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TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Monika Koppe-Schmidt:
Sterbebegleitung alter Menschen




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1. Einführung in das Thema



1.1. Eingrenzung des Themas – Schwerpunkt stationäre Altenarbeit

1990-92 starben in NRW im ländlichen Bereich 60%, im städtischen Bereich 90% der Menschen in klinisch-pflegerischen Einrichtungen. Zählt man plötzliche Todesfälle (Unfälle und ähnliches) dazu, verstarben nur 5% bis 20% der Menschen in der eigenen Wohnung bzw. der von Freunden. Es ist jedoch davon auszugehen, das nahezu 90% aller Menschen lieber „Zuhause" sterben würden (siehe Studie zur Sterbebegleitung und Hospizbewegung NRW).

Das Sterben geschieht z.Zt. hauptsächlich in stationären Einrichtungen; um den Ist-Zustand zu erkennen bedarf es einer Beleuchtung stationärer Altenarbeit.

Ergänzend zum „Zuhause": Auch das Altenheim kann und wird für einige Bewohner ein „Zuhause".

1.2.Was verstehe ich unter Sterbebegleitung

  • umfaßt ein breites Spektrum; eigentlich vom Einzug bis Auszug,
  • Beschäftigung mit dem bisher gelebten Leben (Biographie),
  • Herausfinden von Wünschen und Vorstellungen für: die letzte Zeit der Lebensspanne,
    die Gestaltung des Sterbens (Patiententestament/alleine oder Sitzwache),
    die Beerdigung,
  • Besuche in der Sterbephase, z.T. Klärungsversuche von Unerledigtem,
  • ggf. Kontakte zu und Begleitung der Angehörigen,
  • meist Einbeziehung, Absprache mit Hausärzten,
  • ggf. Sitzwache,
  • Versorgung der Verstorbenen,
  • Beerdigungsbesuch.

Die Qualität der Sterbebegleitung ist weniger abhängig von der Menge der geleisteten Dienste, sondern mehr von der inneren Haltung der Begleitenden, von deren Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod.

Ziel der Sterbebegleitung ist:

  • Das Sterben und den Tod wieder mehr zu einem Teil des natürlichen Lebens zu machen, ihn weder als Akt der Grausamkeit zu erleben, noch zu glorifizieren.
  • Dem Sterbenden soweit wie möglich dazu zu verhelfen, zufrieden mit seinem Leben abschließen und ohne unnötige Schmerzen sterben zu können.


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2. Statistik am Beispiel des Altenzentrums Dieringhausen1

Jahr

Verstorbenen

gesamt

mit Sterbebegleitung



im Heim

im Khs

im Heim

im Khs

gesamt

1990

41

31

10

15

4

19

1991

15

10

5

6

6

1992

18

13

5

7

4

11

1993

23

18

5

10

1

11

1994

35

26

9

20

2

22

1) Im Altenheim des Altenzentrums Dieringhausen leben 126 Menschen.

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3. Fallbeispiele



3.1. Frau M.

Frau M., gebürtige Pommeranerin, kam 1989 im Alter von 62 Jahren notfallmäßig ins Heim. Ihr Lebensgefährte war im Krankenhaus und sie konnte auf Grund verschiedener Erkrankungen und körperlicher Behinderungen nicht ohne ständige Hilfe zurechtkommen, war aber voll orientiert.

Das Altenheim hat sie in den folgenden Jahren zwar als Zuhause akzeptiert, es aber nicht wirklich als solches empfunden. (Auch wenn sich einige gute Beziehungen entwickelt haben und sie ihr Einzelzimmer, das sie im letzten Lebensjahr bewohnte, gezielt eingerichtet hat.)

Ihr Lebensgefährte starb, als Angehörigenkontakt hatte sie nur ihre Schwester.

Im März 1994 kam sie aufgrund ständigen Erbrechens und Durchfalls unklarer Genese ins Krankenhaus. Sie war herzkrank, Diabetikerin und im Steißbereich entwickelte sich eine offene Stelle.

Die Untersuchungen ergaben keinen Befund, Erbrechen und Durchfall besserten sich, der Dekubitus verschlechterte sich, der Allgemeinzustand auch. Frau M. litt immer mehr unter Verwirrtheit und Halluzinationen. In klaren Momenten verweigerte sie medizinische Maßnahmen wie Dauerkatheter und Medikamente.

Während des Krankenhausaufenthaltes wurde Frau M. mehrfach von Mitarbeitern des Heimes und ihrer Schwester besucht. Diese hatten mit dem Krankenhauspersonal abgesprochen, bei einer weiteren Verschlechterung des Zustandes gerufen zu werden, um Sitzwache leisten zu können.

