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Cornelia Schmalz-Jacobsen
Einwanderungsland Deutschland - Zum Zusammenleben von Deutschen und Ausländern


Es fällt mir nach den Geschehnissen dieser letzten Tage, nach den Morden von Solingen und den Beinahe-Morden von Hattingen, sehr schwer, meine Gedanken so weit zu sammeln, daß ich zu Ihnen heute über das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern im Einwanderungsland Deutschland sprechen kann.

Dieses Zusammenleben, daß sich über die Jahrzehnte der Migration nach Deutschland bei allen Defiziten immerhin doch zu einer ansehnlichen Größe entwickelt hatte, ist in ernsthafte Gefahr geraten. Wir haben nach den beeindruckenden Lichterketten und Solidaritätsveranstaltungen von 1992 wohl allesamt zu früh geglaubt, der Gewalt gegen Ausländer Herr geworden zu sein. Daß dies ein voreiliger Trugschluß war, hat sich jetzt auf schreckliche Weise gezeigt. Ich habe mit Unverständnis und einiger Sorge verfolgt, wie in der Berichterstattung über die Morde von Solingen die anfängliche These der Einzeltäterschaft sogleich auch als Beruhigungspille für die Gesamtgesellschaft verwendet wurde. Deshalb möchte ich es einmal überspitzt formulieren: Ich halte es fast für schlimmer, wenn hinter den Gewalttaten kein strammes rechtsextremes Weltbild steht, sondern sie Ausdruck einer sinnentleerten Hohlköpfigkeit, von Aggressivität aus Langeweile und Frustration sind. Denn das zeigt, daß Intoleranz und Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft tiefer reichen, als nur in die Köpfe einer kleinen Minderheit von Rechtsextremisten mit Parteibuch. Um so schwerer ist es, die Ursachen dieser offenen Gewaltbereitschaft genau auszumachen und systematisch anzugehen. Es hilft uns herzlich wenig, ständig nach schärferen Gesetzen zu rufen. Damit bekämpft man nicht die Ursachen der Gewalt, und es schützt auch nicht die Opfer.

Ich befürchte, wir werden manche Grundstrukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens neu überdenken müssen, wenn wir dauerhaft die Gewalttätigkeit eindämmen wollen. Sie ist ganz offensichtlich keine bloße Modeerscheinung, sondern ein Symptom gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, die nicht über Nacht zu korrigieren sein werden. Es scheint so, als ob wir die liberale Meßlatte für Selbstverwirklichung und Individualität zu hoch gehängt haben. Sind wir mittlerweile über das Ziel größtmöglicher Freiheit des Einzelnen hinausgeschossen? Der Individiualismus stößt jedenfalls dort an sein Limit, wo er beginnt, auszuarten in blanken Egoismus, in die Unfähigkeit zum Kompromiß und zu Toleranz. Wo sich Haltlosigkeit und Beliebigkeit ausbreiten, ist der Weg nicht weit zu Desorientierung, Frustration, Aggressivität, zur Suche nach "Schuldigen" für die eigene Unzufriedenheit. Wir haben uns möglicherweise allzusehr auf das Ideal der Selbstbestimmung konzentriert, ohne darauf zu achten, daß Selbstentfaltung ohne Anleitung, ohne gesellschaftliche Kontrolle selbstzerstörerisch enden könnte. Es gibt, so hat es Claus Leggewie einmal formuliert, eine "Familienähnlichkeit" zwischen der ganz "alltäglichen" Gewalt, die schon an den Schulen bedenklich um sich greift, und der Gewalt gegen Ausländer. Und es ist nicht so, daß diese Gewalt nur ein "proletarisches" Potential hätte. Wenn von der Auflösung sozialer Milieus die Rede ist - und damit haben wir es in einer Zeit der Vereinzelung und Entsolidarisierung fraglos zu tun -, dann gehört dazu auch die Erkenntnis, daß die Grenzen zwischen einer Randgruppen-Gewalt und einer gesamtgesellschaftlichen Aggressivität fließend verlaufen. Dagegen gibt es keine sofort wirksamen Patentrezepte, die ungeschehen machen würden, was gesellschaftspolitisch über Jahre versäumt worden ist.

