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Gerald Wagner
Auswirkungen der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik auf die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen




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1. Vorbemerkungen/Einordnung des Themas

In der öffentlichen Diskussion gelten soziale Dienstleistungen als einer der beschäftigungspolitischen Hoffnungsträger der Gegenwart und Zukunft. Die Europäische Kommission sieht in der beschäftigungswirksamen Mobilisierung der Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen einen wichtigen Ansatz zum Abbau der Arbeitslosigkeit in Europa [Fn1: Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (Weißbuch), Brüssel, Luxemburg 1993.] . In ihrem Weißbuch für Wachstum und Beschäftigung unterbreitet sie Vorschläge zur Etablierung neuer Modelle der „Sozialwirtschaft" in den Mitgliedstaaten.

Besondere Attraktivität gewinnt diese Perspektive u.a. daraus, daß soziale Dienstleistungen traditionell eine Domäne der Frauenbeschäftigung sind. Ihre Expansion trägt in besonderem Maße zur angestrebten Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen bei. Über mehr Teilhabe an Erwerbsarbeit führt der Weg schließlich auch zu mehr ökonomischer Gleichberechtigung.

Der Bereich der sozialen Dienstleistungen ist aber mehr als nur beschäftigungspolitischer Hoffnungsträger und mögliche Antwort auf die Krise am Arbeitsmarkt. Er ist in den letzten Jahrzehnten zu einem ernstzunehmenden Wirtschaftsfaktor geworden. Die von den sozialen Diensten ausgehende Vorleistungsnachfrage oder die dort entstehenden Einkommen haben inzwischen beträchtliche Größenordnungen erreicht.

In der wirtschaftspolitischen Diskussion bricht sich diese Erkenntnis allerdings nur allmählich Bahn. Zwar ist es in den letzten Jahren zu einer merklichen Aufwertung des Dienstleistungssektors in der Wahrnehmung von Wirtschaftspolitik und auch -forschung gekommen - auch in der Bundesrepublik. Doch gilt dies vornehmlich für das Segment der unternehmensnahen Dienste. Über soziale Dienste wird nach wie vor zuvorderst unter der Prä-

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misse der Ausgabenbegrenzung und der Ausschöpfung von Rationalisierungspotentialen diskutiert. Hohe Wachstumsraten in diesem Bereich werden eher noch als Bedrohung verstanden.

Unbestritten sind Effizienzsteigerungen in den Sozialsystemen möglich und nötig. Doch erscheint es nicht gerechtfertigt, die Debatte darauf zu verkürzen. Zu fragen ist vielmehr, ob die Zeit nicht reif ist für einen Paradigmenwechsel bei der Bewertung der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung sozialer Dienstleistungen.

Ein dritter Gesichtspunkt scheint mir schließlich sehr wichtig: Soziale Dienstleistungen sind nicht Selbstzweck, weder aus beschäftigungspolitischer noch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht. Ihre Verfügbarkeit ist, wie anhand vieler Untersuchungen belegt werden kann, elementarer Bestandteil des Sozialstaates Bundesrepublik.

Die Sozialforschung ist sich weitgehend einig darüber: Die Identifikation der Bürger mit ihrem Gesellschaftsmodell und mit ihrem Staat resultiert ganz wesentlich daraus, daß dieses Gesellschaftsmodell und dieser Staat ihnen soziale Sicherheit gewähren können. Das gilt übrigens für die Bürger in den neuen Bundesländern noch in sehr viel stärkerem Maße als im alten Bundesgebiet [Fn2: So erfuhr nach Untersuchungen des isw in den neuen Bundesländern die Einführung der Pflegeversicherung über alle Bevölkerungsgruppen hinweg, auch in der jüngeren Generation, breite Zustimmung. Vgl. Institut für Strukturpolitik und Wirtschaftsförderung Halle-Leipzig e.V. (isw): Arbeitsmarkt-Monitor Sachsen-Anhalt, 5. Umfragewelle, Herbst 1995, Halle/Saale 1996.].
In jedem Fall unterscheidet dieses Phänomen unser Land durchaus von den Verhältnissen in anderen Staaten. Dies zu wissen und zu akzeptieren, erscheint mir wichtig, wenn man Reformen für die Zukunft konzipiert.

In der politischen Diskussion überwiegt gegenwärtig eine Sichtweise auf soziale Dienste, die sie vor allem als Kostenfaktor qualifiziert. Seltener ist auch vom Nutzen oder von den Erträgen des Sozialbudgets die Rede, vor allem wohl deshalb, weil Nutzen und Erträge sich hier wesentlich schwieriger quantifizieren lassen als die Finanzierungsseite.

Es genügt jedoch nicht, nur den Ausgaben der sozialen Sicherung nachzuspüren und diese als Kosten zu bewerten. Den Kosten stehen ja Leistungen gegenüber - ebenso wie etwa den Kosten für den öffentlichen Personenverkehr oder für das Bildungssystem Leistungen gegenüberstehen.