Nach ca. drei Wochen Krankenhausaufenthalt sollte Frau M. entlassen werden, da am Allgemeinzustand und dem Dekubitus aus medizinischer Sicht keine positive Veränderung zu erzielen war.

Am Morgen des 30.3.1994 bekamen wir einen Anruf der Schwester; Frau M. war in der Nacht zuvor verstorben und sie selbst sei erst jetzt benachrichtigt worden.

Aus nicht klärbaren Gründen hatten sich die Ärzte kurzfristig entschlossen, einen chirurgischen Eingriff unter Vollnarkose am Dekubitus von Frau M. vorzunehmen. Dies geschah ohne Information der Schwester oder der Mitarbeiter des Heimes. So verstarb Frau M. ohne Begleitung einer ihr nahestehenden Person.

3.2. Frau K.

Frau K. kam 1985 im Alter von 70 Jahren ins Altenheim, nachdem ihr Ehemann verstorben war und sie zunehmend erblindete. Sie war im Nachbarort geboren, hat die letzten Jahre in unmittelbarer Nachbarschaft gewohnt und sich bewußt entschlossen, den letzten Teil ihres Lebens im Altenheim zu gestalten. Sie nahm rege Anteil am gesellschaftlichen und politischen Leben und konnte das Altenheim bald als ihr Zuhause empfinden.

Im Februar 1994 litt sie unter zunehmender Übelkeit, bei einer Operation im Krankenhaus wurde im Bauchraum ein Karzinom in inoperablem Zustand festgestellt. Frau K. hat sich sehr bewußt mit der Diagnose auseinandergesetzt. Es gab eine enge Vernetzung durch Besuche und Gespräche von Angehörigen und Mitarbeitern des Heimes, mit dem Krankenhauspersonal sowie dem Hausarzt. So konnte bald ihrem Wunsch entsprochen werden, zurück nach Hause ins Altenheim zu kommen. Von dort aus erhielt sie Bestrahlungen im Krankenhaus und bei Bedarf Schmerzmittel durch den Hausarzt.

Frau K. ließ in Gesprächen mit Angehörigen und Mitarbeitern des Heimes ihr Leben Revue passieren; sie nahm nacheinander Abschied von den ihr vertrauten Menschen, welche sie danach nicht mehr sehen wollte. Sie besprach, von wem sie nach dem Versterben versorgt werden wollte und wer sie beerdigen sollte.

Am Morgen des 23.6.1994 verstarb Frau K., als ihr Bruder sie ein letztes Mal besuchte. Sie wurde versorgt und beerdigt, wie sie es gewünscht hatte.

Aus den genannten Beispielen wird deutlich, welche Faktoren bei der Sterbebegleitung eine Rolle spielen.

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4. Das Umfeld der Sterbebegleitung



4.1. Der Sterbende

  • Es ist kein Geheimnis, daß das „wie" der Lebensgestaltung direkte Auswirkungen auf das „wie" des Sterbens haben kann.
  • Der Sterbende braucht den Beistand und die Hilfe ihm vertrauter Menschen, um eigene Wünsche verwirklichen, eventuell unverarbeitete Erlebnisse abschließen zu können.
  • Der Sterbende braucht die Sicherheit, unerträgliche Schmerzen genommen zu bekommen wenn er es wünscht, sich jedoch soweit spüren zu können wie er es möchte und vielleicht auch für den Lebensabrundungsprozeß braucht.
  • Die Erfahrungen zeigen, das der Sterbende nicht „nur" selber ein Loslassen vom Leben braucht, sondern auch, das Angehörige und Freunde ihrerseits den Sterbenden loslassen können.
  • Es ist eine Fehlannahme davon auszugehen, das alte Menschen zwangsläufig leichter mit dem Leben abschließen können als junge Menschen.


4.2. Die Angehörigen

  • Nicht immer gibt es Angehörige, und wenn, ist die Beziehung zu dem Sterbenden und die Bereitschaft ihm begegnen zu wollen sehr unterschiedlich.
  • Viele Angehörige wollen zwar den Kontakt, sind aber ängstlich und hilflos dem Sterben und dem Sterbenden gegenüber.
  • Gerade nahe Angehörige verbinden oft noch unverarbeitete Wut und Enttäuschung mit dem Menschen, der jetzt stirbt. Angehörige geraten untereinander in Streit und Eifersucht um die Liebe und das Erbe des Sterbenden.
  • Auch hier spielen innere Offenheit und äußerer Rahmen, Raum und Zeit dem Sterbenden zu begegnen, eine große Rolle.


