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TEILDOKUMENT:




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Margarete Landenberger
Wirkungen der Pflegeversicherung auf die Handlungsspielräume der Kranken- und Altenpflegekräfte und ihre Einrichtungen




1. Neues Patienten- und Klientenbild

Die Pflegeversicherung enthält ein stark verändertes Patienten-/Klientenbild. Der Klient wird nicht mehr gesehen als paternalistisch zu versorgender Leistungsempfänger, sondern als selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, über Wahlmöglichkeiten verfügender Nutzer. Gestärkte Patienten/Klienten, gestärkte Pflegeeinrichtungen sowie gestärkte Pflegefachkräfte lassen in der Pflegelandschaft eine bereits jetzt erkennbare neue Dynamik entstehen. Wie ich im folgenden zeigen möchte, werden künftig den Pflegekassen gestärkte Partner gegenüberstehen. Dies wird - so meine These - dazu führen, daß Pflegeorganisationen, Pflegeberufe, Träger und Verbände sich zu neuen Koalitionen zusammenfinden, um den Diskurs um Patientenorientierung, Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit in profilierter und wissenschaftlich fundierter Weise zu führen.

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2. Stärkung der Pflegeorganisationen

Eine begriffliche Fassung der Pflegearbeit in ihren verschiedenen Dimensionen ist wichtig, weil zu vermuten ist, daß sich Pflegearbeit im Zuge sozialstrukturellen und institutionell-gesetzlichen Wandels ebenfalls wandelt. Wandel der Pflege, der Tätigkeitsinhalte, der Autonomie- und der Kooperationsanteile u.v.m. können empirisch nur dann untersucht werden, wenn wir über analytische und deskriptive Begriffe der Pflegearbeit verfügen.

Der für die Pflege relevante sozialstrukturelle Wandel läßt sich anhand folgender Stichworte umreißen:

  • Alterung der Bevölkerung
  • Verändertes Spektrum der Krankheiten und Wohlbefindenseinschränkungen
  • Multimorbidität

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  • Zunahme der Pflegebedürftigkeit
  • Wirtschaftliche Stagnation, gesundheits- und sozialpolitische Kostendämpfung und Leistungseinschränkung.

Diese Elemente des sozialstrukturellen Wandels im Bereich der Pflege sowie eine sich verändernde sozial- und gesundheitspolitische Philosophie von Bund, Ländern und Verbänden führten seit Mitte der siebziger Jahre zu zahlreichen Gesetzesänderungen. Im Mittelpunkt des Interesses steht das Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG) von 1995. Es wurden jedoch vorher und gleichzeitig eine Reihe anderer neuer Gesetze erlassen, deren Zielrichtung erst aus der Gesamtschau deutlich wird. Die wichtigsten sind das Gesundheitsreformgesetz (GRG) von 1989, das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) von 1993, der Einigungsvertrag von 1990, die Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) von 1993, die Pflegepersonalregelung (PPR) von 1993, das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) von 1991 sowie die Bundespflegesatzverordnung (BPflV) von 1995.

Die gesetzlichen Neuregelungen im Zuge von Pflegeversicherung und Gesundheitsstrukturreform bringen für ambulante Pflegedienste und Altenheime tiefgreifende Veränderungen mit sich. Der Rückzug der staatlichen Gesundheits- und Pflegepolitik auf Rahmensteuerung bedeutet nicht gleichzeitig Deregulierung für die dezentralen Pflegeorganisationen. Im Gegenteil:

Unsere Untersuchungen zeigen, daß diese Entwicklung verbunden ist mit erhöhten Anforderungen an Selbststeuerung und damit an Gestaltungsverantwortung durch die Pflegeorganisationen, ihre Träger sowie die dort tätigen Professionellen (Landenberger/Kuhlmey/Watzlawczik u.a. 1997; Landenberger 1997).

Die gesetzlichen Neuregelungen bedeuten für die bisher an stabile finanzielle Rahmenbedingungen gewöhnten Krankenhäuser und ambulanten Pflegeeinrichtungen den Übergang zu ungewohnter Instabilität und Bestandsunsicherheit. Pflegeeinrichtungen befinden sich am Wendepunkt von passiven, Gesetze und Leistungsprogramme ausführenden „Anstalten" zu aktiven, die Gesetzesausführung mit eigenen Konzepten verbindenden „Sozialunternehmen". Will die Pflege nicht zum Verlierer im Wettbewerb um „Produktprofil" und Leistungseffizienz werden, muß sie, wie alle anderen Berufsgruppen auch, ihre eigenen Handlungsstrategien zur Ressourcenbeschaffung und Nachfragesicherung entwickeln.

