FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:





Dieter Schwulera:
Soziale Arbeit mit Migrantenjugendlichen:
Koordination der Angebote von Jugendhilfe und Migrationssozialarbeit


Druck-Ausgabe: Seite 85

Fast alle europäischen Industriestaaten sind auf dem Weg bzw. haben es bereits realisiert, Staaten mit einer multiethnischen oder, wenn Sie so wollen, multikulturellen Gesellschaft zu werden. Es ist längst keine Frage mehr, ob wir mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zusammenleben wollen, sondern nur noch die Frage, wie wir dieses Zusammenleben gestalten. Ob man das Reizwort nun mag oder nicht, wir sind längst ein Einwanderungsland geworden, auch wenn die Politik dies nicht wahrhaben will.

Ich möchte Ihnen, bevor ich ein paar Ansätze zur Frage der sozialen Arbeit mit und für jugendliche Migrantinnen und Migranten skizziere, zunächst einen Überblick über die zahlenmäßige Situation der Bevölkerungsgruppe mit nichtdeutschem Paß und insbesondere der der Jugendlichen aus Migrantenfamilien geben. Laut Angaben im Ausländerzentralregister lebten Ende 1995 insgesamt 7.173.866 Migrantinnen und Migranten mit ausländischem Paß in der Bundesrepublik Deutschland. Das entspricht übrigens fast der Gesamtbevölkerung von Niedersachsen. In Prozenten ausgedrückt ist das ein Anteil von 8,7% an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik. Die Gesamtbevölkerung liegt zum Stichtag 31.12.1995 bei 81.817.499. Die Angaben stammen vom Statistischen Bundesamt.

Die Zahl der Niedersachsen mit ausländischem Paß liegt zur Zeit etwa bei 500.000. Davon sind über 160.000 Kinder und Jugendliche. Knapp 50.000 liegen in der Altersgruppe zwischen 14 und 20 Jahren, also in der Altersgruppe, über die wir heute in erster Linie reden. Die Hälfte davon ist weiblich. Die größte Gruppe ist die der Türkinnen und die der Türken. Sie liegt etwa bei 17.000. Aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen etwa 7.000 - 8.000 Jugendliche. Die Zahl der Jugendlichen aus den EU-Staaten liegt insgesamt bei etwa 8.000. Zu der Gruppe der Jugendlichen aus Asien, z.B. Iran, Libanon und Vietnam, ist zu sagen. daß sie insgesamt eine Stärke von etwa 4.000 hat.

Druck-Ausgabe: Seite 86

Genaue Zahlen über die in Niedersachsen lebenden Aussiedlerinnen und Aussiedler sind nicht bekannt. Von 1990 bis 1995 kamen insgesamt über 600.000 junge und jugendliche Aussiedlerinnen und Aussiedler im Alter bis 25 Jahre in das Bundesgebiet. Wenn etwa 10% davon in Niedersachsen verblieben sind, sind es ungefähr 60.000. 1995 zogen insgesamt 17.000 Aussiedler nach Niedersachsen. 10%, also etwa 1.700, waren in der Altersgruppe der 15- bis 19jährigen. Nimmt man die Altersgruppe der 6- bis 14jährigen dazu, liegt der Prozentsatz am Gesamtanteil der zugewanderten Aussiedler sogar bei gut 35%.

Lassen Sie mich zum besseren Verständnis noch ein paar Zahlen allgemein sagen. In der Altersgruppe bis 15 Jahre leben in Niedersachsen etwa 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche. Die Zahl der ausländischen Kinder und Jugendlichen in dieser Altersgruppe liegt bei 120.000, also etwa 10%. In der Gruppe der 15 - 20jährigen liegt die Zahl bei etwa 360.000. Dem steht die Zahl von etwa 40.000 ausländischen Jugendlichen in dieser Altersgruppe gegenüber.

Zur Geburtenentwicklung sowie zur Aufenthaltsdauer und zum Aufenthaltsstatus ist folgendes zu sagen.

Die längerfristige demographische Entwicklung in der Bundesrepublik ist durch eine Abnahme und Alterung der Bevölkerung gekennzeichnet. Das zeigt sich deutlich in der Geburtenentwicklung. Seit Gründung der Bundesrepublik lag von 1945 bis 1967 die Geburtenrate etwa in der Größenordnung von 900.000 bis zu 1 Mio. 1967 waren es gut 1 Mio. Kinder, darunter 972.000 Kinder deutscher und 47.000 Kinder ausländischer Staatsangehörigkeit. Der Ausländeranteil betrug also etwa 4.7%. Seit Anfang der siebziger Jahre machen Kinder von Migranteneltern durchschnittlich zwischen 10 und 15% aller in Deutschland geborenen Kinder aus. 1993 waren es rund 103.000, was einen Ausländeranteil von 12,9% entspricht. Heute sind etwa zwei Drittel aller Migrantenkinder in Deutschland zur Welt gekommen und werden zum größten Teil auch in Deutschland aufwachsen, Kindergärten besuchen, zur Schule gehen, Berufe erlernen, arbeiten, heiraten und wieder ausländische Kinder haben. Statistisch werden sie zwar als Ausländer registriert, in Wirklichkeit sind sie aber Kinder und Jugendliche dieses Landes.

