ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

François Beilecke/Katja Marmetschke (Hrsg.), Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock (Intervalle, Schriften zur Kulturforschung, Bd.8), Kassel University Press, 809 S., brosch., 34 €.

Es gehört zu den zentralen Verdiensten von Hans Manfred Bock, eine historisch-soziologisch orientierte und komparatistisch angelegte Intellektuellenforschung in der deutschen Wissenschaftslandschaft seit Anfang der 1990er-Jahre wesentlich vorangetrieben zu haben. Der Intellektuelle wird hierbei weniger als ein freischwebender Akteur (Karl Mannheim), sondern vielmehr als ein Produkt spezifischer historischer, politischer, kultureller und sozialer Konstellationen betrachtet. Trotz unterschiedlicher Forschungsansätze gegenwärtiger Intellektuellenforscher - seien sie eher sozialhistorischer Art und der Soziologie Pierre Bourdieus verpflichtet (Christoph Charle) oder politikhistorischer Provenienz (Jean-François Sirinelli/Pascal Ory), ist man sich in der neueren Intellektuellenforschung über den Entstehungszeitraum des spezifischen Sozialtyps des Intellektuellen einig. (1) Es ist die während der 1890er-Jahre entbrannte Affäre um den unschuldig verhafteten jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus gewesen, die zahlreiche Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler dazu veranlasst hat, gegen seine unrechtmäßige Verurteilung und allgemein gegen die Verletzung der Menschenrechte einzutreten. Berühmt geworden ist in dieser Affäre das Manifest ,,J'accuse" des Schriftstellers Emile Zola. Die Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler, die Dreyfus verteidigten, wurden von der Rechten polemisch als Intellektuelle bezeichnet. Aus dem (erfolgreichen) Einsatz der Intellektuellen für Dreyfus erklärt sich die folgende Definition, die nach langjährigen Kontroversen eine gewisse Plausibilität beanspruchen kann: Als ,,Intellektuelle" sind Menschen zu bezeichnen, die wissenschaftlich, künstlerisch, religiös, literarisch oder journalistisch tätig und qualitativ ausgewiesen sind, die in die öffentlichen Auseinandersetzungen und Diskursen kritisch oder affirmativ intervenieren und Position beziehen; ohne dabei an einen bestimmten politischen, ideologischen oder moralischen Standort gebunden zu sein. Intellektuelle kann es folglich in unterschiedlichen politischen Lagern oder Strömungen sowie innerhalb und außerhalb institutioneller Bindungen geben.

Hans Manfred Bock, dem der Sammelband Der Intellektuelle und der Mandarin gewidmet ist, richtet sein Augenmerk vor allem auf die sozio-kulturellen Sozialisationsinstanzen der Intellektuellen, auf ihr ,,politisch-kulturelles Itinerarium". Dabei spielt weniger eine konzeptlose Rekonstruktion der Lebenswege der Intellektuellen eine Rolle, sondern es dreht sich, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort ausführen, vielmehr um eine systematische Erfassung der Sozialfigur des Intellektuellen in einer bestimmten politik-historischen Epoche und nationalspezifischen politischen Kultur, für die drei Analyseebenen von Bedeutung sind (S. 13 f.): Erstens die sozialstrukturellen Entwicklungsbedingungen (Herkunftsmilieus, schulische Sozialisation), zweitens die politische Generationszugehörigkeit (Rekonstruktion der politischen Schlüsselereignisse einer Alterskohorte) und drittens die informellen Gruppenbildungen (Kreise, Zirkel, Zeitschriften, Verlagshäuser etc.).

Folgt man diesen Analyseebenen, so ergeben sich unterschiedliche Bilder von Intellektuellen. Sie sind nicht nur Kritiker der Mächtigen, sondern es gibt genauso viele, die sich der Macht andienten. Ebenso wirken Intellektuelle auch als politische Stichwortgeber oder als Vermittler zwischen den Nationen und setzen folgenreiche Kulturtransfers in Gang. Darüber hinaus gilt es, die wechselseitigen Beziehungen zwischen nationalspezifischen politischen Kulturen und den darin agierenden Intellektuellen zu verstehen und zu erklären (S. 14).

Der vorliegende Band setzt sich das hochgesteckte Ziel, diese Bandbreite an Erkenntnismöglichkeiten der neueren Intellektuellenforschung anhand ausgewählter Beispiele zu illustrieren. Um es gleich vorwegzunehmen: Diesem Anspruch ist man mit einer beeindruckenden Vielfalt an Untersuchungen mehr als gerecht geworden und es kommen dabei nahezu alle führenden Vertreter der neueren Intellektuellenforschung zu Wort.

