FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausgabe: 94 = Leerseite]

[Seite der Druckausgabe: 95]

Eberhard Seidel-Pielen: Ethnische Kolonien oder Ghettos?

Nichts ist mehr, wie es einmal war. Kürzlich trat Berlins Innensenator Jörg Schönbohm mit der Aussage vor die Öffentlichkeit, die Ausländerghettos müßten in den nächsten zehn, zwanzig Jahren aufgelöst werden, es dürften keine Parallelgesellschaften entstehen. Natürlich blies ihm Gegenwind entgegen. Der Vorwurf lautete: Ausländerfeindlichkeit, Rassismus etc.

Die Reaktionen aktivierten alte Reflexe. Scheinbar standen sich wieder einmal die alten Lager gegenüber: hier ein rechter Populist, der sich auf Kosten der Einwanderer profiliert, dort die links-liberale Öffentlichkeit, die sich diesem Versuch widersetzt. Die Aufregung um die Schönbohmschen Äußerungen verdeckten für eine kurze Zeit, daß es diese Polarität wie einst in den achtziger und frühen neunziger Jahren nicht mehr gibt. Ob im Schanzenviertel in Hamburg, dem Gallus-Viertel in Frankfurt, dem Dortmunder Norden oder in Berlin-Kreuzberg, überall mehren sich die Klagen über laute, expressiv auftretende Migrantenjugendliche.

Seit der Mythos vom edlen Ausländer verblaßt ist und sich herumgesprochen hat, daß Einwanderer nicht nur diskriminiert sind, sondern mitunter ziemlich antiwestlich, sexistisch, ja fundamentalistisch sein können, wissen auch Zeitgenossen, die dem grün-alternativen Lager angehören, nicht mehr so recht, was sie mit einem ihrer früheren Lieblingsthemen anfangen sollen. Im Laufe der neunziger Jahre hat die Bereitschaft, bürgerrechtliche Forderungen der Minderheiten zu unterstützen, abgenommen. Es ist das Ergebnis einer langjährigen Verdrängung der Tatsache, daß Einwanderung auch Ungleichzeitigkeiten, Differenz und sich widersprechende Wertesysteme bedeuten kann.

Das Eingeständnis macht sich Luft, daß sich im Mikrokosmos des Wohnbezirks die Konfrontationslinien der multikulturellen Gesellschaft anders darstellen als im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Machogehabe liegt im scheinbaren unversöhnlichen Konflikt mit feministischen Kommunikationsgeboten. Alternative Verhaltenskodizes prallen auf expressive Verkehrsformen der Unterschicht. Wir erleben im Moment im linksliberalen Milieu

[Seite der Druckausgabe: 96]

ein lustvolles Türkenbashing. Endlich darf, ja muß über das geredet werden, was man bislang dem politischen Gegner auf der Rechten mit emphatischer moralischer Geste verbieten wollte – Fundamentalismus, türkische Gewaltkultur und Nationalismus.

Höchste Zeit, am Beispiel Berlin-Kreuzberg an ein paar Fakten zu erinnern. Zwischen 1987 und 1997 stieg die Arbeitslosenquote dort von 17 auf über 30%. In zwei Jahren wird die Jugendarbeitslosigkeit bei 60% liegen. Und hätte die türkische Community in den letzten zehn Jahren nicht zur Selbsthilfe gegriffen und eine Nischenökonomie – vor allem im Bereich der Dönerindustrie in Berlin und den neuen Bundesländern – aufgebaut, läge die Arbeitslosenquote schon heute erheblich höher.

In Kreuzberg sind die dramatischen weltwirtschaftlichen Entwicklungen deutlicher spürbar als in anderen Regionen der Republik. Der erste Arbeitsmarkt braucht einen großen Teil der Kreuzberger mit geringer Bildung nicht mehr und wird sie auch in Zukunft nicht mehr brauchen, selbst dann nicht, wenn sich das Bildungsniveau zum Beispiel der Schulabgänger türkischer Herkunft in nächster Zeit heben sollte. Ähnlich wie in den französischen Banlieus sind die meisten Jugendlichen aus Einwandererfamilien in Kreuzberg auf Dauer arbeitslos. Weder in Gewerkschaften organisiert noch in einer der Stadtteilgruppen, die es nicht mehr in der Form wie in den siebziger und achtziger Jahren gibt, haben sie es besonders schwer, eine Verbesserung ihrer Lebenssituation gemeinsam zu organisieren.