Die ausländische Wohnbevölkerung ist aufgrund ihrer langen Aufenthaltsdauer ein fester Bestandteil der Bevölkerung in der Bundesrepublik. Ende

Druck-Ausgabe: Seite 87

1993 lebten mehr als ein Viertel aller Migrantinnen und Migranten schon 20 Jahre und länger in Deutschland, nahezu 40% hatten Aufenthaltszeiten von mehr als 15 Jahren und fast die Hälfte immer noch Aufenthaltszeiten von mehr als 10 Jahren aufzuweisen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen aus den ehemaligen Anwerbeländern ist sogar noch länger. Natürlich sind diese Zahlen und vor allem die Größenordnung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung für Sie nichts neues oder aufregendes. Das alles gehört und nicht nur in Niedersachsen schon lange zur Normalität. Neu ist wohl nur, daß seit einigen Jahren nicht nur die Ballungsräume und Wirtschaftsstandorte von Zuwanderung mit all ihren Konsequenzen betroffen sind, sondern jede Gemeinde und sei sie noch so klein oder abgelegen.

Die jugendlichen Zuwanderer gibt es genauso wenig wie die Ausländer. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine bunte Gruppe: es sind ausländische und ausgesiedelte, sind eingeborene und zugewanderte. eingebürgerte und nichteingebürgerte Jugendliche, es sind Flüchtlinge mit unterschiedlichem Status, die allein oder mit Familienangehörigen gekommen sind. Es sind Jungen und Mädchen, die durch die verschiedenen Kulturkreise aus denen sie, bzw. ihre Eltern kommen, unterschiedlich geprägt sind. Sie alle haben verschiedene Sozialisierungsprozesse durchgemacht. Anders als in manchen anderen Feldern der Sozialarbeit sind immer wieder in relativ kurzen Zeiträumen große soziologische Veränderungen der Gruppe der Zuwanderer feststellbar. Die sogenannte zweite und dritte Generation, also die Kinder und Enkelkinder der ehemals angeworbenen ausländischen Arbeitnehmer, hat in vielen Bereichen einen hohen Integrationsgrad erreicht. Die Zahlen z.B. zu den Schulabschlüssen belegen dies. Die Statistiken geben aber auch hier den tatsächlichen Stand nicht wieder. Da sie nach deutschen und ausländischen Schulabgänger differenzieren, werden die Ergebnisse für die ausländischen Jugendlichen „verschlechtert" durch ausländische Kinder und Jugendliche, die erst kurz in der Bundesrepublik, meist als Flüchtlinge leben. Für die zweite und dritte Generation gilt weiterhin, daß sie in der Schule, am Arbeitsplatz. in der Freizeit, vor allem in ihrer jugendlichen Entwicklung weitgehend nicht als Ausländer wahrgenommen werden. Sie gehören selbstverständlich dazu. Für die allermeisten ist das täglich Hin und Her zwischen den Kulturen Routine und bei nicht wenigen der häusliche und familiäre Ablauf von den in deutschen Familien nicht mehr zu unterscheiden.

Druck-Ausgabe: Seite 88

Seit etwa fünf, sechs Jahren hat sich die Zuwanderung so entwickelt, daß mit den rechtlichen, statistischen und zum Teil auch soziologischen Kategorien eine allgemeingültige Darstellung der Situation der Zuwanderer nicht mehr leistbar ist.

Trotzdem möchte ich versuchen, dazu einige Anmerkungen zu machen. Ich möchte insbesondere ein paar Aspekte aus den Bereichen Schule, Bildung und Ausbildung in die Diskussion bringen.

Bildung und Ausbildung gehören zu den wichtigsten gesellschaftlichen Integrationsfaktoren für Migrantinnen und Migranten. Mit der Teilnahme an schulischen und beruflichen Bildungsprozessen erwerben ausländische Kinder und Jugendliche Qualifikationen, die ihnen beruflich und privat Perspektiven schaffen und somit die gesellschaftliche Integration fördern.

Je älter die Jugendlichen werden, um so mehr gewinnen andere sozialisatorische Einflüsse an Bedeutung. Neben die Familie treten Schule, Ausbildung und vor allem die gleichaltrigen Freunde, die oft die maßgebende Instanz im Jugendalter sind. Die Familie behält für viele Gruppen der Jugendlichen neben der gleichaltrigen Gruppe, der Clique, aber bei allen Lebensfragen eine wichtige Funktion. Das Verhältnis zu den Älteren schätzen die bei einer Umfrage des Bundesinstitut für Berufsbildung Befragten zum überwiegenden Teil als gut ein.

Immer mehr ausländische Jugendliche besuchen weiterführende Schulen, durchlaufen vermehrt Ausbildung und beginnen immer häufiger in der Bundesrepublik ein Studium. Diese Entwicklung ist natürlich sehr erfreulich, haben doch die erreichten Schul- und Ausbildungsabschlüsse großen Einfluß auf das Erreichen bestimmter beruflicher und gesellschaftlicher Positionen. Demgegenüber besteht aber bei ausländischen Jugendlichen eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit. Auch ist die Ausbildungsbeteiligung, sind Lehren usw. überdurchschnittlich gering. Offenbar hat sich also ein Teil der Jugendlichen im gewissen Sinne im deutschen Bildungssystem etabliert, aber ein beträchtlicher Teil von ihnen fällt heraus.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas näher auf die Rolle der Familie eingehen, insbesondere in Bezug auf Schule bzw. Ausbildung. Die Bildungsziele sind in den Zuwandererfamilien im Grunde genommen die gleichen wie bei vergleichbaren deutschen Familien auch. Die Bildungserwartung der Eltern für ihre Kinder sind zum Teil noch höher gesteckt.