Die jüngsten Gewalttaten sollten auch den letzten von uns aus dem Schneckenhaus politischer und sozialer Behaglichkeit aufscheuchen. Und damit meine ich nicht nur, daß wir vom Kollektiv der Lichterketten auch zur individuellen Zivilcourage finden müssen. Das sagt sich sehr leicht, viel leichter, als es in die Tat umzusetzen ist. In der augenblicklichen Situation ist nichts so wichtig wie eine eindeutige Politik, die es nicht mit dem Ruf nach dem starken Staat bewenden läßt. Auch wenn es bereits abgedroschen klingen mag: Die mörderische Gewalt gegen Ausländer sollte uns vor allem endlich aufschrecken aus der pädagogischen Gleichgültigkeit. Statt schul- und bildungspolitische Substanz immer weiter abzubauen, gleichzeitig aber die pädagogische Verantwortung der Lehrer anzumahnen, sollten wir dringend zusätzliche bildungspolitische Substanz schaffen. Das Lernen von Toleranz, Rechtsbewußtsein und auch interkultureller Zusammengehörigkeit verträgt keine Politik des Rotstifts. Auch das ist in der Tat leichter gesagt als getan, aber es sollte, nein, es muß gelingen, für diese Zukunftsinvestition politische Mehrheiten zu finden. "Sonderprogramme" der Jugendarbeit, die üblicherweise dann wieder auslaufen, wenn sie gerade erst beginnen, Früchte zu tragen, reichen eben nicht aus. Und solange die Jugendarbeit ohnehin allzugern noch "unter sich" bleibt und vermeintlich Rechtsradikale ausgrenzt, wird es noch schwerer fallen, diese jungen Menschen überhaupt zu erreichen. Dabei sind wir gefragt, uns vor allem um die Jugendlichen, die an der Schwelle zwischen passiver und aktiver Gewaltbereitschaft stehen, intensiver als bisher zu kümmern. Angesichts der Mordtaten von Solingen wird es manchen von uns unangenehm berühren, aber diese Jugendlichen sind ein Teil unserer Gesellschaft. Wir müssen gesellschaftlich, wir dürfen nicht allein strafrechtlich mit ihnen umgehen. Und Jugendpolitik darf nicht erst dann im Mittelpunkt stehen, wenn sich "Unnormales", Unfaßbares ereignet hat. Wenn erst dies Aufmerksamkeit erzeugt für Probleme, die viele Jugendliche mit uns, unserer Gesellschaft haben, dann wird das Unnormale, das Radikale, schnell zum Normalen. Deshalb noch einmal mein Appell: Lösen wir uns von der schlicht zu einfachen Vorstellung, das Gewaltproblem allein rechtsstaatlich und polizeilich bewältigen zu können. Wir brauchen ein weiterreichendes, auf langfristige Wirkung hin angelegtes Konzept, keine ad-hoc-Aktionen. Daß schwächliches Auftreten von Polizei und Justiz Wasser auf die Mühlen der Gewalttäter und ihrer Sympathisanten gibt, ist offenkundig. Aber die bestehenden Gesetze reichten, wenn sie denn ohne formaljuristische Spitzfindigkeiten angewendet würden, sehr wohl aus, das strafrechtlich Nötige zu tun. Es handelt sich weniger um ein Problem der Rechtsetzung denn der Rechtsprechung.

