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Bärbel Zieling: Duisburg: Stadt der Zuwanderungen

Das Thema dieser Fachkonferenz „Entwicklungschancen von Stadtteilen mit hohem Zuwandereranteil" hat hier in Duisburg eine besondere Bedeutung und Relevanz. Unsere Stadt – übrigens eine Stadt mit mehr als elfhundertjähriger Geschichte! – blickt auf eine lange Geschichte von Zuwanderung zurück. Bereits in der Reformationszeit kamen Flüchtlinge aus den Niederlanden und Flandern in das liberale Duisburg – übrigens auch Gerhard Mercator, der große Bürger unserer Stadt. Später dann kamen im Zuge der industriellen Revolution im späten 19. Jahrhundert Menschen aus dem Osten Europas, nach dem Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren schließlich zahlreiche Arbeitsmigranten aus dem Mittelmeerraum, bis dann Ende 1973 ein Anwerbestopp ausgesprochen wurde.

Zur Zeit leben in Duisburg ca. 88.000 Nichtdeutsche, der überwiegende Teil davon, ca. 53.000 Menschen, mit türkischem Paß. Allerdings darf man beim Thema Zuwanderung die Eingebürgerten nicht unterschlagen, die in Duisburg allein in den letzten fünf Jahren fast 10.000 Personen ausmachten. Sie haben hier ihre Heimat gefunden und dies auch durch den Wechsel in die deutsche Staatsangehörigkeit zum Ausdruck gebracht. Aber natürlich sind auch die meisten derer, die ihre ursprüngliche Nationalität behalten haben, in unserer Stadt zu Hause. Immerhin lebt nach einer Untersuchung der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung ca. die Hälfte aller Nichtdeutschen schon länger als zehn Jahre in Deutschland. Sie haben ihre Familien hier, oft schon ihre Enkel. Und sie leben, dies wird immer wieder durch die regelmäßige Duisburger Bürgerumfrage unseres Statistischen Amtes bestätigt, zum weit überwiegenden Teil gerne in dieser Stadt – trotz aller Probleme, die es natürlich gibt.

Es soll und kann natürlich nicht geleugnet werden, daß das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen nicht immer einfach ist. Unterschiedliche kulturelle Hintergründe, religiöse Überzeugungen und ethische Grundhaltungen sind oft nicht leicht miteinander zu vereinbaren. Dies zeigte etwa die teilweise überaus emotional geführte Debatte um den Muezzinruf, die unsere

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Stadt auch überregional in die Schlagzeilen brachte. „Bürger lieferten ein Lehrstück von Intoleranz" war vor einem guten Jahr in den Zeitungen zu lesen, oder sogar „Der Ruf des Muezzin spaltet eine Stadt". „Die Leute haben Angst" oder gar „Der Rechtsstaat läßt sich erpressen" – so waren Leserbriefe überschrieben. Es gilt nach wie vor, dies hat die Diskussion um den Gebetsruf gezeigt, eine gemeinsame Basis für das Zusammenleben zu finden. Hier in Duisburg ist bereits heute fast jedes dritte Kind unter drei Jahren nichtdeutscher Herkunft – Tendenz steigend. In 15 Jahren wird fast jeder dritte Duisburger nichtdeutscher Herkunft sein. Die Zahl derer, die durch eine andere Kultur und Religion geprägt sind, steigt und wird in vielfacher Hinsicht das Gesicht auch unserer Stadt verändern.

Besonders offensichtlich wird dies in den Quartieren, die schon heute einen überdurchschnittlich hohen Anteil nichtdeutscher Bevölkerung haben, Duisburg-Marxloh beispielsweise werden Sie ja während der Konferenz kennenlernen. Historisch bedingt wohnt die überwiegende Zahl der Zugewanderten noch heute in industrienahen Ortsteilen, in denen besondere Strukturdefizite und Problemlagen vorliegen, wie beispielsweise hohe Arbeitslosigkeit, ein hoher Anteil von Sozialhilfeempfängern und Alleinerziehenden, überalterte Bausubstanz und so weiter. Mit der Gründung der Stadtteilprojekte Bruckhausen und Marxloh hat die Stadt mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Europäischen Gemeinschaft bereits vielfältige Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur und zur Stadterneuerung eingeleitet. Trotz der allenthalben sichtbaren Erfolge dieser Arbeit bleibt jedoch die eigentliche Aufgabe noch zu lösen: Es gilt, das Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen auf eine nachhaltig tragfähige und konsensuale Basis zu stellen.

