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Helga Korthaase
Beschäftigungs- und frauenpolitische Bedeutung von Pflegeberufen


In unserer Verfassung ist das Ziel des sozialen Rechtsstaates vorgegeben. Dazu gehört auch die Sorge um die Alten und Hilfebedürftigen, die in unterschiedlicher Intensität auf die Hilfe der Allgemeinheit angewiesen sind. In einer Gesellschaft, die alles und jeden an seiner Leistung mißt, geraten nicht mehr oder nur eingeschränkt leistungsfähige oder aufgrund ihres Alters als solche angesehene Menschen schnell an den Rand der Gesellschaft.

In früheren Gesellschaftsformen war der alte Mensch angesichts einer durchschnittlich geringen Lebenserwartung ein Ausnahmefall, der aber mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen eine wichtige Funktion in der Gesellschaft einnahm. Im historisch kurzen Zeitraum von 100 Jahren hat ein beispielloser demographischer Wandel stattgefunden: Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich von etwa 35 Jahren auf 70 verdoppelt. Der Anteil der über 60jährigen an der Gesamtbevölkerung hat sich von weniger als 5 Prozent auf über 20 Prozent erhöht. Heute beträgt der - überdurchschnittlich steigende - Anteil der über 80jährigen 5 Prozent.

Allein seit Anfang der achtziger Jahre ist die durchschnittliche Lebenserwartung eines im früheren Bundesgebiet geborenen Säuglings um fünf Jahre gestiegen. So beträgt nach der Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes die Lebenserwartung für einen männlichen Säugling 72,9 Jahre und für einen weiblichen Säugling 79,29 Jahre. Ich weiß um die Probleme solcher Prognosen und von Durchschnittszahlen. Doch wir wissen auch häufig aus der eigenen Erfahrung, daß die Menschen immer älter werden und damit sich zahlreiche Probleme ergeben: Dies hat ebenso tiefgreifende Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme wie die sozialen, gesellschaftlichen und familiären Beziehungen.

Seit 1995 besteht nach fast zwanzigjähriger Diskussion mit dem Pflegeversicherungsgesetz ein sozialversicherungsrechtlicher Schutz vor dem Risiko der Pflegebedürftigkeit - ein Risiko, das vorher zum überwiegenden Teil von den Pflegebedürftigen selbst und ihren Familien getragen werden muß-

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te. Mit der Pflegeversicherung wurden neben den sozialen Zielsetzungen auch beschäftigungspolitische und frauenpolitische Ziele angestrebt.

Eine zielgerichtete materielle und soziale Versorgung alter Menschen kennen wir erst seit Ende des vergangenen Jahrhunderts. Erst mit der Einführung von Rentenversorgungssystemen und speziellen Diensten der Altenhilfe hatten die immer zahlreicher werdenden alten Menschen, die sich nicht aus eigener Kraft finanziell versorgen konnten oder durch ihre Familie versorgt wurden, eine andere Perspektive als lebenslange Arbeit oder das Armenhaus.

So konnte sich erst dann eine professionelle Versorgungsinfrastruktur entwickeln. Die Gesundheits- und Sozialberufe sind in einem Professionalisierungsprozeß und ihre Fachlichkeit als traditionelle Frauenberufe immer wieder in der Gefahr einer Geringschätzung.

Die Bundesregierung geht von einem Beschäftigungsstand von rund zwei Millionen im Gesundheitswesen aus und stellt fest, daß damit etwa das gleiche Niveau wie der Beschäftigungsstand in der Automobilindustrie besteht.

Die gewaltige Expansion der sozialen Dienste in den letzten 20 Jahren - allein zwei Drittel des heutigen Beschäftigungsvolumens ist hinzugekommen - wurde nicht begleitet von der Bereitstellung einer dem Arbeitsbedarf entsprechenden Anzahl von Arbeitsplätzen. Die Ausweitung des Sozialbereichs hat vielmehr einer Ökonomisierung der personenorientierten sozialen Dienstleistungen (Stichworte: Rationalisierung, Privatisierung, Sozialmanagement) ebenso Vorschub geleistet, wie einem Abbau an arbeits- und sozialrechtlich abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen.

In kaum einem anderen Arbeitsmarktbereich ist der Anteil prekärer Beschäftigungsverhältnisse (von der Befristung sozialversicherungsrechtlich abgesicherter Beschäftigungsverhältnisse bis zur geringfügigen Beschäftigung unterhalb des Existenzminimums und ohne Sozialversicherungsschutz oder der unechten Selbständigkeit als Honorarkraft ohne den Schutz des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts) so hoch wie in dem für Sparmaßnahmen besonders anfälligen sozialen Sektor.