Ich habe nach Solingen aber auch mit Unverständnis und Sorge verfolgt, daß vielfach der Blick auf das Geschehene schnell durch die Bilder gewalttätig randalierender türkischer Gruppen verstellt worden ist. In einem Fernsehinterview bin ich dreimal zu dem anscheinend so brisanten Gewaltpotential unter Ausländern in Deutschland befragt worden, aber nur beiläufig zu den Möglichkeiten, den Ausländerhaß zu bekämpfen. Ich will nicht hoffen, daß dies Teil einer neuen Ablenkungsstrategie werden wird. Diese Gegengewalt sollte für uns vielmehr das letzte Alarmsignal sein, endlich auch ausländerpolitisch auf die Vorfälle zu antworten. Bei vielen jungen Ausländern ist der Rückzug in den Fundamentalismus leider auch ein Reflex auf die bis heute von uns verweigerte vollständige Integration. (Daß es vor allem unter den hier lebenden Türken auch eine Reihe radikaler politischer Extremisten gibt, steht auf einem anderen Blatt.) Es darf nicht passieren, daß diese nach Orientierung suchenden ausländischen Jugendlichen dauerhaft zu Fremden im eigenen Land werden, daß sie in einem bindungsleeren Raum zwischen dem Land ihrer Eltern und ihrer Heimat Deutschland gefangen sind. Diese Gefahr droht aber, wenn wir, die Gesellschaft, die handelnden Politiker, uns nicht endlich einen Ruck geben und glaubwürdige Integration praktizieren. Jeder Soziologe weiß, was passiert, wenn Minderheiten ihr angebliches Fremdsein, ihre Nicht-Zugehörigkeit, immer und überall vor Augen geführt wird. Das Interesse an Integration nimmt ab, eine Phase des Einigelns und der Ghettobildung beginnt, die schließlich darin endet, daß auch die Integrationsfähigkeit verschwindet. Das hätte für unsere ganze Gesellschaft fatale Folgen, die wir uns überhaupt nicht leisten können. Es reicht deshalb nicht aus, die eigene Sehnsucht nach Unschuld am Geschehenen durch hehre Worte an die Adresse der sogenannten "ausländischen Mitbürger" stillen zu wollen. Und selbst dazu haben wir uns recht spät bequemt.

Auch die Hemmschwelle für die ganz alltägliche, subtile, nicht gewalttätige Fremdenfeindlichkeit ist in den letzten Jahren merklich niedriger geworden. Es gibt ein sehr bewußtes, aber auch ein automatisiertes Diskriminierungsbedürfnis vieler, gerade sozial angeschlagener Menschen. Und es reagiert sich mit Vorliebe an denen ab, die auch tatsächlich gewohnheitsmäßig - rechtlich - diskriminiert sind. Dem müssen deutliche Signale der politischen wie auch gesellschaftlichen Integrationsbereitschaft entgegengesetzt werden. Daß die erleichterte Einbürgerung, die Doppelstaatsbürgerschaft, die Gewalt gegen Ausländer nicht verhindern kann, liegt auf der Hand. Sie deshalb aber erst gar nicht in Erwägung zu ziehen, ist allerdings zu kurz gedacht in einer Situation, in der die bei uns lebenden Ausländer auf ein unmißverständliches Zeichen warten, daß sie auch nach unserer Meinung zu uns gehören.

Ich denke, daß das Angebot der Doppelstaatsbürgerschaft dieses Zeichen sein kann. Mir sind natürlich die Bedenken bekannt - Loyalitätskonflikte, doppelte Inpflichtnahme, Rosinenpicken - aber sie wirken letztlich allesamt ein wenig konstruiert. Das Argument Loyalitätskonflikte unterstellt ein Ausmaß an Bindung an das Herkunftsland, das in aller Regel überhaupt nicht mehr gegeben ist. Wer den Großteil seines Lebens in Deutschland verbracht hat, steht ganz sicher nicht vor Loyalitätskonflikten. Das Problem einer doppelten Inpflichtnahme ließe sich relativ leicht durch zwischenstaatliche Abkommen regeln. So gibt es zum Beispiel zwischen der Türkei und Deutschland bereits ein Abkommen, wonach die Türkei den Wehrdienst eines jungen Deutsch-Türken in der Bundeswehr auch anerkennt. Ähnlich könnte auf anderen Feldern verfahren werden. Die Gefahr des Rosinenpickens ließe sich durch solche bilateralen Vereinbarungen ebenfalls gering halten, zumal ich ohnehin für das Modell der aktiven und der ruhenden Staatsbürgerschaft plädiere. Das heißt, in dem Land, das nicht Lebensmittelpunkt ist, ruhen die Rechte und Pflichten und sie treten auch nicht einfach durch bloßes Hin- und Herreisen auf der Suche nach den "Rosinen" wieder in Kraft.

