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Peter Borscheid:
Vom verdienten zum erzwungenen Ruhestand.
Wirtschaftliche Entwicklung und der Ausbau des Sozialstaates


Arthur E. Imhof hat das heutige Alter als „gesichert" bezeichnet, was heißen soll, daß in Mitteleuropa fast alle Menschen die kalendarische Altersgrenze erreichen. Das menschliche Leben wird nicht mehr zum größten Teil frühzeitig „verschwendet", so daß erstmals in der Geschichte für den einzelnen eine weitgehend verläßliche Lebensplanung möglich wird. Damit ist die erste der grundlegenden Neuerungen des modernen Alters im 20. Jahrhundert angesprochen.

Die zweite besteht in der Verallgemeinerung des Ruhestands. Wer heute eine bestimmte Altersgrenze überschritten hat, scheidet bzw. muß aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Das Modell der lebenslangen, extensiven Arbeit ist einem Modell gewichen, bei dem die Erwerbsphase von der Ausbildungs- und der Altersphase in die Zange genommen, zusammengepreßt und intensiviert wird.

Die dritte Neuerung erleben wir in der jüngsten Vergangenheit mit der Aufspaltung der Nacherwerbsphase in drei deutlich voneinander abgrenzbare Lebensabschnitte, wobei gerade die Pflegephase historisch weitgehend neu ist. Noch im 19. Jahrhundert schlug der Tod zumeist rasch zu, wenn der Körper aus welchen Gründen auch immer geschwächt war.

Die vierte große Neuerung des 20. Jahrhunderts betrifft die Problematisierung des Alters. Das Alter ist unter vielerlei Gesichtspunkten zu einem Problem geworden, besonders aber die Altersversorgung. [Conrad 1994, S. 398.]

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Die Entstehung des Ruhestandes

Der Kultur der west- und mitteleuropäischen Gesellschaft war bis ins 19. Jahrhundert hinein der Ruhestand fast völlig fremd. Geläufig war dagegen eine Reduzierung der Arbeit entsprechend dem Nachlassen der Körperkräfte oder als Folge partieller Invalidität. Die Teilhabe am Arbeitsleben sicherte dem einzelnen in Verbindung mit der Leitung eines eigenen Haushalts bestimmte Rechte und gesellschaftliches Prestige. Der Rückzug aufs Altenteil oder die Inanspruchnahme von Armenhilfe führten dagegen zu einer Minderung dieser Rechte und des öffentlichen wie innerfamilialen Ansehens. [Borscheid 1989, S. 320ff.]

In Verbindung mit rechtlichen Beschränkungen, Altenteile einzurichten, der begrenzten Tragfähigkeit der Höfe sowie der relativ geringen Lebenserwartung blieb der arbeitsfreie Lebensabend auf dem Lande vor Mitte des 19. Jahrhunderts die große Ausnahme, ebenso im städtischen Gewerbe. Da zudem die Heiratserlaubnis meist an eine freie Erwerbsstelle gebunden war, mußten die Jüngeren warten, bis der ältere Stelleninhaber gestorben war. Mit der lebenslangen Arbeit entfiel zumeist auch die Notwendigkeit einer Altersversorgung, und die Vermögen flossen meist von der älteren in Richtung der jüngeren Generation.

Die Geschichte des modernen Ruhestands begann im 19. Jahrhundert, als die höheren Staatsbeamten das Recht auf Pensionierung gegenüber den Landesherren durchsetzten, auch um zu demonstrieren, daß sie den Adel in der Leitung des Staates abgelöst hatten. Es war dies ein Recht auf einen bezahlten Ruhestand, aber keine Verpflichtung zum Rückzug aus dem Erwerbsleben. Ähnlich verfuhren die höheren Angestellten. Als sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr reichere Bauern und in der Folgezeit auch Teile des mittleren Bürgertums für den Ruhestand entschieden, wirkte der Anstieg des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes als auslösendes Moment. Als Grundlage der materiellen Alterssicherung diente auf dem Land die Naturalversorgung, die die Altenteiler aber an den Ort band und das Miteinander der Generationen vor manche Probleme stellte. Für die Absicherung der übrigen Bevölkerung wurde ein breitgefächertes Instrumentarium entwickelt: Lebensversicherungen, Tontinen, Wertpapiere und Sparbuch. Hinzu kamen ältere Formen wie Leibrenten oder Immobilien. Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert war dies eine private Altersversorgung, Produkt eigener Leistung und Wahl.