Akzeptanz muß auf beiden Seiten geschaffen werden. Hierzu unternimmt die Kommune in Zusammenarbeit mit den Kirchen, den Moscheevereinen und anderen gesellschaftlichen Kräften große Anstrengungen. Im Rahmen des Kooperationsmodells „Verstehen lernen", das mit der Arbeiterwohlfahrt und dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen durchgeführt wird, wird genau diese Zielrichtung verfolgt. Durch gegenseitige Information und gemeinsame Aktion versuchen hier Deutsche und Nichtdeutsche, Christen und Muslime, Wege zum Verstehen zu finden. Auch die diesjährigen „Duisburger Akzente", unser größtes Kulturfestival mit über 20jähriger Tradition, widmeten sich diesem Pro

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blemfeld. Unter dem Titel „Kultur der Toleranz – Toleranz der Kulturen" wurden in über 200 Veranstaltungen unterschiedliche Facetten des Themas in allen nur erdenklichen Formen beleuchtet und die Begegnung der Kulturen gesucht. Ziel all dieser Bemühungen ist es, den hier lebenden Zugewanderten ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln und das Entstehen von Parallelgesellschaften zu verhindern. Dies verlangt von der Mehrheitsgesellschaft, daß sie eine Teilhabe am politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben allen zugesteht, gleichzeitig aber auch Freiräume für kulturelle und religiöse Bedürfnisse einräumt. Schließlich müssen beide Seiten dabei manche Schwelle überschreiten, um das Zusammenkommen zu ermöglichen.

Die Entwicklungschancen von Stadtteilen mit hohem Zuwandereranteil hängen maßgeblich davon ab, daß es gelingt, in den Köpfen und Herzen der Menschen etwas zu bewegen und das Bewußtsein und das Gefühl der Zusammengehörigkeit auf beiden Seiten zu schaffen. Schließlich geht es auch darum, Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl zu vermitteln. Ein Schulleiter aus unserer Stadt – Direktor einer Gesamtschule in Duisburg-Marxloh – hat dies vor einigen Tagen wie folgt auf den Punkt gebracht: Es gehe darum, bereits den Schülern in den strukturschwachen Stadtteilen zu vermitteln, daß sie und ihr Stadtteil keineswegs die „Schmuddelkinder" unserer Stadt sind. Es gelte zu vermitteln, daß es nicht nur auf das Geschehen auf Straßen und Hinterhöfen, sondern vor allem auf das Geschehen in den Köpfen ankommt. Hier entscheide sich, ob jemand zu den Benachteiligten, den „Schmuddelkindern" gehöre oder nicht. Man möchte ergänzen: Nur wer sich mit dem Stadtteil und dessen kulturellen und städtebaulichen Besonderheiten identifiziert, wird eigene und womöglich sogar fremde Kräfte mobilisieren.

Diese Feststellung ist ein Zitat aus dem Leitbild für den Stadtteil Marxloh, das der Rat unserer Stadt im März 1997 verabschiedet hat. Die Entwicklung Marxlohs wird vom Land Nordrhein-Westfalen und von der Europäischen Union über das Programm URBAN als „Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf" mit erheblichen Mitteln gefördert. Ein wichtiges Spezifikum unseres Entwicklungsansatzes für Duisburg-Marxloh – vielleicht auch im Unterschied zu anderen vergleichbaren Problemstadtteilen – ist der Gedanke, im Rahmen eines integrativen Ansatzes vor allem die wirtschaftlichen Potentiale des Stadtteils zu reaktivieren. Marxloh prosperierte in der ersten

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Hälfte dieses Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre, als die den Stadtteil prägenden Großunternehmen noch für Arbeit und Wohlstand sorgten.

Mit dem zunehmenden Abbau von Arbeitsplätzen und der Veränderung der Bevölkerungsstruktur verlor Marxloh seine ökonomische Kraft und entwickelte eine erhebliche städtebauliche und soziale Problemlage. Vor allem bei den ausländischen Bewohnern aber ist investitionsfähiges und investitionsbereites Kapital vorhanden, was vielfältige Aktivitäten vor allem türkischer Investoren in Marxloh belegen. Auf dieser Grundlage und auf der Basis eines positiven Bekenntnisses zur Internationalität des Stadtteils wollen wir die Chance nutzen, Marxloh zu einem regional bedeutenden Handels- und Gewerbezentrum zu entwickeln. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang übrigens die ausgesprochen gute Zusammenarbeit zwischen den türkischen und den deutschen Geschäftsleuten, die unter dem Dach ihrer Verbände „Tiad e.V." und „Werbering Marxloh" im Sinne ihrer gemeinsamen Interessen an einem Strang ziehen. Um abschließend den provokativen Obertitel dieser Veranstaltung aufzunehmen: Arbeiten wir daran, sowohl „Ghettos" als auch „ethnische Kolonien" zu verhindern, um gerade die in der Verschiedenheit steckenden Potentiale nutzen zu können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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