FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Regina Schmidt-Zadel:
Einleitung


Unser aller Bestreben ist es, bis ins hohe Alter hinein gesund und aktiv zu bleiben. Hierzu hat der Auf- und Ausbau unseres Gesundheitswesens in den vergangenen Jahrzehnten ganz entscheidend beigetragen. Es ist dennoch nicht zu übersehen, daß trotz aller gesundheitspolitischen Anstrengungen ein Teil unserer Bevölkerung in zunehmendem Maße an körperlichen und geistigen Erkrankungen leidet, die nur in seltenen Fällen heilbar sind. Die Aufgabe der Politik besteht also nicht nur darin, gesunde Menschen vor Krankheitsrisiken zu schützen. Sie hat auch die Aufgabe, Erkrankte mit gesundheitsfördernden oder -stabilisierenden Maßnahmen zu helfen. Hierzu gehören nicht nur medizinische, sondern auch soziale Hilfeleistungen. Beide Aspekte sind zentraler Bestandteil der heutigen Veranstaltung.

Wenn wir uns diese Aufgabe vor Augen führen, müssen wir uns bewußt machen, in welcher spezifischen Situation wir uns heute befinden: Um die Jahrhundertwende war die Bevölkerung in erster Linie von Infektionskrankheiten bedroht. Durch den medizinischen und sozialen Fortschritt konnten sie erfolgreich bekämpft werden. Dies hatte in einem bis dahin nicht bekannten Ausmaß lebenserhaltende und -verlängernde Effekte. Dieser Erfolg hat aber nicht dazu geführt, daß Menschen frei von Krankheiten leben können. Sie gibt es nach wie vor. Entscheidend ist im Vergleich zur Vergangenheit, daß sich das Krankheitspanorama verändert hat: Heute treten eher chronische Krankheiten wie Herzinfarkt, bösartige Tumore und Demenzen auf.

Ein weiterer Unterschied kommt hinzu: Der Rückgang der Geburten und die gestiegene Lebenserwartung in unserer Gesellschaft führt zu einer veränderten Zusammensetzung unserer Bevölkerung. Der Anteil älterer Menschen wird in den kommenden Jahrzehnten erheblich zunehmen. Es ist bisher nicht eindeutig geklärt, ob die zukünftige Bevölkerung im höheren Alter insgesamt gesünder oder kränker sein wird als die heutige. Die Meinungen der Experten gehen auseinander: Einerseits wird vermutet, daß die Anzahl der Krankheitsjahre aufgrund des medizinischen Fortschritts im Alter zurückginge. Andererseits besteht die widersprechende Einschätzung, wonach Alter mit erhöhter Morbilität und fehlender Flexibilität verbunden sei.

Selbst dann, wenn die Anzahl der Krankheitsjahre im Alter geringer werden sollte, gilt als sicher, daß ein Teil unserer älteren Mitmenschen von schwerwiegenden chronischen Krankheiten betroffen sein wird. Zu diesen chronischen Erkrankungen gehört die Demenz. Sie und die damit verbundenen Aufgaben der Politik stehen im Mittelpunkt der heutigen Veranstaltung. Selbstverständlich ist dies nicht nur ein Thema für Politiker. Die Herausforderung Demenz kann nur gemeinsam mit Biologen, Medizinern, Therapeuten, Selbsthilfeeinrichtungen, Familien und vielen anderen engagierten Personen und Institutionen gemeistert werden.

Demenzerkrankungen sind altersbedingt und treten verstärkt bei 65-bis 70jährigen und noch häufiger bei Hochbetagten auf. Da ihre Anteile an der Gesamtbevölkerung steigen, wird die Wahrscheinlichkeit größer, daß die Anzahl der demenziell Erkrankten zunimmt. Gegenwärtig gibt es in Deutschland rund 800.000 Erkrankte. Wir müssen damit rechnen, daß in den kommenden Jahrzehnten die Anzahl auf 1.8 Millionen steigen wird.

Die Beiträge in dieser Broschüre zeigen, daß Demenzerkrankungen gegenwärtig nicht heilbar sind. Sie zeigen auch, daß die Betroffenen bei einem fortschreitenden Erkrankungsprozeß immer weniger in der Lage sind, eine eigenständige Lebensführung zu realisieren. Im Kern sind mit dieser Beschreibung zwei Handlungsbereiche angesprochen: Der biologisch-medizinische und der pflegerische. Dies sind zwei Ansatzpunkte, die meine weiteren Ausführungen leiten.

Wie bereits betont, gibt es zur Zeit keine Möglichkeit, die Krankheit durch Eingriffe in die genetischen Anlagen oder pharmazeutische Produkte bereits an ihrer Entstehung zu hindern oder nachträglich zu beseitigen. Ein Stillstand des Erkrankungsprozesses wäre bereits ein außerordentlich großer Erfolg.