Die öffentliche Altersversorgung blieb dagegen wie schon seit Jahrhunderten in Form der Armenhilfe weiter existent, sie diente als allerletzter Rettungsanker. Noch konnte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, vor allem der Arbeiterschaft, die Möglichkeit, alt zu werden, ignorieren. Es bestand weiterhin eine größere Wahrscheinlichkeit, bereits in jungen Jahren zu sterben. Wer dennoch wider Erwarten alt und invalide wurde und ohne Hilfe von Angehörigen dastand, konnte auf öffentliche Hilfe rechnen, die aber lediglich einen Minimalbedarf abdeckte. Ein Vergleich zwischen der Altersversorgung des 19. und des ausgehenden 20. Jahrhunderts offenbart den tiefen historischen Bruch, der inzwischen eingetreten ist. Im 19. Jahrhundert sicherten die Menschen ihren Ruhestand so ab, wie dies noch heute die Freiberufler tun. Dagegen ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung heute im Alter von staatlichen Transfereinkommen abhängig – ähnlich wie die arbeitsunfähigen Armen vor diesem Jahrhundert. Die Autonomie hat der Abhängigkeit Platz gemacht. [Conrad 1994, S. 399.]

Bismarck selbst hat bei der Planung der staatlichen Rentenversicherung noch nicht an eine derartige Revolution der Absicherung im Alter gedacht. Er wollte vielmehr nur den invaliden Fabrikarbeitern – und nur diesen – helfen und betrachtete die eigentliche Altersversicherung als ein Instrument der Rationalisierung im Rahmen der Invaliditätsversicherung. Nach dem 70. Lebensjahr entfiel automatisch der aufwendige Nachweis der Arbeitsunfähigkeit. Die Einführung dieser Rente war mit keinerlei finanziellem Risiko verbunden. Sie beruhte – sieht man von den Übergangsregelungen ab – auf dem Kapitaldeckungsverfahren und wurde fällig, wenn der durchschnittliche Arbeiter – statistisch gesehen – bereits 10 Jahre tot war. [Demographische Daten bei: Hubbard 1983, S. 117f.]

Darüber hinaus waren die Renten nicht als Lohnersatz, sondern als Beihilfe gedacht, um die nachlassende Arbeitskraft zu kompensieren. Dabei hofften Politiker und Wirtschaft, die Arbeiter würden den Rest ihrer Arbeitskraft der Landwirtschaft zur Verfügung stellen, die über „Leutemangel" klagte.

Drittens sollte die gesamte Sozialversicherung an die Stelle der diskriminierenden Armenhilfe treten, um den Arbeiter ein Stück mehr in die Gesellschaft zu integrieren. Auch hierbei spielte der Gedanke der Rationalisierung eine Rolle.

Letztendlich machte die Einführung einer gesetzlichen Rentenversicherung für Arbeiter kurz vor der Jahrhundertwende erstmals Sinn, weil die durchschnittliche Lebenserwartung nun erkennbar anstieg und sich gleichzeitig der Anteil der über 60jährigen erhöhte. [1871/80 hatte die Lebenserwartung der Männer (Frauen) bei der Geburt im Deutschen Reich 35,6 (38,4) Jahre betragen, 1901/10 waren es bereits 44,8 (48,3) Jahre. Hubbard 1983, S. 117.]

Es bleibt auf die Geschlechterdimension hinzuweisen: Die Sozialversicherung war ganz im Gegensatz zu den vielen Kassen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts und auch den Lebensversicherungen nicht auf die Bedürfnisse der Frauen zugeschnitten, sondern von der Arbeitswelt her konzipiert. Sie kam denen entgegen, die eine lange Erwerbsbiographie vorweisen konnten, also in erster Linie den Männern. Erst die Einführung der Witwenrente kurz vor dem Ersten Weltkrieg hat die finanziellen Probleme der Witwen etwas gemildert. Dabei gilt es zu beachten, daß die Feminisierung des Alters noch weit von dem heute erreichten Grad entfernt war. In den zwanziger Jahren wies die geschlechtsspezifische Lebenserwartung im Erwachsenenalter erst einen Unterschied von einem Jahr auf.

