsordnungen zu treffen. Auf dieser Basis könnte auch die berufliche Bildung der Pflegeberufe geregelt werden.

Die Regelung der Ausbildung der Pflegeberufe im Rahmen des dualen Berufsbildungssystems hätte darüber hinaus den zusätzlichen Vorzug, daß die Qualifikation der Ausbildenden geregelt wäre. Zudem könnten Weiterbildungsgänge nahtlos an die Grundausbildung anschließen. Auch die Zusammenführung der zersplitterten Ausbildungsgänge in der Pflege würden so erleichtert und letztlich zu mehr Durchlässigkeit und mehr Qualität führen. Damit wird eine ideelle Aufwertung erreicht, die wesentliche Voraussetzung zu mehr Berufszufriedenheit und zu längerem Verweilen im Beruf ist.

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Hannes Ziller
Statement zur Gesprächsrunde:
Perspektiven für die Pflege und die Pflegeberufe


Die Zukunft der Pflege als berufliches Handlungsfeld mit eigenständiger Fachlichkeit und gesicherten Qualitätsstandards wird davon abhängen, inwieweit die leistungsrechtliche Umsetzung der Pflegeversicherung und die weitere Ausgestaltung ergänzender Sozialhilfeleistungen hierfür Raum lassen. Einseitig an Kosteninteressen orientierte Parameter wie das sogenannte „Standard-Pflegesatzmodell" stellen die Fachlichkeit von Pflege grundlegend in Frage.

Die isolierte Zuordnung grund- und (teilweise auch) behandlungspflegerischer Verrichtungen in Abgrenzung zu sogenannten betreuerischen Aufgaben widerspricht jeder wissenschaftlichen und konzeptionellen Grundlegung ganzheitlichen pflegerischen Handelns.

Die nach wie vor nicht angemessene Berücksichtigung des Hilfebedarfs verwirrter und gerontopsychiatrisch veränderter alter Menschen im Handlungsrahmen der Pflegeversicherung marginalisiert diejenige Gruppe Pflegebedürftiger, die vielfach schon die Mehrzahl der Heimbewohnerschaft ausmacht und deren angemessene Pflege (einschließlich Betreuung) den größten Hilfebedarf erzeugt. Es ist absehbar, daß dieser Sachverhalt starken Druck in Richtung auf eine Re-Hospitalisierung produzieren wird, d.h., die Einweisung verwirrter, aber nicht krankenhausbehandlungsbedürftiger alter Menschen in die psychiatrischen Krankenhäuser wird wieder zunehmen.

Pflegewissenschaften sowie Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Pflegeberufe dürfen auf diese Sachverhalte nicht mit Resignation, sondern müssen darauf mit noch stärkerer Profilierung ihres fachlichen Anspruchs reagieren. Fachliche Standards der Pflege sind in der breiteren Öffentlichkeit nach wie vor zu wenig bekannt und anerkannt („Pflegen kann jede/r").

Altenpflege und Krankenpflege sind auf einer gemeinsamen pflegewissenschaftlichen Grundlage in eine konvergente Entwicklung einschließlich kurzfristig herstellbarer gemeinsamer Handlungsfelder (insbesondere in der Weiterbildung) zu bringen. Der Berufsfeldbezug der Altenpflege mit eigen-

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ständigen sozialpflegerischen und betreuerischen Handlungsanteilen ist auf Dauer zu wahren.

Da das Nahziel eines Bundesaltenpflegegesetzes wegen des Widerstands der CDU in der Bonner Regierungskoalition bislang nicht erreichbar war, ist ein neues mittelfristiges Ziel zu definieren: ein gemeinsames Bundesgesetz für die Pflegeberufe (gegebenenfalls einschließlich Haus- und Familienpflege, Heilerziehungspflege etc.). Dabei sind die Grundaussagen im vorherigen Absatz zu berücksichtigen. Fernziel könnte eine integrierte Fachausbildung Pflege mit ausgewiesener berufsfeldbezogener Schwerpunktbildung sein.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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