Druck-Ausgabe: Seite 89

Sehr oft gibt es aus dem Elternhaus einen recht hohen Druck auf die Jugendlichen, zunächst zu guten Schulergebnissen und dann zu guten Ausbildungsergebnissen zu kommen. Eher als in den vergleichbaren deutschen Familien gibt es aber Probleme dort, wo Eltern unterstützend und fördernd eingreifen sollten. Ich habe das konkret feststellen können bei einem Projekt, das ich vor einigen Jahren in Zusammenarbeit mit drei hannoverschen Grundschulen durchgeführt habe. Das Projekt unter dem Titel "Schul- und elternhausbezogene Integrationsarbeit mit ausländischen Kindern" hatte auch zum Ziel, die Kompetenz der Eltern zu stärken, die Bildungskarriere ihrer Kinder zu unterstützen. In diesem Projekt wurde deutlich, daß die Eltern einen stärkeren Autoritätsanspruch gegenüber ihren Kindern haben, die Kinder erwarten auch zum Teil mehr Autorität von ihren Eltern als in vergleichbaren deutschen Familien. Die Eltern sollten in die Lage versetzt werden, in der Schule besser zu kooperieren. Die Angst vor der Institution Schule ist bei ausländischen Eltern aus der zweiten Generation höher als bei vergleichbaren deutschen Eltern. Eine Ursache liegt in der eigenen Biographie dieser Eltern. Sie selbst sind oft als 8-, 10- oder 12jährige von ihren Eltern, wie es damals hieß, nachgezogen worden. Sie wurden möglichst jahrgangsgerecht in die deutsche Schule eingeschult. Sie haben oft die Schule als eine ihnen sehr verschlossene, nicht sehr entgegenkommende oder gar abweisende Institution erlebt. Das begann mit der Sprachenbarriere und endete damit, daß sie als Seiteneinsteiger nur schwer zu einem Schulabschluß, geschweige denn zu einem guten Schulabschluß gekommen sind. Diese Erlebnisse haben bei nicht wenigen durchaus Traumata hinterlassen. Ich glaube, dieses etwas dramatische Wort kann man in diesem Zusammenhang durchaus benutzen. Sie haben auch im Erwachsenenalter immer noch Ängste und wissen nicht so ganz genau, wie sie ihre Kinder fördern können. Die Ergebnisse dieses Schulprojekts sind durchaus ermutigend gewesen. Ich bin froh, daß diese Art von Schulsozialarbeit jetzt auch grundsätzlich in allen Schulformen Niedersachsens möglich ist. Bei der Novellierung des Schulgesetzes ist die entsprechende Passage entsprechend geändert worden. Sicherlich werden z.Z. in Niedersachsen auch einige Schulsozialarbeiter eingesetzt. Die Zahl ist mir allerdings nicht bekannt.

Schule hat eine Doppelfunktion, die über den allgemeinen Bildungsauftrag hinausgeht: Sie soll wesentlich zu sozialen. sprachlichen und kulturellen Eingliederung der Kinder aus zugewanderten Familien beitragen. Manche

Druck-Ausgabe: Seite 90

haben in der Vergangenheit auf die assimilatorischen Zwänge unseres Schulsystems hingewiesen, das sich wesentlich aus der Formalisierung der Qualifikation ergäbe. Schule soll heute darüber hinaus Schülerinnen und Schüler befähigen, den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere die Idee einer gemeinsamen Zukunft der europäischen Völker zu erfassen, zu unterstützen und Menschen anderer Nation und Kulturkreise zusammenzuleben - so § 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes. Wenn Sie so wollen, hat Schule einen interkulturellen Bildungsauftrag.

Schule hat massiv mit einem nur selten behandelten Thema zu tun: Integrationschancen hängen auch mit dem Zuwanderungsalter zusammen. Werden Kinder hier geboren oder kommen sie im Vorschulalter nach Deutschland, wird ihnen im allgemeinen eine gute Integrationsprognose gegeben. Kommen sie als sogenannte „Seiteneinsteiger" in die Schulen, sinken nach weit verbreiteter Ansicht ihre Chancen je älter sie sind. Untersuchungsergebnisse aus den siebziger Jahren haben deutlich gemacht, daß das kritische Alter für Zuwanderer zwischen etwa dem achten und vierzehnten Lebensjahr besteht. Ältere haben naturgemäß Probleme, einen deutschen Schulabschluß zu bekommen, ein Problem. das ständiger Begleiter im späteren Arbeitsleben ist. Dennoch ist das eine Gruppe, die ihren Weg in dieser Gesellschaft zumindest bis heute durchaus gemacht hat. Die als 8- bis 14jährige gekommen sind, sind diejenigen, denen verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. Sie sind noch keine gefestigten Persönlichkeiten, sehr verletzlich und sensibel, wenn sie in den Klassen, aus welchen Gründen auch immer, an den Rand gedrängt werden, mit ihren bis dahin erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht akzeptiert werden. Auch sie haben große Probleme, einen qualifizierten Schulabschluß zu erreichen. Aber im Gegensatz zu den Älteren vergleichen sie sich dann im Jugendalter viel stärker mit den deutschen Gleichaltrigen in ihren Ansprüchen an das Leben. Sie reagieren auf Diskriminierung, auf ungleiche Chancen, sehr viel massiver als ihre deutsche Umwelt es erwartet.