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Die Auswirkungen der Gesetzesneuregelungen auf die Pflegeorganisationen und die dort tätigen Professionen lassen sich wie folgt systematisieren:

  • Auf Klientenbedürfnisse abgestimmtes Leistungsangebot:

    Während bisher in Krankenhäusern und anderen Pflegeeinrichtungen das universalistische Versorgungsprinzip herrschte, wird nun mit den Instrumenten des Patientenwahlrechts sowie des Behandlungs- und Pflegevertrags zwischen Patient und Organisation zum Nachfrageprinzip übergegangen. Künftig werden Patienten der Organisation nicht mehr von außen zugeteilt, sondern die Belegungsverantwortung geht auf die Organisation und damit auf die dort tätigen Professionen über. Pflegeorganisationen werden um so bessere Belegungszahlen erreichen, als sie eine fachlich qualifizierte medizinisch-pflegerische Gesamtleistung für auf den örtlichen Markt abgestimmte Klientenzielgruppen anbieten und deren Qualität nachweisen können.

  • Konzept der Personalentwicklung:

    Durch die Gesetzesneuregelungen ändert sich für die Pflege sowohl die Personalbemessung als auch Ermittlung und Finanzierung der Personalkosten. Die Personalkosten werden künftig nicht mehr unabhängig vom Organisationsbudget staatlich finanziert, sondern sie sind Teil der Abteilungspflegesätze, die die Organisation im Rahmen der jährlichen Pflegesatzverhandlungen mit den Kassen vereinbart. Während es bisher für jede Personalgruppe gesonderte staatlich vorgegebene Personalschlüssel gab, verzichtet der Staat nun auf Personalschlüssel. Statt dessen wird Personalbemessung nun Teil der Entscheidungsautonomie der Organisation. Über Anzahl und Struktur der Pflegefachkräfte entscheidet künftig das Leitungsgremium der einzelnen Einrichtung. Dabei kann die Pflegeleitung nur dann erfolgreich um einen angemessenen Anteil am Gesamtbudget der Einrichtung für die Pflege verhandeln, wenn sie über ein qualitäts- und wettbewerbsbezogenes Konzept des Personalbedarfs und der Personalentwicklung verfügt.

  • Pflegerisches Leistungsprofil zwischen Bedarf und Markt:

    Für die traditionelle Pflegeorganisation galt die klassische Gewährleistungs- und Bereithaltungsverpflichtung. Die zu gewährenden Leistun-

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    gen waren einheitlich und standardisiert. Vor allem in den alten Bundesländern bestand eine ausgeprägte Trennung zwischen stationärem und ambulantem Sektor. Künftig wird die Fähigkeit der Organisation und speziell der Pflege, ein einzigartiges Leistungsprofil zu entwickeln, zur positiven Überlebensbedingung des neuen Einrichtungstypus „Sozialunternehmen". Die neuen Gesetze schaffen Anreize für die Organisationen, ihr Leistungsspektrum zu erweitern. Es wird im Interesse der Pflege sein, darüber mitzuentscheiden, ob das Altenpflegeheim zusätzlich ambulante Altenpflege oder ambulante Rehabilitation anbietet. Der Gesetzgeber fördert auf diese Weise die Entstehung von Gesundheitszentren, die aus einer Hand unterschiedliche Behandlungs- und Pflegeformen anbieten. Vor allem soll die Angebotspalette in Richtung ambulante Leistungen erweitert werden. Außerdem wird die bisherige Privilegierung von öffentlichen und freigemeinnützigen Trägern aufgegeben. Künftig konkurrieren öffentliche und private Pflegeorganisationen, soweit sie über einen Versorgungsvertrag mit den Kranken- bzw. Pflegekassen verfügen, gleichberechtigt um Klienten und Finanzierungsanteile.