Man kann generell von einem Mißverhältnis zwischen Berufsbildung, Beruf und beruflicher Karriere, insbesondere in den pflegerischen Berufen spre-

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chen, d.h. die Berufsausbildung bereitet nicht adäquat auf die spätere Berufstätigkeit vor. Zum Teil ist die berufliche Tätigkeit unterhalb der teilweise sehr umfassenden Ausbildung, zum Teil ist die Ausbildung nicht ausreichend. So sind die Ausbildungsgänge häufig veraltet und bilden meist nur in sehr engen Berufsbildern aus, die keinen weiteren Karriereaufbau zulassen.

Der berufliche Alltag ist hart und überlastet, da die Pflege, Hilfe und Unterstützung von Menschen, die selber aufgrund ihrer besonderen Situation kaum etwas „geben" können, nicht nur den Einsatz der beruflichen Kompetenz, sondern der ganzen Person fordert, so daß häufig die emotionale Abgrenzung zum miterlebten Leid unterbleibt.

Gleichzeitig erleben die in sozialen und pflegerischen Berufen Tätigen einen permanenten Arbeitsdruck, der zum einen aufgrund zunehmender Personaleinsparungen entsteht, andererseits aber auch eine Folge des Sich-nicht-abgrenzen-Könnens ist. Somit erleben viele in diesen Bereichen Beschäftigte das sogenannte „burn-out-Syndrom" (ausgebrannt sein, Verlust der beruflichen Identität), das wiederum zum vorzeitigen Berufsausstieg führt.

Der Bereich der Altenpflege ist erst in den letzten 20 Jahren als ein wichtiges eigenständiges Berufsfeld anerkannt worden. Waren 1970 rund 8.000 Menschen in der Altenpflege beschäftigt, so weist die Statistik 1987 mehr als zehnmal so viele Beschäftigte, nämlich 81.500, aus. Hier sehen einige, wie der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, große Beschäftigungsperspektiven, der bei der Einführung der Pflegeversicherung für diesen Bereich eine Million Arbeitsplätze voraussagte.

Das wachsende Durchschnittsalter, durchschnittlich steigende Familieneinkommen alter Menschen und die derzeitige Finanzkraft der Pflegekassen, die über ein Finanzpolster von 8,5 Milliarden DM verfügen, ließen solche optimistischen Erwartungen nicht unrealistisch erscheinen. Diese Erwartungen haben sich bisher nicht erfüllt. In den Gesundheitsberufen - von der Ärztin bis zum Krankenpfleger - meldete das Landesarbeitsamt für Berlin Ende Juli 1997 247 offene Stellen und 9.117 Arbeitsuchende. Die Berliner Arbeitsämter konnten im Juli 177 Bewerberinnen und Bewerber vermitteln.

Angesichts der allgemeinen Arbeitsmarkt- und Finanzsituation der öffentlichen Hand und der Mehrzahl der privaten Haushalte sind optimistische Prognosen für die Erweiterung der Beschäftigtenzahlen und der Ausbil-

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dungsplätze in diesem Bereich nicht sehr wahrscheinlich. Die Finanzierungsstrukturen für die stationären Einrichtungen und ambulanten Pflegedienste orientieren sich an scheinbar objektiven Bemessungsstrukturen, wie den Pflegestufen, die die Vielzahl pflegerischer Leistungen auf standardisierte, in Minuten ausgedrückte, materielle Versorgungsleistungen zusammenfassen.

Die fachliche Anerkennung der Pflegeleistungen drückt sich allerdings nicht in einer ausreichenden materiellen Anerkennung dieser Tätigkeiten aus. Sicher - durch das Pflegeversicherungsgesetz erhalten die Frauen, die ihre Eltern und Schwiegereltern pflegen, etwas Geld. Von den Pflegegeldern - seien es 400, 800 oder 1.300 DM - sind aber existenzsichernde Einkommen trotz erheblicher zeitlicher Belastungen nicht zu erzielen.

Derzeit erhalten rund 1,6 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Damit wird überwiegend die Pflege in der Familie unterstützt. In 80 Prozent der Fälle, in denen Anspruch auf Pflegegeld besteht, wird das Pflegegeld den Sachleistungen vorgezogen. Das Ziel einer Förderung der Pflegetätigkeit im häuslichen Bereich wurde damit bisher erreicht. Um die Pflegebereitschaft zu fördern und den hohen Einsatz der Pflegenden anzuerkennen, zahlt die Pflegeversicherung neben dem Pflegegeld Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung der Pflegepersonen.