Es gibt für ausländische Jugendliche in vielen Lebensbereichen Benachteiligungen die ganz erheblich zu ihrem Selbstverständnis beitragen. Zum Beispiel die Wahrnehmung, daß die ausländische Bevölkerung häufig die untere soziale Position einnimmt oder die fremdenfeindlich motivierten Straftaten oder Aktionen, die oft als latente Bedrohung empfunden werden. Auch die Tatsache, daß die ausländische Bevölkerungsgruppe häufig

Druck-Ausgabe: Seite 91

in eine "Sündenbockfunktion" gedrängt wird und z.B. für Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel verantwortlich gemacht wird, trägt zur Verunsicherung bei. Auch die ausländerrechtlichen Regelungen fördern nicht gerade die Rechtssicherheit der Jugendlichen mit ausländischem Paß. Bei der Inanspruchnahme von Leistungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes können in bestimmten Konstellationen Benachteiligungen auftreten, sogar der Aufenthalt in der Bundesrepublik kann gefährdet sein.

Aufenthaltsunsicherheit und Diskriminierung führen zu Verunsicherungen, Ambivalenzen, die es den Jugendlichen erschweren, eine Perspektive für ihr zukünftiges Leben in der Bundesrepublik zu entwickeln und die entsprechenden Entscheidungen, z.B. bei der Berufswahl zu treffen. Diese Unentschlossenheit kommt auch in den Ergebnissen einer neueren Untersuchung zum Ausdruck. In einer Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung wurde deutlich, daß sich die Rückkehrwünsche der Jugendlichen von 1979 bis 1989 auf ein fünftel verringert habe. Gleichzeitig nahm die Anzahl der Jugendlichen zu, die unentschieden sind: ohne Pläne sind oder einige Jahre bleiben wollen über 60% der Befragten.

Die zuletzt genannten Aussagen sind erstaunlich, da sehr viele der Jugendlichen in der Bundesrepublik geboren sind oder zumindest die meiste Zeit ihres Lebens hier verbracht haben. Für diese käme die Rückkehr einer Auswanderung gleich.

Bei den Aussiedlerkindern und Aussiedlerjugendlichen finden sich ähnliche Problemlagen wie bei den nichtdeutschen Kindern und Jugendlichen. Auch bei ihnen spielt es eine große Rolle, in welchem Alter sie von der vertrauten Umgebung für immer Abschied nehmen mußten. Auch sie sind nicht gefragt worden, ob sie nach Deutschland wollten. Ein Unterschied zu anderen Zuwanderern ist bei ihnen, daß sie von vornherein wissen, daß der Abschied endgültig ist. Sie wissen vom ersten Tag in Deutschland, daß sie keine Alternative haben zum Leben in dieser Gesellschaft. Sie wissen, überspitzt gesagt, daß sie zum Erfolg verdammt sind. Aussiedler kommen mit einer typischen Einwanderermentalität. Kommen sie im Schulalter, müssen sie zum Teil erst in der lateinischen Schrift alphabetisiert werden. In ihrer "Heimat" war ihnen als .,Deutsche" Diskriminierung nicht fremd. Hier werden sie als „Russen" wahrgenommen, merken, daß in ihren Familien andere Werte als in ihrer Umgebung gelebt werden, daß ihnen die deutsche "Kultur" fremd ist. Gegenüber den „Türken" fühlen sie

Druck-Ausgabe: Seite 92

sich als unterprivilegiert und kehren ihr "Deutschsein" um so mehr heraus. Die Türken sind ihre Konkurrenten. Dies wiederum führt bei nichtdeutschen Jugendlichen nicht selten im Zusammenschluß mit einheimischen Jugendlichen zu Gegenreaktionen.

Soziale Arbeit mit Jugendlichen und Kindern aus Migrantenfamilien heißt verstärkt, Beratungs- und Orientierungshilfen an den Schnittstellen anzubieten. Zuerst bei der Einschulung, dann beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung oder in das Arbeitsleben. Immer wenn diese Übergänge anstehen, ist der Beratungs- und Orientierungsbedarf besonders hoch. Leicht zugängliche Beratungsmöglichkeiten zu diesen Zeitpunkten können viele Folgeprobleme und auch Folgekosten ersparen.

Gegenüber den Jugendlichen der sogenannten zweiten und dritten Generation und ihren Eltern müssen immer wieder Anstrengungen unternommen werden, ihnen die breite Palette der Ausbildungsmöglichkeiten deutlich zu machen. Dies gilt allerdings genauso wie bei vergleichbaren deutschen Jugendlichen. Die Arbeitsverwaltung unternimmt immer wieder einiges. Das muß jedoch auch korrespondieren mit den Lehrstellenangeboten und mit der Bereitschaft der Arbeitgeber, ausländische Jugendliche einzustellen bzw. überhaupt um sie zu werben. Letzteres gilt weniger für den gewerblichen Bereich sondern eher für weitere Bereiche des Dienstleistungsbereichs und des öffentlichen Dienstes.