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Was läßt sich anführen, um den Nutzen des Sozialbudgets zumindest qualitativ zu erfassen? (Die Bewertung hängt natürlich davon ab, welche Maßstäbe man ihr zugrunde legt.) Ich denke, mit Blick auf die westlichen Industrienationen und mehr noch auf den Rest der Welt läßt sich für die Bundesrepublik unbestritten festhalten:

  • Es existiert eine dichte und qualitativ hochwertige soziale Infrastruktur - sowohl hinsichtlich der personellen als auch der materiellen Ausstattung.
  • Wir haben ein leistungsfähiges, im Trend anhaltend expansives System sozialer Absicherung für nahezu alle individuellen sozialen Risiken. Wichtige Indikatoren hierfür sind u.a. ein hoher Gesundheitsstandard und die hohe Lebenserwartung der Bevölkerung in der Bundesrepublik.
  • Soziale Dienstleistungen repräsentieren eine Reihe expansiver Wirtschaftszweige bzw. strahlen positiv auf diese ab: Zu erwähnen sind hier u.a. Krankenhäuser und freiberuflich tätige Ärzte, staatliche, gemeinnützige oder private Sozialdienste, die pharmazeutische und die medizintechnische Industrie und einige Handwerkszweige.

Fazit: Es fällt nicht schwer, den Nutzen von Sozialausgaben im Grunde zur Kenntnis zu nehmen. Die Zufriedenheit darüber ist dennoch nicht ungeteilt. Es bleiben im wesentlichen zwei Fragen, und die werden z.T. sehr kontrovers diskutiert:

a) Ist das soziale Netz zu dicht geknüpft und wirkt es sich negativ auf die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft an die Erfordernisse des Strukturwandels aus?

b) Kann der oben erwähnte Nutzen von Sozialausgaben nicht auch mit weniger Aufwand, also effizienter erzielt werden?

Antworten auf diese Fragen haben nicht nur und nicht in erster Linie mit ökonomischer Effizienz zu tun. Hier geht es um mehr. Es geht darum, Umfang und Grenzen sozialstaatlicher Verantwortlichkeit zu definieren. Welche Risiken individuell durch Eigenvorsorge oder Selbstbeteiligungen zu sichern und welche z.B. in einer Pflichtversicherung zu sozialisieren sind, läßt sich letztlich nur auf dem Hintergrund von Werturteilen entscheiden. Sozialpolitiker müssen sich dessen bewußt sein, sie kommen um eine Wert-Entscheidung nicht herum. Sie wird um so leichter fallen, je klarer man den eigenen Standort in der Werte-Axiomatik bestimmt. Das gilt, um anschaulich zu bleiben, u.a. auch für die Frage, ob die Sicherung gegen das individuelle

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Krankheitsrisiko in eine soziale Grundsicherung und eine private Zusatzversicherung/Selbstbeteiligung geteilt werden soll und auf welchem Niveau die Grundsicherung gegebenenfalls justiert werden soll.

Wie auch immer die Entscheidung ausfällt: In zweiter Instanz bleibt die Frage, in welchem Verhältnis die eingesetzten Mittel zu den angestrebten Zielen stehen. Damit rückt das Problem der sinnvollsten, zweckmäßigsten, effizientesten Organisation sozialpolitischer Interventionen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die gegenwärtige Diskussion scheint die Reihenfolge der Prämissen zuweilen durcheinanderzubringen.

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2. Indikatoren der Nachfrageentwicklung

Ich möchte in das Thema einsteigen mit einigen knappen Zahlen zu Umfang und Entwicklungsrichtungen ausgewählter Segmente der sozialen Dienstleistungen. Ein vollständiges Bild zu zeichnen ist aufgrund der diffusen Datenlage ohnehin nicht möglich. Es ist auch nicht nötig, wenn man sich, wie ich es im Rahmen dieses Beitrages halten will, auf einige ausgewählte Handlungsfelder beschränkt. Ich will mich auch nicht speziell und vorrangig dem Problemkreis der Pflegeversicherung zuwenden. Dieses Thema wird in den nächsten Beiträgen explizit im Mittelpunkt stehen. Ich will vielmehr einige andere Segmente herausgreifen, die hier stellvertretend für das weite Feld sozialer Dienstleistungen stehen und die in der jüngeren Vergangenheit Gegenstand wirtschafts- bzw. sozialpolitischer Steuerung waren.

Eine gebräuchliche Zusammenfassung „sozialer Dienstleistungen" aus wirtschaftsfachlicher, also sektoraler Perspektive subsumiert darunter die Bereiche Pflege, Betreuung, Erziehung, Bildung, Gesundheit, Hygiene, Wohlfahrt und Kirchen [Fn3: Z.B. Spee/Schmid: Beschäftigungsdynamik in Ballungsregionen, Berlin 1995.].
In dieser Aggregation sind die sozialen Dienstleistungen - neben den unternehmensbezogenen Diensten - der Bereich mit dem stärksten Beschäftigungswachstum. Dies gilt sowohl in langfristiger Betrachtung als auch für die jüngere Vergangenheit.

Nach der Beschäftigtenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit (BA) erhöhte sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Bereich der sozialen Dienstleistungen zwischen 1977 und 1996 im Gebiet der alten Bundesländer um fast 90 Prozent. Über alle Wirtschaftszweige hinweg nahm die

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Beschäftigtenzahl dagegen im gleichen Zeitraum nur um rund 15 Prozent zu. In der Folge erhöhte sich der Anteil der sozialen Dienste an der Gesamtzahl der Beschäftigten von ca. 9 Prozent (1977) auf ca. 15 Prozent (1996).

Im Zwei-Jahres-Rückblick (zwischen 1994 und 1996), als die Gesamtzahl der Erwerbstätigen bundesweit zurückging, expandierte die Beschäftigung in sozialen Dienstleistungen um immerhin etwa 5 Prozent.