Das Zusammenwachsen Europas läßt die Bedeutung der Staatsbürgerschaft ohnehin zurückgehen. Gleichzeitig bringt dieses Zusammenwachsen Jahr für Jahr neue binationale Ehen mit sich. Kinder aus diesen Ehen sind automatisch Doppelstaatler, ohne daß dies jemand bedenklich fände. Es gibt längst zahllose Doppelstaatsbürger in Deutschland; das ist so selbstverständlich, das bereitet so wenige Probleme, daß über sie nicht einmal eine Statistik geführt wird. Warum sperren wir uns also noch länger gegen diese Möglichkeit? Wir würden damit für viele Menschen eine Brücke bauen, ohne uns damit in irgendeiner Weise zu schaden. Und wir dürfen auch nicht die Brückenfunktion unterschätzen, die diese Doppelstaatler selbst wiederum einnehmen. Sie sind ein Bindeglied unserer Gesellschaft zu anderen Nationen und Völkern. Wir gäben mit dem Angebot der Doppelstaatsbürgerschaft letztlich nichts aus der Hand, sondern unsere Gesellschaft insgesamt würde davon profitieren.

Nur am Rande will ich in diesem Zusammenhang hinweisen auf die Problematik, die aus dem Vertrag von Maastricht zur Europäischen Union resultiert. In Zukunft werden EG-Bürger an ihrem jeweiligen Wohnort innerhalb der Gemeinschaft das kommunale Wahlrecht haben, selbst wenn sie gerade erst zugezogen sind. Demgegenüber werden selbst langjährig hier lebende oder gar hier geborene Nicht-EG-Bürger weiterhin außen vor bleiben. Das wird Schwierigkeiten aufwerfen und Spannungen zwischen Ausländern erster und zweiter Klasse erzeugen, die wir nicht wünschen können. Wie wollen Sie einem seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland lebenden Türken erklären, daß er von den Kommunalwahlen ausgeschlossen bleiben soll, sein vor zwei Monaten eingereister portugiesischer Arbeitskollege aber sofort daran teilnehmen darf? Der politische Handlungsbedarf ist auch hier unübersehbar. Und ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei zu überlegen, ob wir nicht allen bei uns lebenden Ausländern nach einer Mindestaufenthaltsdauer von fünf oder acht Jahren das Kommunalwahlrecht einräumen sollten. Auch vor diesem Hintergrund, meine ich, kann die Frage der erleichterten Einbürgerung ihren "Schrecken" verlieren; die Doppelstaatsbürgerschaft ist nichts Unanständiges, vor dem man sich fürchten müßte wie der Teufel vor dem Weihwasser.

Wir müssen uns immer wieder einmal vor Augen halten, wie lange die meisten Ausländer schon in Deutschland leben: über 60 % länger als 10 Jahre, über 45 % länger als 15 Jahre, über 25 % länger als 25 Jahre. Aber sind sie oder die vielen jungen Ausländer, die hier geboren sind, also eigentlich als Deutsche gelten könnten, deshalb "Mit-Bürger"? Mitbürger ist, wer neben seinen Pflichten auch Rechte hat, und das kann von den ausländischen Mitbürgern nur sehr eingeschränkt behauptet werden. Was ihre Pflichten angeht, so haben wir sie ohne viel Federlesens längst zu Inländern gemacht. Denken Sie allein an den Solidaritätszuschlag, der ab 1995 auch die Ausländer unter uns wieder beglücken wird. Es ist hohe Zeit, daß diesen Pflichten Schritt für Schritt auch entsprechende Rechte gegenübertreten.