Was bleibt, sind individuelle Überlebens- und Darstellungsstrategien, die selbstorganisierte Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums und das Zurschaustellen der eigenen physischen Existenz. Von der Öffentlichkeit werden die Protestformen dieses Lumpenproletariats in Markenklamotten als Vandalismus, Kriminalität oder Machogehabe interpretiert.

Es macht so gesehen Sinn, daß sich (nicht nur) die Berliner Innenpolitik auf das Zurückdrängen der Bettelei und der Randgruppen aus dem öffentlichen Raum und den Kampf gegen Graffiti konzentriert. Beides sind Ausdrucksformen, die die verlorene Integrationskraft der Gesellschaft dokumentieren. Es sind Protest- und Widerstandsformen, denen ein Ende gesetzt werden soll, nachdem der Widerstand der Arbeiter im Produktionsprozeß bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre gebrochen wurde. Die „Überflüssigen" der Gesellschaft sollen nicht nur geräuschlos vom Arbeitsmarkt ver

[Seite der Druckausgabe: 97]

schwinden, sondern auch aus dem öffentlichen Raum, damit der Schein einer funktionierenden bürgerlichen Öffentlichkeit aufrechterhalten werden kann.

Die Begeisterung für den New Yorker Exportschlager „Zero-Tolerance" – die Polizeistrategie, selbst Bagatelldelikte scharf zu verfolgen – ist in diesem Kontext zu sehen. Es ist das angemessene Konzept der Kriminalitätsbekämpfung für eine Gesellschaft, die den Glauben an ihre Veränderbarkeit aufgegeben hat und nicht mehr bereit ist, in den sozialen und gesellschaftlichen Konsens zu investieren, eine Gesellschaft, die sich auf die normative Kraft der Repression verständigt hat. Dazu ist es notwendig, die Formierung straffällig oder auch nur auffällig werdender Gruppen aus dem Entstehungskontext der ökonomischen Entwicklung herauszureißen und als ethnisches Problem zu beschreiben. Das linksliberale Milieu spielt dabei mit.

Augenblicklich konzentriert sich die Diskussion auf laut auftretende türkische und arabische Jugendliche. Über sie erregt sich längst nicht mehr nur der „Spiegel" in seinen Frontberichten aus den multikulturellen Nahkampfgebieten der Republik. Auch die informellen Gesprächskreise in links-alternativen Kreisen vermitteln den Eindruck, daß diese jungen Männer tatsächlich den inneren Frieden bedrohen.

Dabei weiß jeder halbwegs gebildete Zeitgenosse, daß es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen der Rolle des einzelnen im Verwertungsprozeß und der Art und Weise, wie er am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, welche Straftaten er begeht, welche Formen ideologischer Bewältigungsstrukturen daraus resultieren. Aber in der Öffentlichkeit ist man mangels solidarischer Perspektiven längst auf das wohlfeile Feld der Ideologie ausgewichen.

Folglich wird sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von den Minderheiten auf Teufel komm raus ethnisiert. Die Türken werten die Tatsache, daß sie überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen sind, als ein Zeichen rassistischer Diskriminierung (z.B. Beamtenrecht u.a.). Es soll hier nicht bestritten werden, daß es diese Fälle gibt. Aber das ändert nichts daran, daß die überproportional hohe Arbeitslosigkeit von Ausländern vor allem mit der Schichtzugehörigkeit und dem Bildungsgrad zu tun hat. Der Arbeitsmarkt kann auf gering Gebildete verzichten, egal ob sie nun türkischer oder deutscher Herkunft sind. Diese Erkenntnis ist für jeden, den es trifft, schmerzlich. Und es spendet Trost, wenn man die eigene prekäre Lage nicht

[Seite der Druckausgabe: 98]

als zwangsläufig, sondern als böswillig verursacht erklären kann. Die Ethnie oder die Religion wird zur letzten Bastion möglicher Solidarität.