Größter Einzelposten in diesem Aggregat war und ist das Gesundheitswesen mit mehr als 1,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 1996 (alte Bundesländer) [Fn4: Hinzu kommen knapp 0,3 Mio. Beschäftigte in den neuen Bundesländern.]
Die höchsten Expansionsraten sind dagegen in zwei anderen Wirtschaftszweigen zu registrieren: Die Beschäftigung in Kinder- und Altenheimen etc. stieg in den 19 Jahren zwischen 1977 und 1996 um rund 160 Prozent, bei Wohlfahrtsverbänden/Parteien (mit dem Schwerpunkt auf ersteren) sogar um etwa 200 Prozent. Eine eindrucksvolle Bilanz und - wohlgemerkt: Es handelt sich hier um sozialversicherungsrechtlich geschützte Arbeitsplätze, nicht um ehrenamtliche Tätigkeiten, nicht um geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.

Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Bereich der sozialen Dienstleistungen in den alten Bundesländern (1977,1994,1996)


Jahr


1977

1994

1996

Kinder-, Altenheime etc.

160.617

389.018

415.135

Schulen, Hochschulen

357.059

467.516

480.375

Sonstige Bildungsstätten

147.670

281.758

300.103

Gesundheits-, Veterinärwesen

882.422

1.543.308

1.617.858

Hygienische Einrichtungen

72.822

120.227

126.063

Wohlfahrtsverbände, Parteien

108.277

292.607

325.820

Kirchen, weltanschaul. Vereinigungen

91.406

160.363

162.961

Soziale Dienstleistungen insgesamt

1.820.273

3.254.797

3.428.315

Quelle: Bundesanstalt für Arbeit

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Insgesamt läßt sich also im Gebiet der alten Bundesländer für praktisch alle Bereiche der sozialen Dienstleistungen in der hier ausgewiesenen Wirtschaftszweiggliederung eine bis an den aktuellen Rand des Beobachtungszeitraumes anhaltende, zum Teil kräftige Beschäftigungsexpansion konstatieren.

Weniger einheitlich stellt sich die Entwicklung in den neuen Bundesländern - auch nach Durchschreiten der Talsohle 1992/93 - dar. Zwar sind auch hier die sozialen Dienstleistungen in der Summe Gewinner des Strukturwandels, oder besser des Transformationsprozesses. Doch sind in einigen Bereichen (z.B. Kindertagesstätten) auch deutlich gegenläufige Trends zu beobachten.

Im übrigen - auch das erscheint mir bemerkenswert - weisen aktuelle Indikatoren darauf hin, daß die Beschäftigungsexpansion bei den sozialen Diensten zur Zeit weitgehend zum Stillstand gekommen ist. Ein Zusammenhang mit den in letzter Zeit forcierten Sparanstrengungen der öffentlichen Haushalte ist unzweifelhaft vorhanden.

Nach den grundlegenden Beschäftigungstrends noch ein Blick auf einige finanzielle Indikatoren. Die Ausgaben der deutschen Sozialsysteme (Renten-, Kranken-, Unfall-, Arbeitslosenversicherung) summierten sich im Jahr 1994 auf - grob geschätzt - 750 Mrd. DM. Ein Posten, der etwa 22 Prozent des Bruttosozialprodukts beansprucht, besitzt selbstverständlich gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Es ist zu fragen, was dieser Posten ökonomisch bewirkt.

Zunächst einmal verbergen sich dahinter in großem Umfang schlichte Einkommenstransfers - insbesondere für die Zahlung von Alters- oder Invalidenrenten und für Lohnersatzleistungen bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Ausgaben in diesem Rahmen gehen in der Regel in den allgemeinen Konsum. 1994 umfaßte dieser Posten etwa 400 Mrd. DM bzw. gut die Hälfte der Gesamtausgaben der Sozialversicherungen. Diesen Posten zu steuern - über die Bestimmung des Renten- und Arbeitslosenunterstützungsniveaus oder des Entgeltfortzahlungssatzes bei Krankheit im Verhältnis zum Arbeitsverdienst - ist eine der sensibelsten Aufgaben der Sozialpolitik. Hier spielen nicht nur finanzpolitische Erwägungen eine Rolle, sondern letztlich Werturteile über ein gesellschaftlich akzeptables Umverteilungsniveau zwischen Generationen und zwischen sozialen Gruppen mit unterschiedlichen Risikolagen.

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Die betroffenen Gruppen - sowohl die Nettozahler als auch die Nettoempfänger - treten mit ihren privaten Einkommen als Nachfrager nach sozialen Dienstleistungen auf. Das Statistische Bundesamt hat errechnet, daß die Bundesbürger im Jahr 1993 im Mittel 6 Prozent ihrer verfügbaren Haushaltseinkommen für Güter und Dienstleistungen der Gesundheits- und Körperpflege ausgegeben haben [Fn 5: Statistisches Bundesamt: Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1993, Wiesbaden 1996.].
Das waren immerhin etwa 85 bis 90 Mrd. DM. Davon werden rund 35 Mrd. DM den privaten, nicht über die Sozialversicherungssysteme vermittelten Ausgaben für Dienstleistungen der Gesundheitspflege im engeren Sinne zugerechnet.

Schon mit den reinen Einkommenstransfers der Sozialsysteme ist ein nicht unbeträchtlicher Effekt für die - private - Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen verbunden: Die typischen Empfänger von Transfereinkommen, die sogenannten „Haushalte von Nichterwerbstätigen" (überwiegend Rentnerhaushalte), geben nämlich deutlich höhere Einkommensanteile für Güter bzw. Dienste der Gesundheits- und Körperpflege aus als ein durchschnittlicher Arbeitnehmerhaushalt. Ermittelt wurden Ausgabenanteile von gut 7 Prozent für Nichterwerbstätigen-Haushalte gegenüber gut 5 Prozent für Arbeitnehmer-Haushalte.