Schon Bismarck hatte bei der Planung der staatlichen Rentenversicherung nicht der Versuchung widerstehen können, die Rentenempfänger für parteipolitische Zwecke zu ködern. In einem Brief an den bayerischen Gesandten in Berlin schrieb er 1880, es habe ihn schon immer fasziniert, „was ein schlecht bezahlter Beamter nur wegen einigen hundert Mark Pension sich von seinen Vorgesetzten gefallen ließe". Mit Hilfe einer Altersversorgung könne man „den Arbeiter in eine ähnliche Lage wie den Beamten versetzen". [Abdruck in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. 1994, S. 599.] Dieser Mißbrauch der staatlichen Rentenversicherung für versicherungsfremde Zwecke hat sich bis in die Gegenwart auf verschiedene Art fortgesetzt.

Während das Alter bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum problematisiert wurde, auf jeden Fall aber weit hinter anderen Themen wie soziale Lage der Arbeiter, Kinderarbeit oder Arbeiterschutz rangierte, nahm im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts der Diskurs über das Alter erstmals konkrete Gestalt an. Die Beiträge und Impulse kamen aus den unterschiedlichsten Richtungen. Wissenschaftler wiesen unter Führung des Vereins für Socialpolitik auf die rückläufigen Arbeitslöhne älterer Arbeiter hin sowie auf deren Probleme bei der Arbeitsplatzsuche. [Weber 1912, S. 377-405.] Die demographische Entwicklung mit dem Rückgang der Fruchtbarkeit entfachte gleichzeitig die Furcht vor dem „Aussterben der Deutschen" und der „Vergreisung" der Gesellschaft. Seit etwa 1900 wurden die Alten „zur immer rascher wachsenden Minderheit". [Conrad 1994, S. 92.] Die Mediziner interpretierten schon seit dem 19. Jahrhundert das Alter ganz offen als Krankheit, die es zu beseitigen galt. [Schmortte 1990, S. 15-42.] Die stationäre Altenversorgung baute unter dem Einfluß der Hygienebewegung und vieler technischer Neuerungen auf völlig neue Konzepte. [Borscheid 1995c, S. 259-279.] Gleichzeitig ließ der sektorale Wandel der Wirtschaft im neuen Jahrhundert den Anteil und die Zahl der landwirtschaftlich Beschäftigten, die sich extrem spät zur Ruhe setzten, rasch zurückgehen. Entsprechend stieg der Anteil der Arbeiter, die aufgrund harter Arbeitsbedingungen und einer weitergehenden Intensivierung der Arbeit relativ früh arbeitsunfähig wurden, deutlich an. Kurzum: Das Alter wurde aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln heraus zum Problem, und es wurde problematisiert.

Der darauf aufbauende Diskurs über das Alter hat seit der Jahrhundertwende, gestützt auf den wachsenden Wohlstand, den qualitativen Ausbau der staatlichen Rentenversicherung, der betrieblichen Altersversorgung und auch der Lebensversicherung vorangetrieben. In den Jahren von Weimar wirkten dagegen die wirtschaftlichen Probleme als Katalysator. Fortan wurde der Staat für immer mehr Menschen zum eigentlichen Garanten von Einkommen und Gesundheitsversorgung im letzten Lebensabschnitt. Als Folge von Weltkrieg und Inflation standen vor allem die Älteren oft vor dem Nichts. Der Rentier, der bei sparsamer Lebensführung für sein Alter vorgesorgt hatte, um von seinem Geldvermögen zu leben, sah sich um den Lohn von Fleiß und Sparsamkeit gebracht. Der Arbeiter, der über Jahrzehnte in die Rentenkasse einbezahlt hatte, bekam wertloses Geld zurückbezahlt. Ähnlich erging es den Angestellten. Die Not dieser Menschen, die ohne eigenes Verschulden wie Bettler an den Staat herantreten mußten, hat im übrigen viel zur Vergiftung des politischen Klimas in der ersten Republik beigetragen. Staat und Politiker wurden nämlich verantwortlich gemacht für den Verlust des angesparten Vermögens.