Sehr zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang die EU-Gemeinschaftsinitiative "Beschäftigung-Youthstart", die zum Ziel hat, Jugendlichen entweder den Zugang zu einer Vollbeschäftigung oder zu einer allgemeinen oder beruflichen Ausbildung zu erleichtern. Schwerpunkt des Programms ist die Einrichtung eines flächendeckenden Netzes von Regionalen Arbeitsstellen zur beruflichen Eingliederung junger Menschen in Niedersachsen (RAN) mit der Perspektive, langfristig zu einer unionsweiten Art "Arbeitsgarantieregelung" für Jugendliche zu kommen. Federführend bei diesem Programm ist in Niedersachsen das Frauenministerium. Die Anzahl der an diesem Programm teilnehmenden ausländischen Jugendlichen ist mir nicht bekannt.

Auch das Sozialministerium ist mit der Gemeinschaftsinitiative Beschäftigung befaßt und zwar mit dem Programm HORIZON. Hier geht es im Schwerpunkt um die berufliche Qualifizierung von Flüchtlingen und Migranten als Voraussetzung für den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Gerade

Druck-Ausgabe: Seite 93

jugendliche Flüchtlinge sind bei der beruflichen Qualifikation besonders betroffen, schon weil nicht selten aus gesetzlichen Gründen bestimmte Maßnahmen ausgeschlossen sind. Dabei ist häufig gar nicht abzusehen, ob aus einem befristeten oder auch vorübergehend geplanten Aufenthalt nicht doch ein längerer wird und durch mangelnde Qualifikationschancen auch Integrationschancen vertan werden. Das gilt auch bei Rückkehr oder Weiterwanderung im Hinblick auf Eingliederungschancen in dem jeweiligen Zielland.

In Niedersachsen laufen z.Z. im HORIZON-Programm bei acht Projektträgern Qualifizierungsmaßnahmen mit ca. 200-300 Teilnehmern, allerdings nicht alles Jugendliche. Die Arbeit wird von der Universität Oldenburg koordiniert.

Wie Sie wahrscheinlich wissen, gibt es in Niedersachsen auch eine Reihe von Werkstatt- und Beschäftigungsprojekten, z.B. die Jugendwerkstätten. Dies wird zum Teil auch aus EU-Mitteln finanziert. Ebenso wie das Berufsbildungsjahr tragen auch diese Maßnahmen dazu bei, vermehrt ausländische Jugendliche schulisch und beruflich zu qualifizieren.

Mädchen und junge Frauen, die zugewandert sind, brauchen noch einmal verstärkte Hilfestellung, nicht so sehr in der Motivation zu beruflicher bzw. schulischer Bildung, sondern eher in der inhaltlichen Beratung und der Unterstützung ihren Eltern gegenüber.

Ich habe nun ein paar Problemlagen von jugendlichen Migrantinnen und Migranten angerissen und einige Ansätze von Hilfestellung aufgezeigt. Bevor ich nun zu der Fragestellung komme. welche Rolle hierbei die Migrationssozialarbeit spielen kann, lassen Sie mich noch einen kurzen Ausflug zum Thema Einbürgerung machen.

Neben der schulischen, beruflichen, sprachlichen, sozialen und kulturellen Integration von jungen Ausländerinnen und Ausländern ist für sie die rechtliche Integration, also die Einbürgerung, besonders wichtig. Die deutsche Staatsangehörigkeit erst eröffnet ihnen die Möglichkeit, gleichberechtigt in dieser Gesellschaft zu leben und sie mitzugestalten. Die Einbürgerung dokumentiert auch das nicht umzukehrende „Ja" dieser Gesellschaft zu diesen jungen Menschen. Sie haben aus sich heraus und mit Hilfe anderer große Integrationsleistungen vorgelegt. Daß wird aber stagnieren oder sich bis hinein in destruktive Haltungen sich selbst oder an-

Druck-Ausgabe: Seite 94

deren gegenüber wandeln, wenn die rechtliche Integration nicht großzügig angeboten wird. Eine wirkliche Chance in dieser Gesellschaft werden diese jungen Menschen nur sehen und realistischerweise haben, wenn sie ohne wenn und aber dazugehören. Diese Überlegungen führen mich dazu, einerseits immer wenn möglich für Einbürgerung zu werben und andererseits für massive Einbürgerungserleichterungen zu plädieren. Die jetzigen rechtlichen Regelungen halte ich nicht für ausreichend.

Wenn ich jetzt zu den Begriffen Migrationsdienste und Migrationssozialarbeit komme, verbirgt sich für viele dahinter vielleicht ein Fragezeichen. Diese Begriffe sind noch recht neu, aber was dahinter steht, muß nicht neu erfunden werden. Um es in einem Satz zu sagen: Es ist die begriffliche, inhaltliche und organisatorische Klammer für soziale Arbeit mit Arbeitsmigranten, Flüchtlingen und Aussiedlern.