Tendenziell gilt demnach: Einkommensumverteilungen zugunsten der Empfänger von Transfereinkommen geben der privaten Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen zusätzliche Impulse. Umgekehrt gilt folglich auch: Beschränkungen von Transfereinkommen (insbesondere die Absenkung des Rentenniveaus) implizieren negative Rückwirkungen auf die private Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen.

Die privaten Ausgaben für Güter und Dienstleistungen der Gesundheits- und Körperpflege haben deutschlandweit zwischen 1991 und 1994 um gut 25 Prozent zugenommen. Sie sind damit erheblich schneller gewachsen als der private Verbrauch insgesamt (+17 Prozent). Im Jahr 1994 haben die Bundesbürger für Güter und Dienstleistungen der Gesundheits- und Körperpflege fast ebensoviel ausgegeben wie für Bekleidung und Schuhe [Fn 6: Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch Bundesrepublik Deutschland 1996.].

Die private, aus den verfügbaren Haushaltseinkommen finanzierte Nachfrage nach sozialen Diensten entfaltet allerdings nicht annähernd soviel Wir-

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kung wie die direkten Ausgaben der öffentlichen Hand für solche Dienstleistungen. Auch dazu, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige wenige Zahlen. Sie beschränken sich hier auf den Bereich der statistisch erfaßten Gesundheitsausgaben:

Allein die Gesundheitsausgaben des Jahres 1993 beliefen sich bundesweit auf etwa 440 Mrd. DM. Sie wurden zu etwa 72 Prozent durch die öffentlichen Haushalte einschließlich der Sozialversicherungen aufgebracht. Hinzu kommen Anteile der privaten Krankenversicherungen von 5 Prozent sowie von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (nach Abzug von Abgaben und Steuern) von 15 bzw. 8 Prozent. Dabei entstehen Zahlungen der Arbeitgeber vor allem im Zusammenhang mit der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Ausgaben der Privathaushalte sind vor allem Zuzahlungen für Arzneien, Heil- und Hilfsmittel einschließlich Zahnersatz sowie für ambulante Behandlungen.

Damit wird deutlich: Die Nachfrage der privaten Konsumenten nach sozialen Dienstleistungen ist zwar keine geringe, aber insgesamt doch untergeordnete Einflußgröße für die Entwicklung in diesem Bereich. Maßgeblich wird das Geschehen durch das Ausgabenverhalten und die Regulierungsmechanismen der öffentlichen Hand bestimmt. Die Pflegeversicherung mit jahresdurchschnittlich 30 Mrd. DM Ausgaben ist ein wichtiger Ausschnitt des Sozialbudgets, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

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3. Ausgewählte Politikvorhaben im Bereich der sozialen Dienstleistungen



3.1 Ausgabenbegrenzung für Reha-Kuren

Vor nunmehr etwa 18 Monaten hat die Bundesregierung unter dem Dach eines „Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung" eine ganze Reihe wirtschafts- und sozialpolitischer Beschlüsse gefaßt. Maßnahmen mit der spezifischen Zielrichtung, die Nachfrage und damit die Beschäftigung im Bereich der sozialen Dienstleistungen auszudehnen, enthielt das Programm nicht. Es war vielmehr im Grundsatz darauf angelegt, die Kostenbelastung des Produktionsfaktors Arbeit zu reduzieren.

Der Bereich der sozialen Dienstleistungen war durch das Maßnahmepaket insofern direkt betroffen, als die Ausgaben der Rentenversicherungsträger für Rehabilitationsleistungen auf einen Höchstbetrag von 7,5 Mrd. DM im

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Jahr 1997 begrenzt wurden. Gegenüber 1995 ist das ein Einschnitt um immerhin 2,3 Mrd. DM bzw. fast ein Viertel des seinerzeit erreichten Ausgabenvolumens. Ein derartiger Einschnitt konnte absehbar nicht ohne Folgen für die Einrichtungen sein, die Rehabilitationsleistungen erbringen.

Darüber hinaus wurde die individuelle Beteiligung der Versicherten an den Kosten der Rehabilitation erhöht. Da nicht nur Wirtschaft, sondern auch Sozialpolitik mit Psychologie zu tun hat, hat das „kleine Zeichen", das mit den neuen Zuzahlungsregelungen gesetzt wurde, durchaus erhebliche und dabei recht selektive Wirkungen gezeitigt.

Solche Wirkungen ergeben sich sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite. Für die Nachfrageseite, also die potentiellen Teilnehmer an Rehabilitationskuren, gilt, daß die individuelle Kostenbeteiligung naturgemäß auf unterschiedliche einkommensseitige Voraussetzungen und Akzeptanzgrenzen stößt. Für einkommensschwächere Personen fällt eine Erhöhung der Eigenbeteiligung sowohl materiell als auch psychologisch stärker ins Gewicht als für Bezieher mittlerer und höherer Einkommen. Der verschiedentlich berichtete Einbruch bei den Kuranträgen zum Jahresanfang 1997 kann als Reflex darauf interpretiert werden. Aber auch die mehrmonatige öffentliche Diskussion über Mißbrauch von Kuren und Urlaub auf Kosten der Versichertengemeinschaft, die die Auseinandersetzungen um die Budgetkürzungen begleitet hatte, dürfte sich auf das Antragsverhalten der Arbeitnehmer ausgewirkt haben.