Auch die Mehrheitsgesellschaft findet zunehmend Gefallen an der Ethnisierung sozialer Konflikte. Sie hat das Bewußtsein von der Veränderbarkeit der Gesellschaft aufgegeben. Daß kaum einer noch ernsthaft an Verteilungsgerechtigkeit und an die Finanzierbarkeit von Mindeststandards sozialer Rechte glaubt, wirkt auf den Diskurs zurück. Nicht mehr die Startnachteile randständiger Jugendlicher, nicht mehr die Diskriminierung von Minderheiten und ihre politische sowie rechtliche Gleichstellung beschäftigen heute viele ehemalige Fürsprecher einer multikulturellen Gesellschaft, sondern die Bedrohung der Qualität durch eben diese.

Es wäre verkürzt, diesen Paradigmenwechsel in der Debatte dem „Spiegel" oder Samuel Huntington und dessen Thesen vom „Kampf der Kulturen" anzulasten. Bleiben wir beim links-alternativen Milieu, das Jahrzehnte in den Innenstädten der Republik mit den Einwanderern koexistierte. Hier haben sich dramatische Änderungen vollzogen. Nur 30 Jahre, nachdem eine alternative, linke und links-liberale Öffentlichkeit in der Folge der Studentenrevolte von 1968 damit begonnen hatte, die Bundesrepublik in eine offene Gesellschaft zu verwandeln, macht sich auch hier die Erkenntnis breit: Wir haben etwas zu verteidigen.

In Stadtteilen wie Berlin-Kreuzberg, in denen sich in den letzten Jahrzehnten eine alternative Beschaulichkeit – manche halten das auch für Urbanität – entwickelt hat, ist eine Generation gealtert, die sich jahrelang in Stadtteilinitiativen, Verwaltungen und Parteien um eine Verbesserung der Lebensqualität mühte. Gleichzeitig haben diese Kreise das Thema über weite Strecken für sich instrumentalisiert: Mit diesem Thema konnte man sein Unbehagen an der deutschen Nation wunderbar ausleben. Diese Generation im Alter zwischen 40 und 60 ist inzwischen in die Jahre gekommen. Auch bei ihr wächst die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit. Gleichzeitig bemerken viele, daß sie nach dem Zusammenbruch des eigenen alternativen und linken Milieus nicht nur die kulturelle und politische Hegemonie im Kiez verlieren, sondern sich in all den Jahren auch selber keinen Ort der Heimat geschaffen haben. Sie machen die schmerzhafte Erfahrung, daß Urbanität nicht statisch, sondern Veränderungen unterworfen ist. Auch von Grün-Alternativen und Linken erstrittene Werte und Umgangsformen haben ein Verfallsdatum. Ebenso ihre kulturelle Dominanz.

[Seite der Druckausgabe: 99]

Mit der einst so euphorisch begrüßten Zuwanderung verändert sich der Stadtteil. Und dies um so mehr, als die Zuwanderer just das tun, was die Linksliberalen stets gefordert haben. Sie haben sich emanzipiert, ihre subalterne Rolle hinter sich gelassen, zeigen Präsenz und werden zu neuen Trägern des sozialen, kulturellen und politischen Lebens. Ein komplexes Geflecht von Milieus durchzieht den Stadtteil. Und häufig sind deren Umgangs- und Verhaltensformen schwer mit grün-alternativen Dogmen zu vereinbaren. Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel die viel beschriebenen lauten türkischen Jugendlichen, treten auf, die den Schrebergarten der Links-Alternativen in Frage stellen. Und die verhalten sich nicht viel anders als die Bürger in den fünfziger und sechziger Jahren, als es zwischen Bürgertum und proletarischen Jugendlichen Konflikte gab.