So verschieden die rechtliche Situation dieser Gruppen auch ist, so verschieden sind auch Inhalte und Finanzierungsquellen für diese Arbeit. Die klassische Ausländersozialberatung, historisch entstanden als Beratungs- und Betreuungsangebot für die angeworbenen Arbeitsmigranten und durchgeführt von der Arbeiterwohlfahrt für die türkische, von der Caritas für die spanische, italienische und portugiesische und von der Diakonie für die griechische Bevölkerungsgruppe, wird je zur Hälfte aus Bundes- und Landesmitteln finanziert. Die seit 1990 in Niedersachsen laufende Flüchtlingssozialarbeit ist ein besonderes Angebot für Flüchtlinge und Asylbewerber. Es wird finanziert aus Landesmitteln und durchgeführt von den großen Wohlfahrtsverbänden, kirchlichen Institutionen sowie kleineren Initiativen und Vereinen. Die Betreuung und Beratung der zugewanderten Aussiedlerinnen und Aussiedler hingegen übernehmen die wiederum vom Bund finanzierten besonderen Aussiedlersozialdienste. Daneben gibt es noch eine Vielzahl von spezifischen Angeboten, die von Kommunen oder Trägern der freien Wohlfahrtspflege finanziert werden.

Die Förderung aus der öffentlichen Hand stattet die einzelnen Programme für die Zielgruppen mit sehr unterschiedlichen Mitteln und Aufgabenzuweisungen aus. Die Zuständigkeiten unterschiedlicher Ministerien auf Bundes- und Landesebene wird vom rechtlichen Status der Migranten bestimmt. Der tritt dann auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Beratungsdienste so sehr in den Vordergrund, daß Gemeinsamkeiten der Migrantinnen und Migranten nicht mehr zu erkennen sind. Ähnliche Erleb-

Druck-Ausgabe: Seite 95

nisse und Probleme aller Migrantengruppen, wie z.B. Erfahrung als Minderheit in einer als übermächtig erfahrenen Mehrheitsgesellschaft oder die gleichen Anfeindungen auf dem Weg der Integration und vieles mehr werden nicht mehr berücksichtigt. Das Beharren auf kulturellen oder rechtlichen Unterschieden bei den Migrantengruppen bedeutet neben der unbestrittenen Notwendigkeit auch gewisser Differenzierungen jedoch das unnötige, vor allem personalaufwendige Auseinanderdividieren der vorhandenen Gemeinsamkeiten.

Die Erkenntnisse, daß die Dienste zusammengeführt werden müssen, schon wegen der knapper werdenden Mittel, setzt sich in zunehmenden Maße in den Fachkreisen durch, wird jedoch nur sehr zögerlich, manchmal nur im Verborgenen umgesetzt. Denn die politische Argumentation geht dahin, daß man die verschiedenen Gruppen von Migranten nicht vermischen dürfe. Dabei gibt es sowohl in den Ballungsräumen als auch in ländlichen Regionen Erfahrung von integrierter Arbeit bei den Wohlfahrtsverbänden, den Initiativen, den Vereinen sowie vereinzelt bei den Fachdiensten der Kommunen. Dort ist zu beobachten, daß sich bei den einzelnen Diensten und den dort arbeitenden Kräften Fachkompetenzen entwickelt haben, die allen Migrantengruppen zugänglich gemacht werden können. Ein zukunftsträchtiges Konzept der sozialen Arbeit mit Migranten muß alle vorhandenen Dienste im ersten Schritt zunächst an der Basis organisatorisch zusammenfassen. In den Ballungsräumen oder den Städten bietet sich die Zusammenfassung von Fachdiensten in einem Beratungszentrum an. Das setzt allerdings voraus, daß vorhandenes Denken in Institutionen überwunden werden muß und verbands- und ressortübergreifende Kooperation nötig sind. Auch regionale Grenzen dürfen kein Hindernis einer übergreifenden Sozialarbeit sein. Die bisherigen Ansätze in der Praxis können bei der Ausformulierung eines Konzeptes hilfreich sein. Natürlich ist hierbei auch die Arbeit der Ehrenamtlichen konzeptionell einzubeziehen. Sie bedarf der inhaltlichen und strukturellen Unterstützung in der Organisation unter Begleitung durch hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Was kann nun Migrationssozialarbeit an Hilfestellungen für jugendliche Migrantinnen und Migranten geben? Zunächst muß gesagt werden, daß sich aus der klassischen Arbeitsmigrantensozialarbeit, der Ausländersozialberatung, auch eine Vielzahl von Angeboten für Jugendliche gebildet

Druck-Ausgabe: Seite 96

haben. Das reicht von Jugendclubs über Folklore- und Theatergruppen bis zu Jugendfreizeiten und Angeboten für die politische Bildungsarbeit. Gerade dieser Bereich ist besonders wichtig, weil auf diesem Wege gewonnene Informationen zur Klärung der Lebenssituation in der Bundesrepublik Deutschland beitragen können. Ausländische Jugendliche müssen sich mit ihrem "Ausländersein" und ihrem Minderheitenstatus auseinandersetzen. Auch wenn ihnen politische Einflußnahme nur in bescheidenem Maße offen steht, sollten sie viele der sie bestimmenden Faktoren kennenlernen. Alle Institutionen, von Partei bis zu den Landeszentralen für politische Bildung, sollten auch diese Zielgruppen bei ihren Angeboten berücksichtigen. Das niedersächsische Bündnis gegen Ausländerhaß und Fremdenfeindlichkeit, das von der Ausländerbeauftragten koordiniert wird, führt seit einigen Jahren Fortbildungsveranstaltungen für Multiplikatoren in der Jugendarbeit mit Migrantinnen und Migranten durch, zuletzt vor einigen Wochen hier in Hannover zum Thema "Jugendkulturen und Konfliktpotentiale - Arbeit mit Jugendlichen in einer multiethnischen Gesellschaft". Auch die bisher durchgeführten Workcamps für Toleranz und gegen Ausländerhaß und Fremdenfeindlichkeit. an denen deutsche und ausländische Jugendliche teilgenommen haben, waren ein wichtiger Beitrag für politische Jugendarbeit.