  • Sozial-unternehmerische Strategie:

    Mit der durch neue Gesetze zugelassenen Marktsteuerung und Konkurrenz ist für die Organisationen der Übergang zur Verbetrieblichung verbunden. Während Alteneinrichtungen und ambulante Pflegedienste in der Vergangenheit nach dem Muster der öffentlichen Verwaltung geführt wurden, muß künftig jede Einrichtung ein selbständiger Betrieb sein. Die neuen gesetzlichen Finanzierungsgrundlagen haben zur Folge, daß die Organisation künftig entstehende Defizite selbst ausgleichen muß, während sie entstehende Überschüsse für eigene Investitionen verwenden darf. Somit entsteht ein Anreiz, über Nachfrage und Preis hohe Behandlungs- und Pflegequalität bei gleichzeitiger Wirtschaftlichkeit zu erzielen. Die höhere wirtschaftliche Autonomie der Organisationen wird Pflegende künftig verstärkt motivieren, ihre Leistungen quantitativ und qualitativ zu objektivieren (Wirtschaftlichkeits-, Qualitätsprüfungen, Leistungsvergleiche). Differenzierte Nachweise über Leistungsdokumentation und Finanz-Controlling werden künftig auch für die Pflege unverzichtbar sein, um in internen Verhandlungen um das Einrichtungsbudget und in Verhandlungen mit den Kassen die für die fachgerechte Patientenbetreuung notwendigen Ressourcen zu sichern.

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Für ambulante Pflegedienste, teilstationäre Einrichtungen und Altenpflegeheime bedeutet die neue Gesetzeslage vermehrte Fachkompetenz und Organisationsautonomie. Durch die Einführung von Markt und Wettbewerb sind die Organisationen und Träger gehalten, in eigener Verantwortung das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Dies kann nicht allein durch Kostenminimierung passieren, denn Dienste und Einrichtungen, die geringe Pflegequalität bieten, werden aufgrund ausbleibender Kundennachfrage am Markt nicht bestehen können. Jede Pflegeorganisation muß daher eine je eigene Strategie entwickeln, um ein dem regionalen Standort entsprechendes Optimum im Qualitäts-/Kostenverhältnis zu finden.

Die Gestaltungspotentiale der Pflegeorganisationen liegen auf unterschiedlichen Ebenen.

Zum einen ist es die Ebene der Klienten: Hier werden ambulante Pflegedienste und Altenheime künftig vermehrt dazu übergehen, auf der Basis von regionalen Bedarfs- und Marktanalysen ihr Leistungsangebot auf spezifische Klientengruppen auszurichten. Nur so ist die für das wirtschaftliche Überleben notwendige Kundennachfrage, d.h. Auslastung der Pflegeplätze, gewährleistet. Zum anderen werden Pflegeorganisationen ein einrichtungsspezifisches Konzept der Personalentwicklung benötigen. Außerdem werden die Einrichtungen und ihre Träger von einem bisher meist breiten und unspezifischen Leistungsangebot zu einem den örtlichen Bedarfs- und Marktgegebenheiten entsprechenden gezielten Leistungsangebotsprofil übergehen. Darüber hinaus werden sie eine Rechts- und Unternehmensform wählen, die ihnen erlaubt, auf die steigende Kundennachfrage nach Pflegeleistungen in hoher Qualität zu marktgerechten Preisen kreativ und flexibel zu reagieren. Und schließlich begünstigt dies Entwicklungen zur Kooperation und Vernetzung zwischen bisher getrennten Einrichtungen und Leistungssektoren.

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3. Aussagen der Pflegewissenschaft zum eigenständigen Gestaltungsbeitrag der Pflegenden

Pflegefachkräfte sind dabei, ihr Berufshandeln zu professionalisieren. Dieser Prozeß vollzieht sich nicht außengesteuert, sondern nur, wenn die Pflegenden selbst handeln, kann sich die Kranken- und Altenpflegearbeit in eine von den Berufsangehörigen gewünschte Richtung verändern. Der Übergang

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zur professionellen Pflege weist inhaltliche, methodische und konzeptionell-strategische Dimensionen auf.

Was den Pflegeinhalt anbelangt, ist der Wandel gekennzeichnet durch ein verändertes Patientenbild und durch ein verändertes Verständnis der Pflegearbeit selbst. Patientinnen und Patienten werden nicht mehr als passiv und unmündig betrachtet, sondern als die Pflege aktiv und selbstbestimmt mitgestaltende Partner. Ziel der Pflege ist es, die individuellen Bewältigungspotentiale und persönlichen Stärken des Menschen zu fördern (King 1996; Watson 1996).