Während der Weltwirtschaftskrise hat die Verallgemeinerung des Ruhestandes und die Abhängigkeit der älteren Generation von staatlichen Transferzahlungen eine weitere kräftige Beschleunigung erfahren. Die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer fiel bis 1935 schlagartig auf 28,6% ab, während der Anteil der Rentenempfänger an den über 65jährigen steil anstieg. [Ehmer 1990, S. 109, 137.] Die staatliche Rentenversicherung diente jetzt nicht mehr nur dazu, Erwerbsunfähige zu versorgen, sondern mit ihrer Hilfe wurden erstmals bestimmte Gruppen von Erwerbsfähigen vom Arbeitsmarkt genommen. Vor allem die Älteren wurden vom Arbeitsmarkt verwiesen, als sich die Zahl der Arbeitsplätze auf dramatische Weise verknappte. Während bis zum Ersten Weltkrieg der wachsende Volkswohlstand die Ausweitung des Ruhestandes finanziell trug, wurde in Weimar die Wirtschaftskrise zum auslösenden Moment.

Insgesamt war in den zwanziger Jahren eine verhärtete Einstellung der Gesellschaft gegenüber den alten Mitmenschen nicht zu übersehen. Seitdem den Beamten noch in der Inflationszeit untersagt worden war, länger als bis zum 65. Lebensjahr zu arbeiten, traf dieses Verbot seit Ende des Jahrzehnts immer mehr Gruppen. Das war neu. Die Aufwertung der Jugend in Kunst, Werbung und Sport bei gleichzeitigem Prestigeverlust des Alters hat diese wirtschaftliche Abwertung der Älteren wesentlich begünstigt. [Tölle 1996, S. 178ff.] Eine wissenschaftliche Begründung fand der erzwungene Ruhestand in den Ergebnissen der jungen Arbeitswissenschaft, deren Kompetenz vor allem während der Rationalisierungsdebatte gefragt war. Die Gruppe der älteren Arbeiter mußte sich von ihr als weniger effizient stigmatisieren lassen. Sie zählten fortan zum „alten Eisen". [Laslett 1995, S. 46-54.] Die ältere Generation büßte in diesen Jahren viel von ihrer Freiheit ein: Alt war jetzt, wer ein vom Gesetzgeber festgesetztes Alter erreicht hatte, alt war nicht mehr nur der Arbeitsunfähige. [Borscheid 1995a, S. 159f.]

Das meist gewaltsame Hinausdrängen der Älteren aus dem Erwerbsleben zu Beginn der dreißiger Jahre ist dennoch nicht gleichzusetzen mit einer Verallgemeinerung des Ruhestandes, da die Rente noch immer nur als Beihilfe konzipiert war. Typisch für die Zwischenkriegszeit blieb ein sehr individuell gestaltetes Alter. Der einzelne versuchte sich mit einer Vielzahl an Einkommensquellen und mit großem Energieaufwand über Wasser zu halten. Es war dies eine gemischte Ökonomie. [Conrad 1995, S. 66.] Nebenerwerb, Ersparnisse, Gartenbau, Ausgedingeverträge, Hilfe der Kinder, betriebliche Altersversorgung und Sozialrente bildeten die wichtigsten Eckpfeiler. Die Älteren waren weiterhin zu Selbstvorsorge und Selbstversorgung gezwungen. Es wäre falsch, die Zwischenkriegszeit nur an der geringen Höhe der Renten zu beurteilen. Dies würde dem Selbstverständnis des Alterns in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht gerecht. Alterssicherung setzte sich noch immer aus einem Bündel an Einkommen, persönlichen und materiellen Hilfen zusammen.