Die Sozialberater stehen sicher bei familiären Konfliktsituationen zur Verfügung und können häufig schon durch ihre Sprachkompetenz unterstützend eingreifen. Auch wird der Fachberater in seinem Beratungsangebot noch weitere Hilfemöglichkeiten haben. z.B. im Behördenumgang, bei der Wohnungssuche. Der Flüchtlingssozialarbeiter hat ebenfalls eine Palette von Möglichkeiten, wie er im Einzelfall helfen kann. Aber all das sind keine jugendspezifischen Angebote und reichen natürlich nicht aus.

Es muß deutlich gesagt werden: Der Sozialberater und auch der Flüchtlingssozialarbeiter können wenig Unterstützung im engeren bzw. eigentlichen Bereich der Jugendarbeit geben, sei es nun bei den Angeboten der Jugendverbände oder den der offenen Jugendarbeit. Leider werden gerade diese Angebote bis auf wenige Ausnahmen aber von ausländischen Jugendlichen auch ziemlich selten genutzt. Eine gute Einbindung Jugendlicher nichtdeutscher Staatsangehörigkeit scheint bei der Pfadfinderschaft zu gelingen. In ständiger Zusammenarbeit mit der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg entwickelte sich der Bund Muslimischer Pfadfinder

Druck-Ausgabe: Seite 97

Deutschlands, ein durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördertes Modellprojekt. Die geringe Präsenz der ausländischen Jugendlichen in den meisten Verbänden ist nicht verwunderlich, sind doch zum einen kaum ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort tätig, zum anderen stellt die teilweise konfessionelle Ausrichtung der Verbände ein Hindernis für die Akzeptanz bei andersgläubigen Jugendlichen dar. Sehr positiv kann sich die gute Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendverbänden auswirken: Durch Aktivitäten der Jugendverbände in den Schulen wächst die Bereitschaft der Jugendlichen, auch an den Angeboten dieser Jugendverbände teilzunehmen.

Zudem gründen sich auch eigene Migranten-Jugendverbände, deren strukturelle Einbindung in die kommunalen, landes- und bundesweiten Jugendringe sich zum Teil schwierig gestaltet.

In der offenen Jugendarbeit scheint es vielerlei Anlässe zu Konflikten zwischen Deutschen und Jugendlichen anderer Staatsangehörigkeit zu geben. Die Nutzung der Einrichtungen sowohl durch deutsche als auch durch Jugendliche mit ausländischem Paß bereitet oft Schwierigkeiten: zum Teil wird versucht, die jeweils anderen aus der Einrichtung zu drängen. Die ohnehin schwierige Aufgabe der Leiter und Mitarbeiter solcher Einrichtungen wird dadurch nochmals erschwert. Um allen Gruppen von Jugendlichen gerecht zu werden, sollte neben Aktivitäten, die sich an alle interessierten Jugendlichen gemeinsam richten, auch solchen Raum gegeben werden, die bevorzugt von Jugendlichen mit ausländischem Paß wahrgenommen werden.

Die Jugendsozialarbeit als sozialer Regeldienst der öffentlichen und freien Träger ist - wie alle anderen Regeldienste - originär auch für die ausländische Bevölkerung zuständig. Diese Dienste müssen sich stärker für Migrantinnen und Migranten öffnen. Nur wenn interkulturelle Fähigkeiten und Inhalte in die allgemeinen sozialen Regeldienste einfließen, werden die dort arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Lage sein können, für alle Rat- und Hilfesuchenden in dieser Gesellschaft dazusein. Ein Anfang könnte in diesem Bereich schnell gemacht werden, wenn dies vor allem bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung schon jetzt beachtet würde. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Migrationsdienste könnten dies wirkungsvoll unterstützen.

Druck-Ausgabe: Seite 98

Entsprechend der Mittlerfunktion sind die Spezialdienste ursprünglich subsidiär angelegt worden. Sie sollen also vorrangig migrationsspezifische Problemlagen bearbeiten. Situationsbedingt übernehmen sie aber tatsächlich weitverbreitet Aufgaben der sozialen Regelversorgung (ohne ausdrücklich gesetzlichen Auftrag). Durch die Existenz der Spezialdienste konnten sich die Regeldienste - obwohl auch für ausländische Bevölkerung zuständig - de facto auf deutsche Zielgruppen konzentrieren und haben das auch getan. Die Mehrzahl der Migranten wird sich aber auf Dauer oder mindestens auf unbestimmte Zeit in der Bundesrepublik aufhalten. Die Zweigleisigkeit der sozialen Versorgung ist daher nicht mehr zeitgemäß. Die Regeldienste sind derzeit unzureichend in der Lage, auf die Spezifika der Lebenssituation von Migranten und auf die sich daraus ergebenen Konsequenzen für die sozialarbeiterischen Beratungs- und Unterstützungsbedarf Rücksicht zu nehmen. Ursächlich für diese Unzulänglichkeit ist im starken Umfang, daß die Mitarbeiter nahezu ausschließlich deutsch sind und zudem den Besonderheiten interkultureller Arbeit häufig völlig unvorbereitet gegenüber stehen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Spezialdienste sind hingegen oft selbst Migranten. Die eigene Erfahrung ist einer der Gründe, warum sie auf die Berücksichtigung interkultureller Problemlagen in der Regel besser vorbereitet sind.