Viele Alternative verzweifeln an diesen Herausforderungen. Ihre Klagen unterscheiden sich nicht allzusehr von der Erregung deutscher Arbeiter vor 30 Jahren, als sich deren Wohnviertel von einem auf die Mitte Europas hin zentrierten Proletarierviertel in rasantem Tempo zu einem Einwandererviertel wandelte. Viele dieser Arbeiter flohen vor der Fremdheit in die neu entstandenen Trabantenviertel wie das Märkische Viertel in Berlin. Nicht wenige Grün-Alternative verhalten sich Ende der neunziger Jahre ganz ähnlich. Sie ziehen in die alternativen, aber deutschen Bezirke Ostberlins, ins deutsch-homogene Umland oder kehren der Region den Rücken, um zurück in die westdeutschen Kleinstädte zu gehen, aus denen sie einst aufgebrochen sind, um, wenn nicht die Welt, so doch Kreuzberg zu verändern.

Bei den Zurückgebliebenen schleichen sich zunehmend Gefühle der Fremdheit und der Heimatlosigkeit ein, die häufig in Kulturpessimismus münden. Den Wandel ihrer inneren Einstellung zur Einwanderungsgesellschaft wollen sie sich ebensowenig eingestehen wie die Tatsache, daß sie zu Interessenvertretern und kulturellen Besitzstandswahrern in eigener Sache geworden sind. Folglich wird das Ressentiment intellektuell überhöht und mutiert zum Kampf der Kreuzberger (Kiez-)Kulturen.

Ghettos oder ethnische Kolonien? Warum bricht die Diskussion Ende der neunziger Jahre mit dieser Wucht aus? Liegt es an dem Rückzug der Minderheiten in die eigenethnische Gruppe, am wachsenden religiösen Fundamentalismus, dem Zugriff der in Ankara produzierten türkischsprachigen Medienangebote? Ich möchte für eine Annäherung an diese Fragen auf die

[Seite der Druckausgabe: 100]

vergleichende Untersuchung Emmanuel Todds „Das Schicksal der Immigranten. Deutschland, Frankreich, USA und Großbritannien" zurückgreifen.

Nach Todd gibt es nur zwei mögliche Schicksale für Einwanderer: Assimilation oder Segregation. Welches Prinzip nun wirkt, hängt für ihn von der anthropologischen Grundstruktur der Aufnahmegesellschaften ab. In Deutschland, Großbritannien und den USA findet eine starke Segregation statt, da in diesen Gesellschaften eine apriorische Überzeugung von der Verschiedenheit des Menschen im Unterbewußtsein festgeschrieben ist. Dieses Unterbewußtsein wird bei allen Modifikationen auch heute noch von den einst vorherrschenden, vorindustriellen bäuerlichen Familienstrukturen bestimmt. Ob die Brüder damals in der Erbfolge als gleich oder ungleich galten, hat bis heute weitreichende Folgen. Die Stellung der Brüder zueinander ist ursächlich für ein Menschenbild verantwortlich, das von der Gleichheit oder Ungleichheit aller Menschen ausgeht. Todds Entdeckung: Allein in Frankreich findet aufgrund der tief im kollektiven Unterbewußtsein verankerten Gewißheit von der Gleichheit aller Menschen ein Assimilationsprozeß der Zuwanderer statt, der erwarten läßt, daß die Zuwanderergruppen binnen zweier Generationen in der französischen Bevölkerung aufgehen. Den USA dagegen ist es trotz aller Anstrengungen des liberalen, demokratischen Gewissens nicht gelungen, das Land von der Segregation zu befreien. Neben dem bewußten Postulat der Gleichheit aller Bürger wirkt im Unterbewußtsein das „Wissen" von der Ungleichheit der Menschen, was in den USA die Schwarzen betrifft. Dieser Widerspruch bringt die Schwarzen in eine ausweglose Situation. Todd: „Die Abweisung durch eine Gesellschaft, die dich zu einem Untermenschen erklärt, ist sicher nicht angenehm; die Abweisung durch eine Gesellschaft, die dich unaufhörlich zu einem Menschen wie die anderen erklärt, muß logischerweise verrückt machen." Regressive ideologische Entwicklungen innerhalb der schwarzen Community sind die Folge, die sich mit Rückgriff auf den Antisemitismus Luft verschafft.