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Der Ruhestand im „Wohlfahrtsstaat"

Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Staat mit Einführung der Rentenversicherung vorrangig auf den quantitativen Anstieg der Lohnarbeiter und deren Probleme bei Invalidität geantwortet. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gehen Entscheidungen dagegen in erster Linie von dem wirtschaftlichen Strukturwandel mit seinen Wachstumsphasen und Krisen aus, mit einiger zeitlicher Verzögerung dann auch von den demographischen Veränderungen: dem Anstieg der Lebenserwartung, der geschlechtsspezifischen Schere, der Ausweitung des Ruhestandes, der Ausprägung der Pflegephase, den rückläufigen Kinderzahlen und der damit verbundenen Verlängerung der Phase des „leeren Nestes", schließlich der explosionsartigen Zunahme der Einpersonenhaushalte. Auf den damit verbundenen Problemdruck hat der Staat seit den fünfziger Jahren durch Auf- und Ausbau staatlicher Institutionen gestaltend eingegriffen. Die Altersphase geriet seitdem immer mehr unter den Einfluß wohlfahrtsstaatlicher Programme.

Schon mit der Währungsreform von 1948 hatte die Regierung die Weichen ganz eindeutig in Richtung Staatsversorgung gestellt. In der Öffentlichkeit ist die Abwertung der privaten Lebensversicherungen unter Einschluß aller zur Befreiung von der Sozialversicherungspflicht abgeschlossenen Verträge auf ein Zehntel ihres Nennwertes bei gleichzeitiger Umstellung der Sozialrenten im Verhältnis 1:1 als deutliches Signal verstanden worden. Kaum einer der Privatrentner hat damals begriffen, warum die Sozialrentner in den Genuß einer ungekürzten Umstellung kamen, während gerade die ältesten Privatrentner und -versicherten die höchste Abwertung erfahren mußten. Die traditionelle Wertordnung wurde umgekehrt. Private Vorsorgebemühungen wurden im Vergleich zu staatlich erzwungenen bestraft. In der frühen Bundesrepublik Deutschland waren die meisten Selbständigen folglich genötigt, ihre Erwerbstätigkeit weit über das 65. Lebensjahr hinaus fortzuführen. [Borscheid 1993, S. 16-19.]

Auf der anderen Seite war schnelle und wirksame Hilfe für die Sozialrentner dringend angebracht. Schon in den dreißiger Jahren hatte sich die Zahl der Einkommensquellen zur Absicherung des Alters verringert, erst recht im Krieg und während der Trümmerjahre. Die Fürsorge bildete immer öfter den letzten Halt. In der frühen Bundesrepublik zählten die Sozialrentner zu den Ärmsten der Armen. Ältere erfaßte eine fast panische Angst vor dem Rentenalter. Hier war der Staat gefordert, zumal die Zahl der Renten- und Unterstützungsempfänger über die Kriegsjahre stark zugenommen hatte. 1933 waren es 18,3% der Bevölkerung gewesen, 1953 bereits 26,9%. [Hockerts 1980, S. 205.] Noch vor Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957 hat die erste Regierung Adenauer die Arbeiter- und Angestelltenrenten durch eine ungefähre Angleichung an den Anstieg der Brutto-Löhne dynamisiert.

Die massive Bevorzugung der über den Staat Abgesicherten hatte den alten Streit zwischen Eigenverantwortung und Fremdbestimmung, Freiheit und Zwang, Selbsthilfe und Unmündigkeit in der frühen Bundesrepublik neu entfacht. Die Versicherungspresse warnte damals davor, aus „freien Bürgern" „soziale Untertanen des Staates" zu machen. Zwar war unbestritten, daß die moderne Industriegesellschaft neue Formen der sozialen Absicherung aufbauen müsse, die deutschen Vorstellungen von „sozialer Sicherheit" liefen aber vorrangig auf eine Verstaatlichung der Sozialeinrichtungen hinaus. Das Alter wurde in der Bundesrepublik fortan als ein staatlich versorgter Ruhestand gesehen.

In dieser Entwicklung fiel der Einführung der dynamischen Rente im Jahre 1957 eine Schlüsselstellung zu. Bei der Vorbereitung des Gesetzes sollte es vorrangig darum gehen, Ordnung in das Sozialversicherungsrecht zu bringen, den Einsatz der Mittel effizienter zu gestalten und die Not der Rentner längerfristig zu beheben. Die Sozialleistungen sollten endgültig vom Geruch der Armenhilfe befreit und weitere Bevölkerungsgruppen in das staatlich geknüpfte Sozialnetz einbezogen werden. Adenauer dachte an alle Angestellten und auch die Selbständigen, um die finanzielle Basis zu verbreitern. Eine Einheitsversicherung nach britischem Muster kam nicht in Frage, weil dieser Plan von der SPD stammte und eine beträchtliche Umverteilung von „oben" nach „unten" nach sich gezogen hätte. Im übrigen plädierten in der Endphase der Beratungen auch die FDP und die privaten Lebensversicherer für diesen Plan, um Schlimmeres zu vermeiden. [Dazu Borscheid 1993, S. 41-49.]