Der Wunsch alter Menschen und ihrer Familien, möglichst lange selbständig zu sein oder ihren Lebensabend im Kreise ihrer Familie zu verbringen, wird häufig durch ihre Töchter oder Schwiegertöchter realisiert, die ihren Arbeitsplatz zugunsten der Pflege aufgeben oder einen beruflichen Wiedereinstieg nach einer Phase der Kindererziehung weiter hinauszögern, weil sie fast nahtlos in die Pflege der älteren Generation übergeht.

Die Arbeit ohne eine entsprechende Ausbildung und mit mangelnder Unterstützung führt häufig zu einer Überforderung der Pflegenden. Zudem ist zu beobachten, daß gerade Pflegeaufgaben der Stufen l und II zu einem beachtlichen grauen Markt mit geringfügiger, nicht sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit und Schwarzarbeit geführt haben. Hier wird sowohl frauen- als auch beschäftigungspolitisch ein gefährliches Feld gefördert, das uns in der Zukunft noch erhebliche soziale Probleme bringen wird.

Mit der professionellen Erbringung der Pflegedienstleistungen dürfen die Pflegekassen nur zugelassene Pflegeeinrichtungen beauftragen. Die ambulanten Pflegedienste und Sozialstationen sind der Bereich, wo neue Arbeits-

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plätze und erfolgreiche Existenzgründungen durch die Pflegeversicherung erwartet wurden. Die Erfahrung zeigt allerdings bisher eher die Zunahme geringfügiger Beschäftigung. Die Qualität der angebotenen Dienstleistungen wird bisher zum einen durch die Prioritätensetzungen bei den bezahlten Leistungen, die mit dem Zielkatalog „Warm-sauber-satt" menschliche Zuwendung und Anteilnahme kaum honoriert, und zum anderen durch einen Mangel an akademisch qualifizierten Fachkräften, die die Arbeit im Pflegesektor mitbestimmen und steuern, beeinträchtigt.

Die Altenpflege ist ein Berufsfeld, das gute Möglichkeiten zum Einstieg gerade für Wiedereinsteigerinnen, ausländische Frauen und Aussiedlerinnen eröffnet. Der Bedarf an Qualifizierung und Ausbildung wird im wesentlichen durch die privaten und staatlichen Altenpflegeschulen gedeckt. In den 42 Altenpflege-Klassen in Berlin bereiten sich derzeit 1.106 Personen, darunter 307 Männer, auf eine Tätigkeit in der Altenpflege vor. Außerdem werden in Berlin derzeit 50 Familienpfleger/innen, 80 Heilpädagoginnen und 260 Heilerzieherinnen ausgebildet.

Berlin verfügt über 1.400 Ausbildungsplätze für Altenpfleger/innen. 90 Prozent der Auszubildenden sind Umschüler/innen. Die schulisch organisierte Ausbildung ist Ländersache. Die Schüler/innen erhalten keine Ausbildungsvergütung, sondern müssen ihren Lebensunterhalt anderweitig, z.B. nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG), sichern. Die unterschiedlichen Länderregelungen erschweren den Wechsel zwischen den verschiedenen Bundesländern. Hier besteht, wie in anderen traditionellen sozialen Frauenberufen, für mich erheblicher politischer Handlungsbedarf, um für diese Auszubildenden vergleichbare Rahmenbedingungen, wie für die Mehrzahl der in Berufen des dualen Systems Ausgebildeten, zu schaffen.

Wir werden in der Zukunft Lösungen für eine Sicherung der Ausbildungskapazitäten in den Krankenpflegeschulen finden müssen. Wir müssen die schulischen Ausbildungsgänge schrittweise an die Ausbildungsberufe nach dem Berufsbildungsgesetz anpassen. Wir brauchen Lösungen für die soziale Absicherung von Fachschulabsolventinnen, die direkt nach ihrer Ausbildung arbeitslos werden. Wir müssen die Ausbildungen in den einzelnen Ländern angleichen, um die regionale Mobilität während der Ausbildung zu erleichtern. Wir sollten die Altenpflegeausbildung und Qualifizierungsangebote im Bereich der ambulanten Pflege bundesweit vereinheitlichen und nicht zuletzt Übergänge zu anderen Berufsbereichen und Bildungsgängen schaffen.

[Seite der Druckausg.: 18 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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