Damit auf einen Schlag die völlige Gleichberechtigung zu erreichen - das ist sicherlich unrealistisch. Denn diese äußert sich eben nicht nur in rechtlicher Gleichstellung. Dazu gehört auch die Normalität des alltäglichen zwischenmenschlichen Umgangs. Hier liegen noch viele Probleme. Vorbehalte und Schwierigkeiten des Miteinanders aus falsch verstandener Ausländerfeindlichkeit nicht anzusprechen, sondern ständig das Klischee vom "guten" Ausländer zu bemühen, führt zur Verkrustung dieser Voreingenommenheit, weil die Wirklichkeit eine andere ist. Das Zusammenleben ist fraglos keine Jubelfeier ohne Ende, es ist ein oft schwieriger, viel gegenseitige Toleranz erfordernder Prozeß des gegenseitigen Kennenlernens. Und manche Hindernisse sind nicht politikgemacht oder von "ausländerfeindlichen" Deutschen aufgestellt. Auch auf Seiten vieler Ausländer selbst gibt es so manches Defizit an Integrationsbereitschaft, so manchen Vorfall überstrapazierter oder mißbrauchter Gastfreundschaft. Das soll nicht verschwiegen werden. Integration ist denn auch keine Einbahnstraße, auf der immer nur die Deutschen vorangehen müßten. Aber es muß von einer Gesellschaft, in der über 6,5 Mio. Ausländer zu Hause sind, schon verlangt werden können, von sich aus ein wirklich substantielles Integrationsangebot bereitzuhalten. Für die einen sollte dies die konkrete Perspektive einer Einbürgerung ohne den Zwang zur Aufgabe der ursprünglichen Staatsangehörigkeit beinhalten, für die anderen, die noch nicht so lange in Deutschland leben, sollte zumindest ein Ausländergesetz gelten, daß den Alltag nicht zum Hindernisrennen mit eingebauten Schikanen macht, wie es zur Zeit noch der Fall ist.

Gegenwärtig lassen sich aber nach wie vor zahlreiche diskriminierende Erfahrungen in der Biographie fast jedes einzelnen Ausländers bei uns, ob hier geboren, ob jung oder alt, nachverfolgen. Sei es auf dem Wohnungsmarkt, sei es bei der Suche nach einem Kindergartenplatz oder einer geeigneten Schule für die Kinder; sei es bei den täglichen Behördengängen, bei der Arbeitsplatzsuche, beim Arbeitsplatzschutz, bei der Hochschulzulassung, beim BaFöG, bei dem Versuch, eine Kfz- oder private Haftpflichtversicherung abzuschließen usw. Eigentlich ist es müßig, Toleranz und Solidarität im täglichen Umgang von Deutschen und Ausländern einzufordern, wenn noch nicht einmal diese rechtlichen Benachteiligungen beseitigt werden.

An jedem Punkt stößt man irgendwann an die ominöse Schwelle des Ausländergesetzes und bleibt daran womöglich hängen. Und der Außenstehende macht sich keinen Begriff davon, weil es ihn oder sie als Deutsche nun einmal nicht betrifft. Der "Behördenkultur" stehen die Ausländer, ja sogar erfahrene Anwälte, manchmal machtlos gegenüber. Wenn der Amtsschimmel wiehert und sich behördliche Pferdefüße in den Weg stellen, wie etwa zu spät verlängerte Ausweise oder Aufenthaltserlaubnisse, dann führt das oft ganze Familien in Rechtsunsicherheit und Unruhe. Hier wäre der Gesetzgeber aufgerufen, zügig für Abhilfe zu sorgen. Schwierigkeiten gibt es schon bei der Visumerteilung, von der Aufenthaltsberechtigung ganz zu schweigen. Auch die Rückkehrfrist, also das Recht jugendlicher Ausländer, nach vorübergehendem Aufenthalt im Heimatland der Eltern in die Bundesrepublik zurückzukehren, ist viel zu eng gefaßt. Davon sind vor allem junge Frauen betroffen, die von ihren Eltern zum Heiraten in die "Heimat" zurückgeschickt werden, deren Ehen aber sehr häufig scheitern und denen dann oft die Rückkehr in ihre wirkliche Heimat Deutschland verbaut ist. Ausländische Frauen sind ohnehin in besonderem Maße die Leidtragenden der rechtlichen Benachteiligung. Sind sie mit einem deutschen Ehepartner verheiratet und scheitert diese Verbindung an der Gewalttätigkeit des Ehemannes - solche Fälle treten in erschreckend großer Zahl auf, sie sind nicht konstruiert -, so muß die Frau entweder mit der Abschiebung rechnen oder sie muß die Ehe über die vorgesehene Mindestdauer von drei bzw. vier Jahren oft unter verheerenden Bedingungen aufrecht erhalten, bevor sie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für sich und ihre Kinder bekommt, das nicht an die Ehe gebunden ist. Man kann sich die Not der Frauen ausmalen, und auch die Hilfsangebote von Sozialdiensten und Frauenhäusern können nicht helfen, wenn die Rechtslage keinen Ausweg bietet.