Da aber die Bundestagswahl näher rückte, war an eine umfassende Reform nicht zu denken. Aus der beabsichtigten Sozialreform wurde eine Rentenreform, die auf dem „Solidar-Vertrag zwischen zwei Generationen" beruhte, wie ihr geistiger Vater, Wilfrid Schreiber, formulierte. Schreiber hatte ein Konzept entwickelt, das ohne Staatszuschüsse auskam, weil der Staat – wie er sagte – sich nicht in die „durchaus unverdiente Gloriole des sozialen Wohltäters" hüllen sollte. Schreiber war sich der tückischen langfristigen Wirkungen eines Generationenvertrags, so wie er schließlich zustande kam, durchaus bewußt. Ihm war klar, daß die Mitglieder der Sozialversicherung versuchen würden, ihren individuellen Nutzen zu maximieren. Für ihn stand fest, daß sich viele vor der Finanzierung der für den Bestand der Versicherungsgemeinschaft notwendigen Zukunftsinvestitionen drücken und auf die übrigen Mitglieder verlassen würden. Dieser Gefahr versuchte Schreiber mit Hilfe einer „Kinder- und Jugendrente" zu begegnen. Er plante also neben der knappen finanziellen Absicherung der Älteren eine Prämierung von Zukunftsinvestitionen der Familien, d.h. von Investitionen in die Erziehung und Ausbildung von Kindern. Schreiber wollte die Bildung von Humankapital belohnen, um auch in Zukunft ein innovatives, dynamisches und soziales Wirtschaften zu gewährleisten. Adenauer hat diesen wichtigen Flügel des Gesamtkonzepts mit der lapidaren Bemerkung, die Deutschen würden immer Kinder bekommen, kurzerhand amputiert. Schon damals hat Oswald von Nell-Breuning dieses einseitige Konzept in weiser Voraussicht als eine „Prämierung der Kinderlosigkeit" bezeichnet. Er sollte recht behalten. [Ebd., S. 50.]

Angesichts des demographischen Wandels wird heute neben der „Prämierung von Kinderlosigkeit" noch ein weiterer Fehler der bundesdeutschen Rentenformel deutlich. Diese berücksichtigt zwar teilweise die jeweilige Wirtschaftskonjunktur, indem sie den Dynamisierungsgrad der Renten an die Lohnentwicklung koppelt, sie bietet aber keinen ausreichenden Schutz gegen ein verändertes numerisches Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern. Fachleute haben schon in den fünfziger Jahren von einer „Schönwetterformel" gesprochen. Die demographische Komponente schlägt heute ebenso wie Massenarbeitslosigkeit voll auf die Beitragshöhe durch. Genau aus diesem Grund sind die alten Witwen- und Waisenkassen der vorindustriellen Zeit immer wieder zusammengebrochen. Sie waren für die erste Generation der Leistungsempfänger attraktiv, konnten bei stetiger Erhöhung der Zahl der Mitglieder ihre Leistungen halten, kollabierten jedoch, als die Zahl der Leistungsempfänger zwangsläufig anstieg und eine Ausweitung des Kreises der Beitragszahler nicht mehr gelang. Für potentielle neue Mitglieder war ein Nutzen nicht mehr erkennbar, als sich das Verhältnis von Beitrags- zu Rentenhöhe deutlich zuungunsten letzterer verschob. In der Zeit der Aufklärung hatte man als Reaktion auf genau diese Probleme die Lebensversicherung entwickelt, die mit ihrer Technik u.a. das Problem einer rückläufigen Zahl von Beitragszahlern löste und zusätzlich die Bildung von Sachkapital vorantrieb. Obwohl dieses Verfahren nach den Währungsreformen von 1923/24 und 1948 und aufgrund der gewaltigen Versicherungssumme nicht zur Anwendung kommen konnte, hat man es 1957 versäumt, gegen das wechselnde Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern eine wirksame Sicherung einzubauen.