Pflege wird nicht mehr primär handwerklich im Sinne einzelner „am Menschen" ausgeübter Verrichtungen gesehen, sondern im Vordergrund steht nun der unterstützende und begleitende Aspekt, also die Beziehung der Pflegenden zum Patienten, die mit jeder Pflegehandlung hergestellt, weitergeführt, intensiviert oder abgeschwächt wird (Peplau 1995). Auch vorwiegend körperliche Pflege ist Interaktion (body to body). Auch sie weist zahlreiche kommunikative Elemente auf. Die fachgerechte, handwerklich exakte Verrichtung wird vorausgesetzt. Wissenschaftlich fundierte Pflege beginnt dort, wo weitere Dimensionen der Patientenorientierung hinzutreten, indem Pflegehandlungen als Aushandlungs- und Kommunikationsprozeß verstanden werden (King 1996; Wittneben 1994).

Lange Zeit herrschte ein Verständnis vor, demzufolge die Pflege den Prozeß der ärztlichen Behandlung lediglich unterstütze. Erst Pflegewissenschaft und Pflegeforschung haben sichtbar gemacht, daß Pflege selbst heilende Wirkung hat. Heilung ist also keine exklusive Befähigung der Medizin, sondern jede Profession des Gesundheitswesens, Pflege, Medizin, Psychotherapie, Physiotherapie und andere tragen durch je spezifisches, fachliches Handeln zur Heilung und zum Wohlbefinden des Patienten bei (Benner/Wrubel 1989). Damit versteht sich Pflege nicht mehr als Assistenztätigkeit. Vielmehr definiert sich professionelle Pflege als autonomes Tätigkeitsfeld, das nur ausgeübt werden kann auf Grundlage fachlicher Qualifikation und Kompetenz. An die Stelle des asymmetrischen Verhältnisses „Pflege assistiert beim ärztlichen Handeln" tritt ein symmetrisches Verhältnis der interdisziplinären Kooperation und Teamarbeit zwischen Pflegenden, Ärzten und anderen Gesundheitsberufen.

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Professionell ausgeübte Pflege ist Arbeiten nach wissenschaftlich erprobten Pflegemethoden. Erfahrungsgeleitetes, intuitives Pflegehandeln wird ergänzt durch methodisches Pflegehandeln. Innerhalb der professional community der Pflege gilt derzeit der Pflegeprozeß als die am weitesten verbreitete Pflegemethode. Die in reflexiven Schleifen zu vollziehenden Schritte der Informationssammlung, Pflegediagnose, Planung, Durchführung und Evaluation bedeuten systematisches Pflegehandeln mit zielgerichtetem Charakter. Die Methode des Pflegeprozesses bringt die Einzelhandlungen in einen patientenbezogenen Kontext. Sie berücksichtigt, daß der Lebens- und Heilungsprozeß des Patienten in sozialen Handlungskontexten und Phasen verläuft (Strauss, Fagerhaugh u.a. 1985). Methodische Pflege bedeutet, daß das Pflegehandeln auf wissenschaftlicher Basis beruht und damit intersubjektiv kommunizierbar und überprüfbar ist. Reflexion, Kritik und Selbstkritik des beruflichen Handelns und als mögliche Folge Korrektur oder Revision des ursprünglich geplanten Vorgehens sind substanzieller Bestandteil methodischer Pflege. Auf diese Weise kann hohe und gleichmäßige Pflegequalität erreicht werden.

Der Pflegeprozeß bleibt jedoch ohne theoretischen Bezugsrahmen ein inhaltsleeres methodisches Instrument. Dies wird schon in der ersten Phase des Pflegeprozesses deutlich. Welche Informationen, welche Daten, die im Rahmen der Pflegeanamnese erhoben werden, haben welche Bedeutung? Spielen beim Einschätzen des Pflegebedarfs (assessment) Sauberkeit und Ordnung oder die Selbständigkeit des Patienten eine größere Rolle? Maria Mischo-Kelling (1992) entwickelte auf Grundlage der Theorie von Roper, Logan und Tierney (1993) ein theoretisches Modell, das ebenfalls die Alltagsgewohnheiten und Lebensaktivitäten des Patienten als Basis individueller patientenorientierter Pflege betrachtet. Im Mittelpunkt des modifizierten Modells von Mischo-Kelling steht das Selbst und das Selbst-Konzept des Menschen. Gesundheitseinschränkung, Behinderung und Krankheit sind verbunden mit Störungen des Körperbildes, Störungen in der Rollenausübung, Störungen des Selbstwertgefühls und Störungen der persönlichen Identität. Im Zusammenhang mit der Pflege interessiert, in welcher Weise die jeweiligen Selbstkonzepte der Pflegenden und der Patienten auf das Interaktionsgeschehen im Laufe des Pflegeprozesses Einfluß haben. Welches Selbstideal haben Pflegende und welche Coping- bzw. Bewältigungsstrategien wenden Patienten an? Für den Pflegeprozeß ist es wichtig, daß es Pflegenden und Patienten gelingt, die jeweiligen individuellen Möglichkeiten und