Was hat die Ausgabenbegrenzung auf der Anbieterseite bewirkt? Hier gilt analog, daß nicht alle Einrichtungen gleichermaßen betroffen sind. Seit längerem etablierte Kureinrichtungen und Kurorte sind nach allgemeiner Einschätzung eher in der Lage, solche Einbrüche zu kompensieren, was nicht heißt, daß nicht auch dort Einschnitte programmiert sind.

Der im Aufbau befindlichen Rehabilitations-Infrastruktur in einigen Gebieten der neuen Bundesländer ist dagegen ein Rückschlag versetzt worden, der auch Auswirkungen auf das langfristige Entwicklungspotential haben dürfte. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit neu errichteter Kapazitäten ist mangels Auslastung stark gefährdet. Modernste Kurkliniken laufen Gefahr, zu millionenschweren Investruinen zu werden. Der örtliche Mittelstand (Einzelhandel, Gastronomie), ohnehin in seiner Existenz noch wenig gefestigt, erfährt zusätzliche Belastung.

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Fazit: Mit dem reduzierten öffentlichen Finanzbudget ist zwangsläufig die Nachfrage nach der sozialen Dienstleistung Rehabilitation zurückgegangen. Welchen Umfang der Kontraktionseffekt erreichen wird, läßt sich erst zum Jahresende genauer beziffern. Doch kann man wohl davon ausgehen, daß die gesamte Branche durch geringere Auslastung der Kapazitäten mehr oder weniger stark betroffen ist.

Die Reaktionen auf die beschlossenen Kürzungsmaßnahmen haben offenbar selbst die Bonner Politik überrascht und zu der Erkenntnis geführt, daß der Schnitt wohl zu radikal ausgefallen ist. Kaum anders zu deuten ist die in diesem Jahr getroffene Entscheidung, die Kurmittel der Rentenversicherung in den Jahren 1998 und 1999 wieder um je 450 Mio. DM aufzustocken. Klar ist damit aber auch, daß der Abbau von Kapazitäten und Beschäftigung so nicht vermieden, sondern allenfalls vermindert werden kann.

3.2 Soziale Dienstleistungen in der Arbeitsförderung

Die Bemühungen um die Bewältigung der Arbeitsmarktkrise in Ostdeutschland haben zu einigen innovativen Ansätzen in der Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik geführt. Eines der neuen Förderinstrumente wurde unter der Bezeichnung „produktive Arbeitsförderung" bekannt. Es handelt sich um die Anfang 1993 neu ins Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aufgenommenen Lohnkostenzuschüsse für die Beschäftigung Arbeitsloser. Derartige Zuschüsse waren zunächst bis 1997 befristet und auf Ostdeutschland begrenzt worden (§ 249 h AFG). Inzwischen haben sie Eingang in das neue Arbeitsförderungs-Reformgesetz (AFRG) gefunden, wurden bis zum Jahr 2002 befristet und können mittlerweile auch in den alten Bundesländern eingesetzt werden.

Zu den im Arbeitsförderungsrecht definierten Einsatzfeldern für Arbeitslose, die mit den Lohnkostenzuschüssen gefördert werden können, gehörte bereits von Beginn an der Bereich der sozialen Dienstleistungen. Dazu zählen in der Praxis Beratungsinstitutionen (Ehe, Familien, Frauen, Schuldner, Sucht/Drogen), ambulante und stationäre Betreuungsdienste für ältere und behinderte Menschen, sonstige Hilfsangebote für Ausländer, Asylbewerber, Obdachlose sowie offene Sozialarbeit [Fn 7: Vgl. Stark/Wolfinger: Lohnkostenzuschüsse nach §249 h AFG. In: IAB-Werkstattbericht Nr. 11/1995.].
Darüber hinaus kann Personal für

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Beratungsdienste und Sozialarbeit im Bereich der Jugendhilfe gefördert werden.

Der konzeptionelle Ansatz des neuen Förderinstrumentes bestand darin, daß die Arbeitsverwaltung pauschalierte Zuschüsse zu den Personalkosten in Höhe des eingesparten Arbeitslosengeldes gewährt. Dadurch wird - für die BA kostenneutral - Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert. Die in jedem Fall verbleibende Restfinanzierung ist durch die Maßnahmeträger bzw. Nutznießer der Arbeiten darzustellen. Natürlich steht dahinter, wie bei allen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, auch die Erwartung, daß auf diesem Wege auch die Wiedereingliederung Arbeitsloser in das Beschäftigungssystem gelingt.

Welche Ergebnisse sind zu berichten? In den alten Bundesländern spielt das Instrumentarium der „produktiven Lohnkostenzuschüsse" bis heute keine nennenswerte Rolle. Mit jahresdurchschnittlich 6.000 geförderten Personen ist das Ergebnis für 1996 weit hinter den Erwartungen (und hinter den Haushaltsansätzen der BA) zurückgeblieben [Fn 8: Autorengemeinschaft: Der Arbeitsmarkt 1996 und 1997 in der Bundesrepublik Deutschland. In: MittAB 1/1997, S. 21.] . In den neuen Ländern dagegen ist die Lage anders. Hier wurden 1996 im Jahresdurchschnitt 85.000 Personen gefördert - auch dies allerdings deutlich weniger, als ursprünglich erwartet.

Auf den Bereich der sozialen Dienste einschließlich Jugendhilfe entfallen in Ostdeutschland gegenwärtig etwa 16.000 Stellen bzw. etwa ein Viertel des Fördervolumens. In den nach herkömmlichem Muster geförderten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dürfte die Zahl der Beschäftigten in sozialen Diensten deutlich höher liegen. Zusammengenommen ergibt sich somit ein durchaus beachtliches Beschäftigungspotential.