Bisher fehlt es auch an Ausnahmeregelungen im Bereich des Ehegatten- und Familiennachzuges. Da dieser integrationspolitisch überaus wertvoll ist, sollte davon Abstand genommen werden, prinzipiell erst eine lange Liste von Anforderungen erfüllen zu müssen, bevor der Nachzug überhaupt in Frage kommen kann. Ausschlaggebend sollte die Sicherung des Lebensunterhaltes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel sein, und nicht bürokratische Hürden, die derart hoch sind, daß selbst der oftmals kapitulieren muß, der nur als Tourist zu deutschen Freunden reisen will. Auch das ist nicht aus der Luft gegriffen. Leider gehört es zu meinem täglichen Brot, mich auch mit solchen Fällen herumzuschlagen. Und es ist bedrückend bis peinlich zu sehen, daß manches Mal nur der Ausweg bleibt: der Besuch der verhinderten deutschen Gastgeber in der Türkei oder sonstwo, wo der Gastfreundschaft nicht solche Fallen gestellt werden. Die zwischenmenschliche Normalität, von der wir immer reden, ist ohne die Beendigung der rechtlichen Randposition letztlich nicht zu erreichen. Das Miteinander in klugen Reden einzufordern, es aber rechtlich weiter zu verhindern, macht politisch unglaubwürdig.

Bitte sehen Sie es mir nach, daß ich meine Bemerkungen zum Status Deutschlands als Einwanderungsland sehr knapp halte. Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß ich für ein Einwanderungs(begrenzungs-)gesetz plädiere, um den Zuwanderungsdruck wie auch den Zuwanderungsbedarf steuern zu können. Den Migrationsdruck werden wir durch geschlossene Tore und eine restriktive Asylpraxis nicht einfach abschaffen. Er wird bestehen bleiben, wird sich womöglich gar weiter aufstauen und im gleichen Maße zusehends nach einer politischen Regelung verlangen. Davor den Kopf in den Sand zu stecken und mit der Wirklichkeit der Einwanderungssituation ein Versteckspiel zu betreiben, ist nicht mehr als ein Selbstbetrug zum eigenen Schaden. Dies vor allem mit Blick auf den galoppierenden Alterungsprozeß unserer Gesellschaft, der letztlich unser gesamtes soziales System in Frage stellen wird. Es wäre in einer auf Anspruchs- und Wohlstandsdenken getrimmten Gesellschaft naiv zu glauben, wir könnten allein mit den Mitteln der Familienpolitik - die ja gegenwärtig eher noch gekürzt werden - eine Umkehr dieses Trends erreichen. Deshalb werden wir auch in Zukunft auf ein gewisses Maß an Zuwanderung angewiesen sein.

Zu warnen ist allerdings davor, diesen Umstand als Kernargument der Ausländerfreundlichkeit zu erheben. Denn auch die Zuwanderung ist eben kein Allheilmittel gegen die "Vergreisung" der Deutschen. Auch die Migranten werden älter, auch sie belasten eines Tages die Rentenkassen. Durch dauerhafte dosierte Zuwanderung würde das Problem lediglich vertagt, und bestenfalls zum Perpetuum mobile gemacht. Umgekehrt wäre eine Zuwanderung in dem Ausmaß, das notwendig wäre, um den Bevölkerungsrückgang aufzuhalten, sozial nicht verkraftbar. Deshalb müssen eindeutige familienpolitische Weichenstellungen hinzukommen, von denen aber, wie von einer geregelten Einwanderungspolitik, noch keine Spur zu entdecken ist.