Wenn wir wenigstens diesen Erfolg erzielen wollen, dann müssen wir die Grundlagenforschung im biologischen und medizinischen Bereich vorantreiben. Universitäten, Kliniken und industrielle Forschungseinrichtungen müssen aufgefordert werden, sich hieran intensiv zu beteiligen. Welche Wege in dieser Hinsicht in den USA gegangen werden, hat uns auf dieser Tagung Dr. Khachaturian in seinem Vortrag gezeigt. Wir müssen prüfen, welche Anregungen wir daraus für die deutsche Situation gewinnen und umsetzen könnten.

Wir müssen uns auch darum kümmern, daß pharmazeutische Produkte weiterentwickelt werden. Viel wurde in dieser Hinsicht für die Behandlung von Demenzerkrankungen noch nicht erreicht. Psychopharmaka, die bei Demenzen eine vorübergehende Linderung verschaffen sollen, sind in ihrer Wirkung umstritten. Es wird deshalb beabsichtigt, sie (Nootropika) von der Positivliste der kassenfinanzierten Medikamente zu streichen. Als Gesundheitspolitikerin befürworte ich die generelle Absicht, Medikamente mit zweifelhafter Wirkung nicht mehr über die Krankenkassen zu finanzieren. Da es aber bei der Behandlung von Demenzen zur Zeit keine Alternativen zu den vorhandenen pharmazeutischen Produkten gibt, meine ich, daß wir diesen Schritt in diesem Fall noch einmal gründlich überdenken müssen, damit dies nicht zu Lasten chronisch Kranker geht.

Selbstverständlich dürfen wir nicht dabei stehenbleiben, pharmazeutische Produkte mit zweifelhafter Wirkung zu fördern. Es reicht aber andererseits auch nicht aus, die Entwicklung neuer Psychopharmaka zu unterstützen, wenn deren Wirkung nicht bereits vorab ausreichend einschätzbar ist. Die Lücke zwischen Herstellung und Anwendung muß geschlossen werden, d.h. die an den Entwicklungs- und Anwendungsstrategien Beteiligten müssen in einen kooperativen Arbeitszusammenhang treten.

Ich möchte mit diesen kurzen Bemerkungen meine Ausführungen zu diesem Komplex abschließen und mich einer anderen Fragestellung widmen. Sie betrifft in erster Linie die Betreuung und Pflege.

Von demenziellen Erkrankungen sind Menschen in einer Lebensphase betroffen, in der sie bereits eine feste Persönlichkeitsstruktur ausgebildet haben. Diese Persönlichkeit wird in einem mehrjährigen Krankheitsprozeß mehr und mehr zerstört. Eine eigenständige Lebensführung wird immer unwahrscheinlicher: Unsicherheiten und Orientierungsschwierigkeiten in Folge von Gedächtnisstörungen verbunden mit Angst, Depression und auch Aggression gewinnen an Bedeutung. Da der Erkrankungsprozeß medizinisch kaum entscheidend beeinflußbar ist, kommt den betreuerischen und pflegerischen Aktivitäten eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen das kompensieren, was der Erkrankte selbst nicht mehr in der Lage zu leisten ist.

Es ist für mich nicht nachzuvollziehen, warum die Bundesregierung nach ihren ursprünglichen Plänen demenzielle Erkrankungen im Rahmen der Pflegeversicherung nicht abdecken wollte. Dabei lag es doch auf der Hand, daß die Erkrankten bei der Verrichtung des täglichen Lebens einer Anleitung und Beaufsichtigung bedürfen. Durch diese Hilfen wird der Erkrankte nicht nur vor Selbstgefährdungen geschützt, sondern auch zur Selbsthilfe angehalten. Wir waren es, die sich dieser Ausgrenzungspolitik erfolgreich widersetzt haben.

Dieser Erfolg betrifft nicht nur die Erweiterung des Kreises der Pflegebedürftigen. Er beinhaltet auch eine Verbesserung der Pflegeleistungen in finanzieller Hinsicht. Hinzu kommt, daß die Errichtung von Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern nicht von den Beitragszahlern aufgebracht werden muß. Wir konnten auch verhindern, daß die verlangte Umverteilung allein zu Lasten der Arbeiter und Angestellten nicht stattfand. Wer die Notwendigkeit pflegerischer Maßnahmen für demenziell Erkrankte und andere Pflegebedürftige kennt, weiß diesen Erfolg zu schätzen.