Durch die Förderung der Beschäftigung vormals Arbeitsloser wird entsprechend den Förderregeln quasi per Definition zusätzliche Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen realisiert. Eine Förderung durch die Arbeitsämter kommt nur in Betracht, wenn die Leistungen zusätzlich erbracht werden, also nicht Pflichtleistungen des Sozialstaates sind. Insofern ist hier zweifellos ein Ansatz gegeben, neue Beschäftigungsfelder zu erschließen, in denen sich möglicherweise später einmal privatwirtschaftliche Initiative entfalten kann und aus dem Subventionsbedarf herauswächst.

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Grundsätzlich gilt das auch für das Beispiel der Pflegeversicherung. Produktive Lohnkostenzuschüsse für die Beschäftigung Arbeitsloser können dort eingesetzt werden, wo der Pflichtleistungskatalog der Pflegeversicherung abschließt [Fn 9: Vgl. Feckler: Zusätzliche Arbeitsplätze im Bereich der Pflegeversicherung durch arbeitsförderungsrechtliche Hilfen möglich? In: Sozialer Fortschritt 5/1995.].
Diese Schnittstellen zu markieren und mit sinnvollen Angeboten zu besetzen ist praktische Aufgabe der Maßnahmeträger. Im Einzelfall wird dies vielleicht auch helfen, neue Märkte zu erschließen. Vorrangig geht es der „produktiven Arbeitsförderung" jedoch darum, den einzelnen Arbeitslosen wieder möglichst nahe an den nicht-geförderten Arbeitsmarkt heranzuführen und im besten Fall dort zu integrieren.

Die durch produktive Lohnkostenzuschüsse erzielbaren Beschäftigungsimpulse sind in bezug auf ihre Nachhaltigkeit eher zurückhaltend zu beurteilen. Zwar liegen dazu noch keine Langzeituntersuchungen vor. Doch muß man mit Blick auf bisherige Einschätzungen davon ausgehen, daß gerade Projekte der sozialen Dienste auch langfristig von der öffentlichen Finanzierung abhängig sein werden. Selbst wenn es gelingt, bestimmte Projekte über einen längeren Zeitraum in die Förderstrukturen zu integrieren, sorgt das Prinzip der personenbezogenen, zeitlich befristeten Förderung für Fluktuation. Die Möglichkeiten der Gebietskörperschaften oder der gemeinnützigen Träger, Beschäftigte nach Auslaufen der individuellen Förderung dauerhaft zu übernehmen, bleiben sehr begrenzt. Unter den gemeinnützigen Trägern werden sie dabei noch vergleichsweise positiv beurteilt [Fn 10: Stark/Wolfinger, a.a.O., S. 38.].
Relativ gering ist, wie die Erfahrungen zeigen, auch das Potential für eigenständige Existenzgründungen im Anschluß an die Förderung.

3.3 Der Haushaltsscheck

Eines der jüngsten Reformvorhaben mit Bezug zum Thema „Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen" war die Einführung des sogenannten „Haushaltsschecks" in der Bundesrepublik zum Jahresanfang 1997. Vorausgegangen war eine längere Diskussion über alternative Modelle, zum Beispiel die Förderung von Dienstleistungsagenturen.

Durch Haushaltshilfen wird ein breites Spektrum von Dienstleistungen, darunter großenteils auch soziale Dienste im engeren Sinne, abgedeckt. Die

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Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Personen belief sich in der Bundesrepublik im Jahr 1995 allerdings auf lediglich 34.000 Personen [Fn 11: Emmerich/Walwei/Zika: „Beschaftigungsförderung durch Rechtsänderung: Aktuelle Beispiele". In: Wirtschaftsdienst Nr. 6/1997.].
In der Praxis lag der Schwerpunkt der Beschäftigung von Haushaltshilfen - ohne steuerliche Förderung - im Graubereich von geringfügiger oder informeller Beschäftigung. Der Umfang wurde für 1992 auf mehr als 700.000 Personen geschätzt [Fn 12: Vgl. Bundestags-Drucksache Nr. 13/5670.].

Mit dem Jahressteuergesetz 1997 wurden die Voraussetzungen für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in privaten Haushalten verbessert. Die als Sonderausgaben vom steuerpflichtigen Einkommen abzugsfähigen Kosten wurden von 12.000 DM auf 18.000 DM angehoben. Die Beschränkung auf Haushalte mit Kindern bzw. pflegebedürftigen Personen entfiel. Der Kreis der potentiell Begünstigten wurde also ganz erheblich erweitert. Zudem sollte das mit dem Haushaltsscheck gewählte Abrechnungsverfahren eine möglichst einfache Handhabbarkeit gewährleisten.

Die im Vorfeld artikulierten Erwartungen gingen recht weit auseinander. Skeptiker vermuteten lediglich Umschichtungen aus dem Bereich geringfügiger oder informeller, abgabenfreier Beschäftigung in den Bereich versicherungspflichtiger Beschäftigung, kaum zusätzliche Beschäftigungsimpulse. Erfahrungen im Ausland (Frankreich, Belgien) mit dem Dienstleistungsscheck sprachen ebenfalls für eher verhaltene Erwartungen. Optimisten argumentierten dagegen für das neue Instrument mit der Aussicht auf die Entstehung von mehreren 100.000 neuen, d.h. zusätzlichen Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren [Fn 13: Z.B.: „Eine Million neue Jobs durch Pflege und Haushaltshilfe". Interview mit dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda. In: ibv Nr. 7 vom 15. Februar 1995.].