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Fähigkeiten zu entwickeln und sie in einer schöpferischen Interaktion für die Pflege nutzbar zu machen (Mischo-Kelling 1992, S. 19ff.).

Und nicht zuletzt benötigen Pflegende, die den Professionalisierungsprozeß voranbringen möchten, eine Pflegekonzeption sowie eine Handlungsstrategie, die sowohl die individuelle Interaktion Patient - Pflegende als auch die organisatorischen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen der Pflege einbeziehen. Wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll, wird die Verantwortung der Pflegenden größer, nicht nur die Voraussetzungen für die Patientenarbeit im engen Sinne, sondern auch die Voraussetzungen der Organisation sowie des Gesundheitssystems zu schaffen und zu sichern.

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4. Kompetenzzuwachs für die Pflegeprofession

Ausgangshypothese ist, daß professionelle Pflege ein stetiges Ausbalancieren zweier Rationalitäten ist. Pflegende folgen der fachlichen Rationalität, indem sie durch eine pflegerische Beziehung den Patienten dabei unterstützen, Probleme mit elementaren Lebensfunktionen zu lösen (Evers 1997). Pflegende folgen gleichzeitig immer auch einer wirtschaftlichen Rationalität, da jede Pflegeorganisation über begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen verfügt. Auf diese Handlungsdimensionen von Pflegenden wie auch anderen Gesundheits- und Sozialberufen haben Strauss/Fagerhaugh u.a. (1985) überzeugend hingewiesen, indem sie Verhandlungs-, Reorganisationsarbeit, Ressourcenbeschaffung und Tätigkeiten der Sicherung des Organisationsbestandes beschrieben.

Unserer Hypothese zufolge konnten Pflegende, Ärzte und Verwaltungsleitungen bis in die achtziger Jahre die Aufgabe des Ausbalancierens von Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit implizit - ohne Strategie und Konzeption - bewältigen, da aufgrund anderer Rahmenbedingungen der Organisationsbestand gesichert war. Seit den neunziger Jahren erfordern veränderte sozialstrukturelle und rechtlich-organisatorische Rahmenbedingungen qualitativ neue Formen der unmittelbaren klientenorientierten Pflegearbeit sowie der Organisationsgestaltung und Unternehmenssicherung. Dabei reicht ein punktuelles implizites Handeln vor allem der Leitungsebenen nicht mehr aus. Vielmehr benötigen sie wissenschaftlich fundierte Strategien, um die im letzten Abschnitt aufgezeigten neuen Anforderungen bewältigen zu können: Klientenwerbung, Belegungssicherung, Personalentwicklung, Neuge-

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staltung des Leistungsprofils der Organisation sowie Sozial-Unternehmensstrategie.

Das Pflegeversicherungsgesetz bietet eine Reihe von „Hebeln", an denen Pflegefachkräfte und andere an der Pflege, Klientenbehandlung und -betreuung beteiligte Berufe die Regelungen umsetzen. Um sie im Sinne der Klienten zu gestalten, reicht Routinehandeln nicht aus. Künftig entscheidet die Fähigkeit der Pflegeprofession zum kompetenten Ausbalancieren von Fachlichkeits- und Qualitätsnormen einerseits und Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsanforderungen andererseits über das Überleben von ambulanten Pflegediensten und Altenheimen. Nur wenn es den Fachberufen gelingt, über attraktive, bedürfnisgerechte Pflegeleistungen genügend Nachfrage bei den Pflegebedürftigen zu mobilisieren, können der eigene Arbeitsplatz sowie der Organisationsbestand gesichert werden.