Ich möchte doch noch einmal auf die mühsamen Erklärungsversuche für das Unerklärliche der ausländerfeindlichen Gewalt zurückkommen und einige Gedanken vortragen, von denen ich gar nicht einmal weiß, ob sie allesamt richtig sind, über die ich aber gern mit Ihnen diskutieren würde. Hat nicht der Wegfall des politischen Ost-West-Gegensatzes auch uns Deutsche vor eine ganz neue Situation der Umorientierung, der Ortsbestimmung gestellt? Auch Deutschland ist nach dem Ende dieser Epoche ein anderes, neues Land geworden, ohne daß wir uns dessen bis heute so recht bewußt geworden sind. Wir haben auf vielfältige Weise zu lernen, damit umzugehen, nicht nur außenpolitisch, woran die meisten von uns zuerst denken. Und wir haben es eben bisher nur unzureichend gelernt, was zu einer verbreiteten Unsicherheit beigetragen hat. Wir müssen immer noch lernen, mit der deutschen Einheit umzugehen. Und wir müssen lernen, die neue Offenheit, das Ende einer durch die politische Freund–Feind-Abgrenzung vorgegebenen Identität zu akzeptieren. Offenbar fällt uns das ganz besonders schwer. Offenbar bereitet die Perspektive einer offenen, unübersichtlichen Gesellschaft, überhaupt das Neue, Ungewohnte, vielen Menschen Angst. Eine Angst, die sich rechte Rattenfänger sehr leicht zunutze machen können.

Deshalb ist es wichtig, in dieser neuen Situation auch eine Wertediskussion zu führen, neue Werte zu bestimmen, alte auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Es macht keinen Sinn, über den Werteverlust unter jungen Menschen zu lamentieren, wenn wir es doch selbst waren, die sich seit langem einer solchen gesellschaftlichen Debatte um verbindliche Grenzwerte und Normen - dazu gehört nach wie vor auch der Stellenwert des Nationalen - entzogen haben. Hier ist derart viel nachzuholen, daß wir damit dringend beginnen sollten. Daß wir uns mit der Situation Deutschlands als Einwanderungsland so unendlich schwer tun, ist für diese Orientierungsschwierigkeiten bezeichnend. Mit ihr haben wir nicht umzugehen gelernt, sondern haben sie über Jahre tabuisiert. "Die Einwanderung, die es nicht gibt, kann man nicht regeln, und da es sie doch gibt, sucht sie einen dann heim". So haben es Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid in "Heimat Babylon" treffend formuliert. Ein weites Feld zum Lernen tut sich hier auf, ein weites Feld für Information und Aufklärung. Auch der Zusammenhang von Einwanderung und Einbürgerung muß uns noch klarer werden. Es ist unvernünftig bis fahrlässig, Minderheiten von Generation zu Generation "mitzuschleppen", wenn man sie, ohne dafür eigene Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, zumindest rechtlich aus dieser Randgruppen-Situation herausbringen könnte. Die Forderung "Ausländer raus", die etwa in den USA selbst dem eingefleischtesten Rassisten nicht in den Sinn käme, fällt bei uns manchen Menschen auch deshalb so leicht, weil "die Ausländer" so schön abgrenzbar, so eindeutig ohne Rechte, so eindeutig ohne rechtlichen Schutz sind. Daran muß sich etwas ändern, und zwar nicht erst übermorgen.

Und zum Schluß mein ceterum censeo: All diese Fragen zwischen Einwanderung und Integration werden sich dauerhaft nicht von einer ehrenamtlichen Ausländerbeauftragten ohne eigene Kompetenzen, dafür mit einer Handvoll von Mitarbeitern zwischen allen Stühlen sitzend, bewältigen lassen. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir in Zukunft zur Gründung eines eigenen Bundesministeriums für Migration und Integration werden kommen müssen, um den drängenden Fragen auch institutionell besser gerecht werden zu können. Auch das wäre ein Zeichen, daß wir beginnen, die ausländerpolitischen Herausforderungen und unsere gesellschaftliche Verantwortung ernst zu nehmen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

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