Anders als in den USA und Großbritannien, wo sich Differenz entlang rassischer Merkmale festmacht, richtet Deutschland seinen Blick auf die religiöse Überzeugung. „Der deutsche Differentialismus macht mit seinen Klassifikationsversuchen nicht bei den sichtbaren Unterschieden, nicht bei der äußeren Hülle der Lebewesen halt. Er rekurriert auch auf unsichtbare Unterschiede; so gilt beispielsweise das jüdische Wesen als besonders boshaft." In Deutschland verhindert der anthropologisch begründete Differentialismus,

[Seite der Druckausgabe: 101]

daß sich religiöse Minderheiten tatsächlich in die Gesellschaft assimilieren können. Weder gelang dies den deutschen Juden trotz größter Anstrengungen im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart scheinen Todds These zu bestätigen, daß der Differentialismus der Deutschen um so aggressiver wird, je fortgeschrittener die Assimilation religiöser Minderheiten ist.

So bescheinigt der Autor den Türken in Deutschland zwischen 1960 und 1985 eine hohe Anpassungsleistung. Dessen ungeachtet verfestigt sich seit 1985 allerdings die Segregation. Mit Wesenseigenschaften der türkischen Zuwanderer hat dies ebensowenig zu tun wie mit einer Islamisierung der Einwanderer oder gar einem Rückzug auf die eigenethnische Gruppe. Verantwortlich ist allein das anthropologische System Deutschlands. Der von Todd geführte Nachweis ist so niederschmetternd wie beunruhigend für die nahe Zukunft.

Um 1985 erreicht die erste Generation von Türken, die in Deutschland aufgewachsen ist, das Erwachsenenalter. Sie spricht Deutsch, unterscheidet sich von der Aufnahmegesellschaft weniger als noch ihre Eltern. Eine Verminderung der objektiven Andersartigkeit führt in einer differentialistischen Gesellschaft allerdings nicht zu einer Abnahme der Angst, sondern zu einer Zunahme. Vor allem als mit Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes im Jahr 1991 die Möglichkeiten der Annäherung zwischen Einwanderern und Aufnahmegesellschaft besser werden, setzt eine Welle ethnisch begründeter Gewalt ein. Und der Prozentsatz der Gewalttaten ist vor allem in protestantischen Gebieten besonders hoch, weil dort, so Todd, das Verlangen nach sozialer Homogenität traditionell stärker ist als in katholischen Gebieten, die dem Ideal der deutschen Homogenität weit weniger anhängen und stärker dem katholischen Universalismus verpflichtet sind.

Während dem Prozeß der Wiedervereinigung hat die Aktivierung antitürkischer Ressentiments viel zur Homogenisierung der neudeutschen Nation beigetragen. Der Gegensatz zwischen ehemaligen DDR-Bürgern und Westdeutschen wurde auf diese Weise symbolisch verringert. „Man kann sich sogar fragen, ob nicht die Intensivierung antitürkischer Emotionen während der Phase der Wiedervereinigung ihren funktionalen Sinn gehabt hat."

„Das Schicksal der Emigranten" ist ein fulminantes Plädoyer gegen die angelsächsische Ideologie des Multikulturalismus. Sie ist für Todd nichts ande

[Seite der Druckausgabe: 102]

res als „gut gemeintes Gerede vom Recht auf Differenz", das einen konkreten Unterschied voraussetzt. Dieser Unterschied löst aber immer Verunsicherung aus. Todd setzt dem Multikulturalismus den Universalismus der Französischen Revolution entgegen, die die ganze Menschheit zu gleichberechtigten „Franzosen" machen wollte. Im Klartext bedeutet dies nichts anderes als die vollständige Integration von Einwanderern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

Previous Page TOC Next Page