Um eine Erfolgsbilanz aufzustellen, ist es freilich noch zu früh. Das Erfolgspotential des neuen Förderinstrumentes sei an folgenden Indikatoren umrissen: Nach Expertenberechnungen besteht ein effektiver Anreiz zur Inanspruchnahme des Dienstleistungsschecks, d.h. eine Steuerersparnis, für Haushalte mit einem Grenzsteuersatz von 40 Prozent [Fn 14: Emmerich: Wann rechnet sich die Haushaltshilfe? In: lAB-Kurzbericht Nr. 4/1997.].
Damit kommen als Arbeitgeber bundesweit etwa 500.000 bis 600.000 von insgesamt etwa 35 Mio. Haushalten in Betracht.

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Je nachdem, wie schnell und wie umfangreich das neue Förderangebot der Bundesregierung angenommen wird - den zu erwartenden Steuerausfällen wird zweifellos ein positiver Beschäftigungseffekt gegenüberstehen. Aufgabe wissenschaftlich-neutraler Evaluierung wäre es, zu ermitteln, wie teuer, und zwar in gesamtfiskalischer Bewertung, diese zusätzliche Arbeit und damit die zusätzliche Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen durch den Staat „erkauft" wurde.

Schon heute scheinen jedoch die grundsätzlichen Verteilungseffekte klar zu sein: Nutznießer sind die Haushalte im oberen Einkommensbereich; für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen ist diese Form der Subventionierung privater Dienstleistungsnachfrage nicht relevant.

Programmiert ist damit implizit übrigens auch eine starke Ost-West-Asymmetrie: In den neuen Bundesländern, in denen die Beschäftigung von Haushaltshilfen bisher ohnehin keinen nennenswerten Umfang erreicht hat, verharrt die Inanspruchnahme der Haushaltsschecks nach Auskunft der Krankenkassen noch immer nahe Null.

Fazit: Das alte Dienstmädchenprivileg hat ein neues Kleid bekommen. Daß das neue Instrument zusätzliche Dienstleistungsnachfrage von Durchschnitts- oder Geringverdienerhaushalten induziert, kann - wenn diesen Haushalten ökonomisch rationales Handeln unterstellt werden darf - weitgehend ausgeschlossen werden. Mit Blick auf dieses Ziel hätte das alternativ diskutierte Modell der Dienstleistungsagentur nach weitgehend übereinstimmender Expertenmeinung wesentlich mehr Erfolgspotential besessen. Es wäre freilich auch in wesentlich höhere Kostendimensionen hineingewachsen als die Steuerausfälle des Dienstleistungsschecks. Eine vergleichende Bewertung der tatsächlichen Wirkungen beider Modelle muß vorerst offen bleiben.

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4. Ausblick: Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten

Soziale Dienstleistungen werden zum großen Teil auf Märkten mit hohem Regulierungsgrad erbracht. Sie sind daher in hohem Maße abhängig von wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen über Finanzrahmen, Leistungsvoraussetzungen etc. Wenn - was geschehen ist - die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen in der Bundesrepublik auch in den letzten Jahren weiter expandiert ist, so ist das zu guten Teilen auf staatliche Aktivitäten zurückzuführen. An erster Stelle ist hier das Wachstum der Sozialbudgets zu nennen.

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Es läßt sich eine ganze Reihe von jüngeren Politikvorhaben für die Stärkung der Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen belegen. Neben der Einführung von Haushaltsscheck und Pflegeversicherung und der „produktiven Arbeitsförderung" im Bereich der sozialen Dienste ist hier u.a. auf die gesetzliche Verankerung des Anspruches auf den Kindergartenplatz zu verweisen. Von all diesen Maßnahmen sind zusätzliche Impulse für die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen zu erwarten. Für eine Quantifizierung solcher Effekte ist es allerdings noch zu früh.

Mindestens ebenso wie diese nachfragestimulierenden Effekte, jedoch in die entgegengesetzte Richtung, wirken andere Faktoren:

  • Eine substantielle Kostenentlastung des Faktors Arbeit ist trotz langjähriger Diskussionen bisher nicht gelungen. Auf die Kostenentwicklung im Bereich der arbeitsintensiven sozialen Dienstleistungen und damit auf die Nachfrage nach solchen Diensten wirkt sich dies zwangsläufig besonders negativ aus.
  • Auch eine Stärkung der Massenkaufkraft durch Rückführung von Steuern und Abgaben, durch die private Nachfragepotentiale nach sozialen Dienstleistungen mobilisiert werden könnten, wurde in den letzten Jahren nicht erreicht. Schritte in diese Richtung sind zweifellos notwendig, um die Nachfrage nach sozialen Diensten von der heute sehr engen Bindung an die Zwänge staatlicher Haushaltspolitik zu lösen und den Bürgern größere Entscheidungsspielräume bei der Inanspruchnahme sozialer Dienste zuzugestehen.
  • Schließlich zieht sich durch alle Ebenen staatlicher Finanzpolitik gegenwärtig das Bemühen um Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Die Sozialbudgets sind davon in besonderer Weise betroffen. Einsparungen in diesem Bereich gehen zu einem gewichtigen Teil auch zu Lasten der - überwiegend öffentlich finanzierten - sozialen Dienstleistungen. Die kürzlich durch den Bundesgesundheitsminister veröffentlichte Halbjahresbilanz der Gesetzlichen Krankenversicherung berichtete über Ausgabenrückgänge bei den sozialen Diensten und der Gesundheitsförderung von 35 Prozent und bei Kuren von fast 20 Prozent [Fn 15: Handelsblatt vom 4.9.1997.].