4.3. Die Mitarbeiter

  • Die Qualität der Sterbebegleitung ist, wie bereits erwähnt, wesentlich abhängig von der inneren Haltung der begleitenden Mitarbeiter, von der Beziehung zu dem Sterbenden, vor allem von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod.
  • Zu der inneren Offenheit gegenüber dem Tod ist es wichtig, Zeit und Raum zu haben, um sich auf den sterbenden Menschen einlassen zu können.
  • Die Mitarbeiter sind oft Verknüpfungspunkte eines Netzwerkes, die Gespräche mit Krankenhauspersonal, Ärzten und Angehörigen führen und im Sinne der Sterbenden koordinieren.
  • Laut einer Untersuchung empfinden 66% der Altenpfleger geleistete Sterbebegleitung als Höhepunkt ihrer Arbeit.


4.4. Der Arzt

  • Das Berufsbild der Ärzte bringt es zur Zeit noch mit sich, das viele fast unter einem Leistungsdruck stehen, Leben zu erhalten und den Tod infolge einer nicht therapierbaren Erkrankung oft als persönliche Niederlage empfinden.
  • Der Arzt bekommt durch eine persönliche Beziehung zu dem Sterbenden, Gespräche mit Angehörigen, anderen Vertrauten und einem eventuell vorhandenem Patiententestament eine Orientierung über die Wünsche des sterbenden Menschen.
  • Er hat die Aufgabe, auf Wunsch Schmerzen zu nehmen, und wenn gewünscht, eine Bewußtseinstrübung zu vermeiden.


4.5. Mitbewohner/Heim

  • Die meisten Menschen im Altenheim haben zunächst Berührungsängste mit Sterbenden oder Verstorbenen, da sie sie mit ihrem eigenen Tod konfrontieren.
  • Es ist ein langsamer, behutsamer und Geduld erfordernder Prozeß, der z.B. in unserem Haus durch Gespräche mit dem Heimbeirat, anderen Bewohnern und Mitarbeitern möglich machte, daß
    • der Tod einer/eines Mitbewohners per Aushang angezeigt und in der wöchentlichen Andacht bekanntgegeben wird;
    • auch Mitbewohner zu Sterbenden und Verstorbenen ins Zimmer gehen um Abschied zu nehmen;
    • der/die Verstorbene nicht „heimlich" in die Leichenhalle gebracht wird;
    • die Leichenhalle würdevoll gestaltet und wie andere Räume auch, neuen Mitarbeitern vorgestellt wird;
    • ein Trauerbuch angelegt wird, in dem mit der Sammlung von Todesanzeigen, evtl. Foto des Verstorbenen, eines Werkes (gemaltes Bild, Gedicht o.ä.) den Verstorbenen gedacht wird und anhand dessen Bewohner oder Mitarbeiter sich der Verstorbenen erinnern können.


4.6. Organisation von Sterbebegleitung

  • Sterbebegleitung macht nur Sinn, wenn sie auf freiwilliger Basis beruht und die Mitarbeiter und das Umfeld dort hineinwachsen.
  • Ein Verantwortlicher des Mitarbeiterteams klärt ab, welche Begleitungsinhalte gefordert sind. Er koordiniert, wer welche Aufgaben übernimmt, erstellt ggf. einen Zeitplan für Sitzwachen, auch für im Krankenhaus befindliche Bewohner, und sorgt für die dann notwendigen Absprachen.
  • Es empfiehlt sich, bei Doppelzimmern den sterbenden Bewohner in der ihm vertrauten Umgebung zu belassen und dem anderen Bewohner eine Ausweichmöglichkeit anzubieten.


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5. Grenzen und Schwierigkeiten der Sterbebegleitung