Als ebenso nachteilig erweist sich, daß das System der gesetzlichen Altersversorgung keinen Schutz vor politisch bedingten Manipulationen enthält. Dies war und ist um so gefährlicher, als in der Bundesrepublik soziale Konflikte kaum einmal ausgetragen, sondern „präventiv durch Ausweitung der Leistungssysteme … entschärft" wurden. Der „Gefälligkeitsstaat" der Bundesrepublik nahm 1956/57 seinen Anfang. Er animierte zu einer immensen „Leistungsgefräßigkeit" – so Hans-Peter Schwarz. Die sogenannte Altershilfe für Landwirte – schon 1957 eingerichtet – war ein erstes Beispiel. Die dynamische Rente wurde in der Bevölkerung schnell akzeptiert, weil sie bei stetigem Wirtschaftswachstum und einer Senkung des Renteneintrittsalters den momentanen und zukünftigen Leistungsempfängern immer neue Vorteile brachte, vor allem denjenigen, die sich bewußt für Kinderlosigkeit entschieden. [Ebd., S. 51.] Dabei wurde von der Bevölkerung übersehen, daß die Rentensteigerungen der sechziger und siebziger Jahre zum Teil nur aufgrund einer Ausweitung des Kreises der Beitragszahler möglich waren. Die Fehler des Systems wurden offenkundig, als die Zahl der Beitragszahler nicht mehr künstlich zu erhöhen war. Auch hier sind die Parallelen zu den Kassen des 18. Jahrhunderts frappierend.

Der amerikanische Politologe Charles S. Maier hat kürzlich vermerkt, die Regierungen aller westlichen Länder hätten sich die Zustimmung ihrer Wähler „erworben", indem sie Ressourcen einsetzten, über die sie nicht verfügten. Auch dies wurde durch das für Manipulationen offene System der gesetzlichen Rentenversicherung begünstigt. Es sei nur an die Rentenreform des Jahres 1972 erinnert, als die Politiker den Verlockungen nicht widerstehen konnten, Mittel der Rentenversicherung als Wahlgeschenke zu verteilen, obwohl diese Mittel überhaupt nicht vorhanden waren und nur von einem überirdischen Zaubermeister hätten herbeigeschafft werden können. Im Jahre 1972 entstand bei der fünfzehnjährigen Vorausberechnung der Rentenfinanzen auf dem Papier eine Reserve von knapp 200 Milliarden DM, weil Mitglieder aller Bundestagsfraktionen in einem wahren Wettlauf um das höchste Endergebnis von einem jährlichen Lohnzuwachs von 11% bis zum Jahre 1978 ausgingen und für das folgende Jahrzehnt von jährlich 8%. [Ebd., S. 85f.] Das Schlaraffenland wurde wahr – aber nur auf dem Papier und den Wahlplakaten dieser einen Legislaturperiode. Die Rentner sind zwar 1972 in den Genuß einer höheren Rente gekommen, mit deren Finanzierung wurde jedoch die damalige und zukünftige Generation der Beitragszahler belastet. Obwohl schon damals Fachleute auf den anstehenden demographischen Wandel und die damit verbundenen finanziellen Probleme hinwiesen, obwohl man schon damals mit der Vorsorge hätte beginnen müssen, um die wachsenden Belastungen zeitlich zu strecken, wurde eine weitere Hypothek auf die Zukunft aufgenommen.