Die Spezialdienste können das Beratungs- und Betreuungsangebot der Regeldienste nicht ersetzen. Sie sollen es entsprechend ihrer Aufgabenstellung auch nicht. Sie sind weder so flächendeckend wie die Regeldienste organisiert, noch fachlich vergleichbar spezialisiert. Außerdem können sie für viele Nationalitäten überhaupt keine muttersprachlichen Angebote vorhalten. Als freiwillige Leistung der öffentlichen Hand sind die migrantenspezifischen Dienste zudem finanziell nicht abgesichert. Ihr Ausbau auf ein den Regeldiensten vergleichbar flächendeckendes und qualitatives Spezialisierungsniveau ist weder von der finanziellen noch von der personellen Seite realisierbar. Hinzu kommt noch, daß eine solche Entwicklung nicht wünschenswert ist, da sie die trennenden Tendenzen verstärken würde. Das liefe allen Bemühungen um eine Integration der Migranten, insbesondere der Jugendlichen, zuwider.

Zu fordern ist eine am Alltag orientierte Jugendsozialarbeit mit ganzheitlichem Ansatz, die auf die besondere Lebenssituation der jugendlichen Migrantinnen und Migranten abstellt. Soziale Arbeit mit Jugendlichen be-

Druck-Ausgabe: Seite 99

schränkt sich nicht nur auf den vom Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) gesetzten Rahmen, sondern ragt in Bereiche der Bildungspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik, Europapolitik (ESF) und nicht zuletzt in die Migrations- und Integrationspolitik hinein. Deshalb ist eine Kooperations- und Vernetzungsarbeit mit anderen Stellen unbedingt erforderlich. Es muß auf die Bedürfnisse der einzelnen Zielgruppen abgesteckt werden. Es geht auch darum, Selbsthilfepotentiale der jungen Menschen durch Selbständigkeit fördernde und motivierende Maßnahmen zu aktivieren. Eine wichtige Rolle könnten hierbei auch die verschiedenen im Rahmen der Migrationssozialarbeit entwickelten Instrumente spielen.

Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Lösungsansätze in die Diskussion bringen, von denen ich mir erhoffe, daß sie uns auf den Weg zur interkulturellen Öffnung der Regeldienste ein Stück weiterbringen. M.E. sollten Aktivitäten in folgende Richtungen gehen:

  • Einstellung bi-kultureller Fachkräfte bei den Regeldiensten
  • Interkulturelle Teamarbeit (zwischen den ausländischen und deutschen Fachkräften)
  • Veränderung der Angebotsstruktur (Entwicklung zu mehr ganzheitlicher Arbeit)
  • Externe Vernetzung der Regel- und Spezialdienste (Koordination der Angebote und Verbesserung der Kommunikation
  • Aus- und Fortbildung mit interkulturellem Ansatz.

Soziale Hilfen für jugendliche Migrantinnen und Migranten werden sich qualitativ nachhaltig verbessern, davon bin ich überzeugt, wenn eine Öffnung der Jugendsozialarbeit und der anderen Regeldienste ernsthaft und systematisch betrieben wird. Dies wird ein längerer Prozeß sein. Aber es gibt m.E. keine Alternative. Vielleicht wird es für manche auch ein schmerzhafter Prozeß sein, denn in weiten Teilen der Gesellschaft wird immer noch nicht wahrgenommen, daß wir auf Dauer mit Einwanderung leben werden.

Druck-Ausgabe: Seite 100 = Leerseite

Page Top

Referenten, Tagungs- und Diskussionsleitung

Druck-Ausgabe: Seite 101

Gerd Andres
MdB, Leiter der Arbeitsgruppe Migrationspolitik der SPD-Bundestagsfraktion

Farschid Dehnad
Arbeiterwohlfahrt Hannover

Dieter Göbel
Landesjugendamt Rheinland, Köln

Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer
Universität Bielefeld, Interdisziplinäre Forschungsgruppe für multi-ethnische Konflikte

Christoph Honisch
Jugendamt der Stadt Hannover

Ann-Christin Jörgensen
Arbeiterwohlfahrt, Hannover

Themas Joschonek
Multikultureller Jugendtreff der Bethlehemkirche, Hannover

Yasemin Karakasoglu-Aydin
Universität GH Essen

Dr. Ursula Mehrländer
Leiterin der Abt. Arbeits- und Sozialforschung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Heike Roll
Osteuropa Institut, München

Günther Schultze
Abt. Arbeits- und Sozialforschung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Dieter Schwulera
Mitarbeiter der Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen

Eberhard Seidel-Pielen
Journalist, Berlin


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

Previous Page TOC