  • Vielen Mitarbeitern mangelt es an Fortbildungen zum erlernen des sicheren Umgangs mit Sterbenden und deren Bedürfnissen, zur Auseinandersetzung mit dem Tod und zur Findung ihrer Aufgaben als Koordinator eines Netzwerkes. In der theoretischen Ausbildung zum Altenpfleger kommen diese Themen nur am Rande vor.
  • Der gesamte Prozeß der Sterbebegleitung ist, bis auf die notwendigsten pflegerischen Maßnahmen, bei der Berechnung des Stellenschlüssels im Bereich der stationären Altenarbeit z.Zt. nicht einbezogen; ebensowenig ein angemessener Fortbildungsetat in den vorhandenen Pflegesätzen.
  • Die dennoch anfallende Arbeitszeit häuft sich als Überstunden und geht anderen Aufgaben verloren.
  • Erfahrungen zeigen, daß auch in Krankenhäusern Sterbebegleitung nicht zu den regulären Leistungen gehört. Sterbende werden zwar nicht mehr ins Badezimmer geschoben, dafür oft auf den Flur, weil Sterben sich meist in der Nacht vollzieht. Es ist eher eine Ausnahme, wenn Angehörige oder andere Personen zur Sitzwache o.ä. ermutigt werden.
  • Im ambulanten bzw. teilstationären Bereich (Hospiz) wird die sogenannte „Finalpflege" vier Wochen mit 160 DM Tagessatz durch die Krankenversicherung finanziert. Die realen Kosten, z.B. eines Hospiztages, liegen bei 370 DM. Wer länger lebt, braucht Sonderanträge.
  • Die räumlichen Gegebenheiten einer Institution erschweren die intensive Begleitung durch Angehörige. Gästezimmer sind nur selten vorhanden, Hotelzimmer sind zu weit entfernt und zu teuer.
  • Die Ängste, Unsicherheiten und Konflikte der Angehörigen lassen sich nur ansatzweise durch die Arbeit der Mitarbeiter abfangen, da fachliche und zeitliche Kapazitäten begrenzt sind.
  • Da die meisten Angehörigen heutzutage berufstätig sind, haben sie nur geringe zeitliche Kapazitäten, einen sterbenden Angehörigen zu begleiten; örtliche Entfernungen erschweren dieses außerdem.
  • Bei den Ärzten besteht oft große juristische Unsicherheit an der Grenze zwischen Sterbebegleitung und Sterbehilfe.
  • Die meisten Mediziner verfügen z.Zt. noch über unzureichende Kenntnisse der Palliativtherapie.


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6. Visionen



6.1. Zentrale Visionen aus Gesprächen mit Altenheimbewohnern

  • Selbstverständnis eines Patiententestamentes,
  • Keine Krankenhauseinweisung in der Finalphase,
  • Keine Verlegung innerhalb des Heimes (z.B. auf eine Pflegeetage),
  • Kein Mitleid, keine Vertröstungen,
  • Ehrlichkeit der Begleitenden in der Begegnung,
  • Keine Betreuung durch wechselndes Personal,
  • Verlassen können auf die Qualität der Hilfe,
  • Vertragliche Festlegung einer Sterbebegleitung als Dienstleistung im stationären Bereich.


6.2. Visionen der Mitarbeiter

  • Aufbahrung im eigenen Zimmer als Selbstverständnis,
  • Auszug der Verstorbenen durch den Eingang,
  • Gemeinsame Fortbildungen von Mitarbeitern der Krankenhäuser und Altenheime,
  • Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Gruppen.


6.3.Visionen für den ambulanten Bereich

  • alternative Wohn- und Lebensformen,
  • stadtteilbezogene Arbeit,
  • Nachbarschaftshilfe.

Siehe Beispiel Baugenossenschaft „Freie Scholle Bielefeld". Hier handelt es sich um das erste bundesdeutsche Wohnungsunternehmen, das mit dem Aufbau einer eigenen Altenberatung und -betreuung begonnen hat.

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7. Forderungen

  • Regelmäßige Supervision und Fortbildungsangebote für Mitarbeiter zur Bewältigung des Erlebten und Einüben konstruktiver Hilfsangebote für Sterbende und deren Angehörige. Einbeziehung der Kosten in den Pflegesatz.
  • Finanzielle und architektonische Einbeziehung von Räumlichkeiten (Gästezimmer) im stationären Bereich.
  • Verknüpfung von sozialpolitischer, städte- und wohnungsbaupolitischer Arbeit zu Schaffung von anderen Wohneinheiten (Beispiel „Freie Scholle").
  • Verpflichtende Fortbildung für Ärzte in Palliativmedizin.
  • Juristische Klärung zum Stellenwert eines Patiententestamentes.
  • Politische Unterstützung zur Schaffung von Angehörigengruppen.
  • Gesetzmäßige Festlegung eines „Sterbeurlaubs", Freistellung für Angehörige oder Freunde; vgl. Mutterschutz.


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Literatur

Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW: „Versorgung Sterbender und ihrer Angehörigen", Bonn, Dez. 1992.

Informationsmappe „Omega – Mit Sterben leben e.V.", Postfach 1407, Hann. Münden: „Zehn Ratschläge eines Sterbenden für seine Begleiter", von Joh. Christian Hampe.

Fachzeitschrift Altenpflege. „Sterbebegleitung" von Christine Holitzner-Bade, Hannover, April 1992.

Zeitschrift Demokratische Gemeinde: „Sicher wohnen ein Leben lang", Baugenossenschaft „Freie Scholle Bielefeld"; Dez. 1994.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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