Damit nicht genug. Als mit der 1. Ölkrise die Jahrzehnte der Massenarbeitslosigkeit begannen, wurde die Rentenversicherung wie schon in der Weltwirtschaftskrise erneut zur Behebung von Arbeitsmarktproblemen eingesetzt. Die Älteren mußten sich wiederum mit mehr oder weniger Druck in den Ruhestand zwingen lassen. Die Pressionen auf die ältere Generation nahmen erneut zu. Auch hier wurde der Generationenvertrag für Zwecke mißbraucht, die im Vertragstext nicht vorgesehen waren. Obwohl der Ausbau des Ruhestandes nur auf der Grundlage eines wachsenden Volkswohlstandes möglich war und ist, wurde er wiederholt auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten und zur Behebung der Krisen ausgeweitet. Als Folge dieses Widerspruchs werden sich die Belastungen der Zukunft weiter erhöhen. Längerfristig wird sich ein weiterer Umstand nicht weniger negativ zu Buche schlagen: Dadurch, daß ein Großteil der Bevölkerung in immer jüngeren Jahren in einen relativ komfortablen Ruhestand gedrängt wurde, entstand der fatale Eindruck, es erübrige sich eine individuelle, eigenständig getroffene Altersvorsorge. Die Bevölkerung stützt sich im Ruhestand heute primär auf ein System der gesetzlichen Altenfürsorge unter Vernachlässigung einer eigenen Altersvorsorge. Fürsorgezahlungen münden jedoch vorzugsweise im Konsum, während mit Hilfe der Vorsorge zukunftssichernde Sachinvestitionen getätigt werden. Das in der Bundesrepublik praktizierte staatliche Rentensystem hat die Bildung sowohl von Human- wie auch von Sachkapital nicht eben begünstigt. Meinhard Miegel hat wiederholt darauf hingewiesen. [Zuletzt in: Borscheid 1995c, S. 145-148.] Es sollte auch zu denken geben, daß früher Eigentum, Geld und Vermögen eindeutig von den Älteren in Richtung zu den Jungen flossen, heute ist es dagegen umgekehrt, wobei die Ausbildung der Pflegephase diese Richtungsänderung noch verstärken wird.

Die momentanen wirtschaftlichen Probleme, vor allem die Massenarbeitslosigkeit, belasten die gesetzliche Rentenversicherung enorm. Hier ist zunächst anzusetzen, um zu vermeiden, daß im neuen Jahrhundert wirtschaftliche und demographische Probleme nicht kulminieren, während gleichzeitig die Zinsverpflichtungen für die in der Vergangenheit aufgenommenen Hypotheken fällig werden. Die Rentenreform des Jahres 1992 hat zwar die neue Richtung aufgezeigt, doch ist sie nur der Anfang einer Reihe schmerzlicher Einschnitte bis zum Jahre 2020/30. Die ganze Rechnung wird uns aber erst präsentiert, wenn die demographischen Prozesse zu Beginn des neuen Jahrzehnts voll durchschlagen werden.

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Literatur

Borscheid, Peter (1989): Geschichte des Alters. Vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert, München.

Borscheid, Peter (1993): Mit Sicherheit leben. Die Geschichte der deutschen Lebensversicherungswirtschaft und der Provinzial-Lebensversicherungsanstalt von Westfalen, Bd. 2, Münster.

Borscheid, Peter (1995a): Altern gestern und heute, in: Der Bürger im Staat 45, H. 4, S. 159f.

Borscheid, Peter (Hrsg.) (1995b): Alter und Gesellschaft, Stuttgart.

Borscheid, Peter (1995c): Vom Spital zum Altersheim, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.): Die Stadt als Dienstleistungszentrum, St. Katharinen, S. 259-279.

Conrad, Christoph (1994): Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen.

Conrad, Christoph (1995): Alterssicherung zwischen Familie und Sozialstaat, in: Hans-Ulrich Klose (Hrsg.): Demographische Investitionen für Humankapital und soziale Risikobegrenzung, Bonn.

Ehmer, Josef (1990): Sozialgeschichte des Alters, Frankfurt a.M.

Hockerts, Hans Günter (1980): Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, Stuttgart.

Hubbard, William H. (1983): Familiengeschichte, München.

Laslett, Peter (1995): Das Dritte Alter, Weinheim/München.

Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914 (1994). I. Abt., 1. Bd.: Grundfragen staatlicher Sozialpolitik, bearb. von Florian Tennstedt und Heidi Winter, Stuttgart/Jena/New York.

Schmortte, Stefan (1991): Alter und Medizin, in: Archiv für Sozialgeschichte 30, S. 15-42.

Tölle, Domenica (1996): Altern in Deutschland 1815-1933, Grafschaft.

Weber, Alfred (1912): Das Berufsschicksal der Industriearbeiter, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 34, S. 377-405.


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