Wir können uns auf diesem Erfolg aber nicht ausruhen. Wir sollten uns vor Augen führen, daß zur Zeit rund 70% der Pflegeleistungen von den Familienangehörigen erbracht wird. Selbstverständlich ist es auch unser Ziel, daß die Erkrankten so lange wie möglich in ihrer familiaren Umgebung leben. Die häusliche Versorgung wird aber mehr und mehr an Grenzen stoßen: Der Anteil erwerbstätiger Frauen wird in den kommenden Jahren steigen. Dadurch reduzieren sich deren Möglichkeiten, pflegerische Aufgaben zu übernehmen. Des weiteren wird der Anteil alleinlebender Hilfe- und Pflegebedürftiger in den nächsten Jahren erheblich zunehmen. Selbst bei denjenigen, die noch in einem Zwei-Personen-Haushalt leben, werden die Pflegemöglichkeiten abnehmen, denn die Pflegepersonen selbst werden in den nächsten Jahrzehnten wesentlich älter sein als heute. In einem Alter von beispielsweise 70 Jahren sind diese Pflegepersonen selbst sehr nahe an der Grenze zur Pflegebedürftigkeit, so daß sich ihr Hilfepotential reduziert.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß auch die Mißhandlungen von pflegebedürftigen Menschen in Familien keine Einzelfälle mehr sind. Nach Meinung von Experten liegt die Dunkelziffer höher als bei Kindesmißhandlungen. Dieses Problem darf nicht tabuisiert werden. Den betroffenen Familien muß vielmehr dringend Beratung und Hilfe zuteil werden. Diese Mißhandlungen geschehen überwiegend nicht aus Bosheit, sondern aus Überforderung der Pflegepersonen und Familienangehörigen.

Welche Schlußfolgerungen sind daraus zu ziehen? Was wir brauchen, sind neue Versorgungsstrukturen, die den familiären und demographischen Veränderungen gerecht werden. Hierzu möchte ich einige Vorstellungen entwickeln:

Beim Auf- und Ausbau neuer Versorgungsstrukturen sollten geriatrische Zentren geschaffen werden, die an Kliniken angegliedert werden könnten. Derartige Einrichtungen sind in Deutschland noch die Ausnahme. In diesen Zentren müssen Leistungsbereiche geschaffen werden, die

• eine Einschätzung der vorliegenden Defizite und noch erhaltenen Potentiale vornehmen;

• aus einem interdisziplinären fachärztlichen Team bestehen und

• adäquate Altenberatung und Hilfestellungen leisten.

Diese Zentren könnten selbst sowohl einen Teil ambulanter als auch Teil stationärer Versorgung abdecken.

Auszubauen oder umzustrukturieren wären auch alle bestehenden Einrichtungen ohne ausreichendes oder mit nicht ausreichendem Diagnose- und Behandlungspotential, wie z.B. Tageskliniken, Heime, Krankenhäuser, Sozialstationen und Beratungsstellen für ältere Menschen und deren Angehörige. Geriatrische Zentren würden bestehende Einrichtungen keineswegs überflüssig machen, sondern müßten diesen mit ihrem Diagnose- und Behandlungspotential zur Verfügung stehen. Denn keine dieser Infrastruktureinrichtungen kann erfahrungsgemäß für sich genommen die notwendige Hilfe erbringen. Deshalb muß es ein Hauptziel sein, die verschiedenen, nebeneinander agierenden Institutionen in einer Kommune zu vernetzen. Soweit wie möglich muß dieses Infrastrukturpotential helfen, Kosten zu vermeiden, indem z.B. frei werdende Bettenkapazitäten abgebaut werden.

Die Vernetzung wird aber außerordentlich schwierig sein, wenn die gerontopsychiatrischen und -therapeutischen Qualifikationen von Ärzten, und anderen Sozialberufen nicht verbessert werden. Eine Qualifizierungsoffensive für diese Berufsgruppen ist deshalb unumgänglich.

Der Aufbau neuer Versorgungsstrukturen zuvor skizzierter Art käme nicht nur Demenzerkrankten zugute, sondern allen Menschen, die im zunehmenden Alter an Psychosen, Neurosen, Suchterkrankungen oder anderen Verhaltensauffälligkeiten leiden.

Wir werden noch ein Stück harte Arbeit leisten müssen, um diese Vorstellungen zugunsten der Demenzerkrankten und anderen Pflegebedürftigen durchzusetzen. Dies betrifft in erster Linie die Bereitstellung von Investitionsmitteln für den Aufbau von Infrastruktureinrichtungen. Wir werden uns darüber hinaus allen Bestrebungen widersetzen, die die Anspruchsvoraussetzungen beim Zugang zu den Pflegeleistungen zuungunsten der Betroffenen verändern wollen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

Previous Page TOC Next Page