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Zu diesen nachfragestimulierenden bzw. -hemmenden Faktoren treten eine Reihe z.T. strategisch begründeter Umschichtungen von Aufgabenbereichen und Ressourcen, z.B. zwischen Sozialhilfeträgern und Pflegeversicherung. So unterschiedlich, wie die hier genannten Einflußfaktoren sich darstellen, fallen auch die Wirkungen aus. In einzelnen Bereichen registrieren wir eine anhaltende Expansion oder gar zusätzliche Wachstumsimpulse, auch mit positiven Auswirkungen auf die Beschäftigungsentwicklung. Der Pflegebereich ist hier als prominentes Beispiel anzuführen.

In anderen Bereichen haben politische Interventionen zumindest kurzfristig zu Wachstumsstopp und kontraktiven Entwicklungen geführt. Dies trifft im Zusammenhang mit den jüngsten Bemühungen um Kostendämpfung im Gesundheitswesen zum Beispiel auf den Bereich der Rehabilitationskuren zu.

Schritte zur Effizienzsteigerung sollten bei den sozialen Diensten ebenso permanenter Anspruch sein wie in anderen Bereichen der Volkswirtschaft. Wir alle kennen vermutlich praktische Beispiele, in denen sich durch modernes Management und Professionalisierung mit weniger Aufwand das gleiche Ergebnis erzielen ließe.

Auch Effizienzsteigerungen durch Leistungsbegrenzung, private Eigenvorsorge und Entstaatlichung sind nicht per se falsch. Sie sind aber im Hintergrund immer verbunden mit individuell unterschiedlichem Vermögen zu mehr oder weniger Eigenvorsorge und Selbstbeteiligung. In der Konsequenz bewirken sie mehr Ungleichheit in der sozialen Sicherung. Das Wissen um diese Zusammenhänge verpflichtet zum behutsamen Umgang mit den Instrumenten sozialpolitischen Handelns.

Aus ökonomischer Perspektive gilt: Soziale Dienste sind kein Exportschlager. Auch wenn deutsche Krankenhäuser demnächst mehr ausländische Patienten behandeln sollten, wird das im Grundsatz so bleiben. Soziale Dienste werden also kaum dazu beitragen, den Leistungsbilanzüberschuß der deutschen Wirtschaft zu erhöhen.

Dennoch gibt es gute Gründe dafür, sie auch als Wirtschaftsfaktor stärker als bisher zur Kenntnis zu nehmen. Ein gegebenes Ausgabenvolumen für soziale Dienste induziert in der Regel mehr regionale Beschäftigung als beispielsweise die gleiche Ausgabe für Heimelektronik oder das Auto. Da soziale Dienste mit anderen Gütern um die private Kaufkraft konkurrieren,

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wäre zu fragen, wie man sie in diesem Wettbewerb stärken kann - vor allem, um ihnen den Weg in Haushalte mit eher mäßigen Steuersätzen zu ebnen.

Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Ein Vorhaben, um dessen modellhafte Realisierung mein Institut sich z.Z. mit Unterstützung des Wirtschaftsministeriums von Sachsen-Anhalt bemüht, zielt beispielsweise auf die Implementation wohnbegleitender Dienstleistungen in der Stadt Halle unter dem Stichwort „Servicewohnen". Am Ende dieses Projektes steht das Ziel, wohnbegleitende soziale und andere Dienste zu einem rentablen Geschäftsfeld von Unternehmen der Wohnungswirtschaft zu entwickeln.

Interventionen im Bereich der sozialen Dienstleistungen erfolgen in einem komplexen Gefüge von Rahmenbedingungen, Zielen und Wirkungen, die selbst für Experten oft nicht ohne weiteres durchschaubar sind. Gleichwohl existiert ein erhebliches Interesse an den Ergebnissen wirtschafts- und sozialpolitisch motivierter Eingriffe. Die Kultur der wissenschaftlich-neutralen Bewertung derartiger Interventionen ist in Deutschland, verglichen mit anderen Staaten, noch nicht sehr stark ausgeprägt. Evaluierung sollte künftig einen höheren Stellenwert erhalten.

Auch wo Eingriffe in öffentlich finanzierte soziale Dienstleistungen notwendig sind, ist ein gewisses Maß an Kontinuität unverzichtbar. Ohne sie fehlt es an Planungssicherheit bei Investitionen, an Berechenbarkeit bei Existenzgründungen und an rationalem Verhalten bei der Berufswahl. Darunter leidet gegebenenfalls die Effizienz sozialstaatlichen Handelns insgesamt. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung aller beteiligten Entscheidungsträger.

Das Gebot des Grundgesetzes, einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu schaffen, besitzt für den Bereich der sozialen Dienstleistungen spezifische Bedeutung. Die meisten Regionen in den neuen Bundesländern werden voraussichtlich auch längerfristig erhebliche Rückstände gegenüber dem Bundesdurchschnitt in bezug auf Wirtschaftskraft, Steuer- und Beitragsaufkommen und verfügbare Haushaltseinkommen aufweisen. Auch wegen der deutlich geringeren Bevölkerungsdichte wird die Finanzierung der sozialen Infrastruktur in Ostdeutschland vermutlich auf Dauer relativ teurer und in der Konsequenz subventionsbedürftiger sein als in den alten Bundesländern. Wenn man sich nicht vom Leitbild vergleichbarer Le-

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bensverhältnisse in Ost und West verabschieden will, bleiben umfangreiche Sozialtransfers für die absehbare Zukunft unverzichtbar - unabhängig davon, über welche Systeme sie abgewickelt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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