Kompetent nutzbare Handlungsspielräume bieten die gesetzlichen Neuregelungen der Pflegenden im unmittelbaren Bereich von Pflege und Behandlung des Klienten. Mehr als bisher bedeutet Pflegen auch Interessenvertretung des Klienten, indem sein Leistungsanspruch häufig erst ausgehandelt und gesichert werden muß. Durch erfolgreiche Qualitätssicherung legitimiert sich die Pflege gegenüber den Klienten und Nutzern und gegenüber den Finanzierungsträgern und der Öffentlichkeit. Eine weitere Handlungsdimension der Pflegeprofession ist das Aushandeln eines angemessenen Personalbudgets, sowohl im Rahmen der Vergütungsvereinbarung mit Pflegekassen und Sozialhilfeträgern als auch innerhalb der Einrichtung im Hinblick auf die Verteilung des Budgets auf die einzelnen Berufsgruppen. Nur durch effiziente Personalgewinnung und -qualifizierung kann es gelingen, das wertvolle Klientenwissen der Mitarbeiter für die Unternehmensstrategie nutzbar zu machen. Eine weitere Dimension kompetenter Gestaltung durch die Pflegeprofession ist das angebotene Leistungsspektrum. Während Alteneinrichtungen bisher überwiegend ein von außen vorgegebenes Standardangebot vorhielten, geht es künftig um die Profilierung von Pflegemodellen, Behandlungsmethoden, Spezialleistungen und Zusatzangeboten. Zusätzlich wirken die Pflegenden durch eigene Handlungskonzepte mit an der Ressourcenbeschaffung für die Organisation. Der Ort hierfür sind die Verhandlungen um den Versorgungsvertrag sowie um die Vergütungsvereinbarungen und Pflegesätze. Schließlich beinhalten die neuen Gesetze für die Professionals „Hebel" zur Gestaltung des regionalen Gesundheitssystems.

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Je mehr Träger und Einrichtungen zu unternehmerischen Strategien übergehen müssen, desto mehr bedeutet dies für die Pflege- und Gesundheitsberufe, nicht nur einrichtungsintern qualitativ hochwertige Pflege zu leisten, sondern auch in der Region funktionsfähige Vernetzungen mit anderen vor- und nachversorgenden Einrichtungen für die Klienten und Nutzer sichtbar zu machen. Durch Öffnung der Einrichtungen nach außen, durch Angebote, wie Angehörigenarbeit und Beratung von Selbsthilfeinitiativen, können auf regionaler Ebene zwischen Berufsgruppen, Trägern, Verbänden und Kassen Diskurse um eine neue Pflegekultur entstehen. Auf diese Weise können die Berufe Vorstellungen über Versorgungsnormen und Wirtschaftlichkeitskriterien entwickeln, die in Form von Korrekturvorschlägen und Reformkonzepten in Gesetzesnovellierungen Eingang finden.

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5. Zusammenfassung: Ansatzpunkte zur pflegerischen Strategieentwicklung

Pflegeorganisationen befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel, ausgelöst durch veränderte sozialstrukturelle und gesetzliche Rahmenbedingungen. Die empirische Untersuchung beruht auf der Hypothese, daß die Pflegeorganisationen den Wandel um so besser bewältigen können, desto deutlicher sie von punktuellem, situativem zu strategischem und konzeptuellem Handeln übergehen. Für die Pflegedienstleitungen bedeutet dies, daß sie sich des Mikro-Makro-Kontinuums des Pflegehandelns bewußt werden. Aufgabe der Pflegenden insbesondere in Leitungsfunktionen ist nicht allein, die unmittelbare klientenorientierte Pflege zu gestalten, sondern ebenso die Personalentwicklung, das Leistungsprofil sowie die Unternehmensform der Einrichtung nach pflegefachlichen Gesichtspunkten zu formen. Pflege benötigt im Wettbewerb überlebensfähige Organisationen. Pflege kann sich nicht länger auf den Binnenbereich des pflegerischen Handelns beschränken.

Krankenhäuser und andere Pflegeeinrichtungen sind kein machtfreier Raum, sondern verschiedene Berufs- und Funktionsgruppen vertreten neben allgemeinen gesundheitsorientierten auch gruppenegoistische Eigeninteressen. Will die Pflege nicht zum Verlierer im Wettbewerb um Personalstellen, Produktprofil und Leistungseffizienz werden, muß sie eigene Handlungsstrategien zur Patientenakquisition, Nachfragesicherung und Ressourcenbeschaffung entwickeln.

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Voraussetzungen für eine pflegerische Dienstleistungsstrategie und ein Sozial-Unternehmenskonzept sind:

  • eine Handlungsorientierung, die vom Bewußtsein getragen ist, daß Krankenhausstrukturen und -prozesse von Menschen gestaltet und von Menschen auch wieder verändert werden können. Pflege nimmt auf diese Weise Abschied von der weitverbreiteten Position „Darauf haben wir keinen Einfluß". Sie entfernt sich von einem „non-decision-script" und nähert sich einem „decision-script";
  • eine Handlungsorientierung, in der Strategiekonzepte zu Klientenzielgruppen und Pflegebedarfen mit wissenschaftlichen Daten unterlegt werden (Zielgruppen-, Bedarfs-, Marktanalyse, Pflegediagnosestatistik u.a.);
  • eine Handlungsorientierung, die sich des doppelten Mandats der Pflege bewußt ist. Dies besteht aus einem stetigen Ausbalancieren zwischen der Rationalität von Fachlichkeit und Patientenbedürfnissen einerseits und der Rationalität der Wirtschaftlichkeit und Ressourcenknappheit andererseits;
  • eine Handlungsorientierung, die sich verabschiedet von binnenorientierten Insellösungen. Vielmehr kann ein für jede Pflegeorganisation spezifisches Optimum medizinisch-pflegerischer Qualität für Klienten und Wirtschaftlichkeit nur in Kooperation der Pflegenden mit medizinischen und anderen Gesundheitsberufen entwickelt werden.


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6. Literaturverzeichnis und weiterführende Literatur

Benner, Patricia/Wrubel, Judith 1989: The primacy of Caring, Stress and Coping. In: Health and Illness, Menlo Park: Addison-Wesley.

Evers, Georges C.M. 1997: Theorien und Prinzipien der Pflegekunde, Berlin, Wiesbaden: Ullstein Mosby.

King, Imogene M. 1996: Eine Theorie der Pflege, Freiburg/Br.: Lambertus.

Landenberger, Margarete 1997: Innovatoren des Gesundheitssystems. Handlungspotentiale von Pflegeorganisationen und Pflegeberufen durch die Gesundheitsreformgesetzgebung, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber (im Druck).

Landenberger, M./Kuhlmey, A./Watzlawczik, G.-K. u.a. 1997: Dienstleistungsstrategien und Unternehmenskonzepte von Pflegeorganisationen in den neuen und alten Bundesländern. DFG-Forschungsbericht (Veröffentlichung in Vorbereitung).

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Mischo-Kelling, Maria 1992: Theoretische Grundlagen der Pflege. In: Mischo-Kelling, M./H. Zeidler (Hrsg.), S. 1-29.

Mischo-Kelling, Maria/Zeidler, H. 1992: Innere Medizin und Krankenpflege, München: Urban und Schwarzenberg.

Naschold, Frieder 1995: Modernisierung des Staates. Zur Ordnung und Innovationspolitik des Öffentlichen Sektors, Berlin: Sigma.

Peplau, Hildegard E. 1995: Interpersonelle Beziehungen in der Pflege, Basel: Recom.

Rabe-Kleberg, Ursula 1993: Verantwortlichkeit und Macht, Bielefeld: Kleine.

Remmers, Hartmut 1997: Kulturelle Determinanten angloamerikanischer Pflegetheorien und ihre wissenschaftlichen Kontexte. In: Uzarewicz, Ch./G. Piechotta (Hrsg.): Transkulturelle Pflege, Curare Sonderband 10/1997, Berlin: Verlag für Wissen und Bildung, S. 63-97.

Rogers, Martha E. 1995: Theoretische Grundlagen der Pflege - Eine Einführung, Freiburg/Br.: Lambertus.

Roper, N., Logan, W.W., Tierney, A.J. 1993: Die Elemente der Krankenpflege, Basel: Recom.

Schnepp, Wilfried 1997: Perspektiven der Pflegewissenschaft. Theoriebildung in einer Praxisdisziplin. In: Pflege, Heft 10/1997, S. 96-101.

Strauss, A., Fagerhaugh, S., Suszek, B., Wiener, C. 1985: Social Organisation of Medical Work, Chicago: University of Chicago Press.

Watson, Jean 1996: Pflege - Wissenschaft und menschliche Zuwendung, Bern, Göttingen: Huber.

Wittneben, Karin 1994: Pflegekonzepte in der Weiterbildung zur Pflegelehrkraft, Frankfurt/M., Berlin: Lang.


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