Der Band teilt sich in drei Teile: 1. ,,Meisterdenker revisited", 2. ,,Der Intellektuelle und der Mandarin in seiner Zeit" und 3. ,,Intellektuelle und Mittler im deutsch-französischen Spannungsfeld". Im ersten Teil kommen bedeutende Sozial-und Geisteswissenschaftler zur Sprache, die (noch) heute die Rolle eines intellektuellen Meisterdenkers inne haben wie beispielsweise Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Max Weber, Carl Schmitt, Nicos Poulantzas, Martin Heidegger oder die école de régulation. Zwei Beiträge sollen hier in knapper Form exemplarisch angesprochen werden.

Besondere Relevanz für die neuere Intellektuellenforschung kommt - wie François Beilecke in seinem instruktiven Beitrag dargelegt - den Intellektuellen-Netzwerken zu. Die Ansammlung von Intellektuellen ist selbst eine soziale Tatsache (fait social) und somit soziologisch erforschbar. Grundlegend für die Konstituierung von intellektuellen Gruppierungen sind Begegnungsorte und sozio-kulturelle Gemeinschaftsbildungen. Man denke nur an die Bedeutung der Pariser Cafés für die Surrealisten und Existenzialisten. Ein Netzwerk ist in dem hier verstandenen Sinne eine ,,Menge von informellen und relativ stabilen Beziehungen zwischen sozialen Akteuren", die wiederum aus ganz unterschiedlichen Einheiten (z.B. Familie, Vereine, Zeitschriften, Organisationen, Individuen) bestehen können (S. 55). Intellektuelle bilden Netzwerke und konstituieren sich vor deren Hintergrund. Sie nutzen sie darüber hinaus als Ressource, ,,um als politischer Akteur das Verhalten von Individuen und Institutionen zu verändern bzw. auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu gewinnen" (S. 64). Im Gegensatz zu den an Bourdieu orientierten Forschungen wird das intellektuelle Feld durch den Netzwerkbegriff nicht auf ein agonistisches ,,Spiel" von Machtstrategien reduziert, mit Hilfe derer die unterschiedlichen Akteure ihre Werte und Normen durchsetzen und legitimieren wollen. Vielmehr lassen sich unterschiedliche Relationen der Intellektuellen, beispielsweise zu anderen Gruppierungen oder gesellschaftlichen Feldern (Politik, Ökonomie, Religion etc.), in den Blick nehmen, ohne diesen Beziehungen von vornherein eine machtstrategische Komponente zu unterstellen.

Bourdieu selbst rückt im Beitrag von Lothar Peter in den Mittelpunkt der Betrachtung. Peter zeigt detailliert auf, inwiefern Bourdieu eine Zwischenstellung zwischen der von Jean-Paul Sartre verkörperten Position eines ,,totalen Intellektuellen" und der von Michel Foucault vertretenen Position eines ,,spezifischen Intellektuellen" einnimmt. Aus dieser Zwischenstellung heraus entwickelt Bourdieu - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der seit Sartres Engagement veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse - sein eigenes Selbstverständnis als Intellektueller, das er mit der Position des ,,korporatistisch-universellen Intellektuellen" umschreibt. Die unterschiedlichen Positionen werden von Peter auf höchst informative Weise mit den politischen und sozio-kulturellen Prozessen in Frankreich verknüpft und dadurch erst richtig verständlich.

Die Intellektuellen sind Bourdieu zufolge als Akteure der kulturellen Felder wie Wissenschaft, Musik, Literatur, Kunst und Musik von denjenigen Akteuren, die utilitaristischen und zweckrationalen Handlungsmotiven folgen, zu unterscheiden, da ihnen im Gegensatz zu diesen eine relative Interessenlosigkeit gegenüber Macht, Geld und Prestige eigen ist. Die Interessenlosigkeit der Kulturproduzenten bildet die Grundlage eines intellektuellen Habitus und des Korporativismus. Korporativismus bedeutet, dass der Intellektuelle auf seinem spezifischen Feld ein gewisses Maß an Autonomie und Autorität erlangt hat. Wenn er diese Autorität dann für universale Werte wie Freiheit, Vernunft und Menschenwürde einsetzt, bezeichnet man ihn nach Bourdieu als korporativistisch-universellen Intellektuellen. Er selbst hat versucht, dieses intellektuelle Selbstverständnis zu leben und ,,die unter einer immer totaler werdenden materiellen und symbolischen Gewalt leidende Welt nicht aus der bequemen Loge wertneutraler Unberührtheit zu beobachten oder in Talkshows durch schicke Medienrhetorik zu verschleiern, sondern dieser Gewalt mit der Waffe des ,Korporativismus des Universellen' einen unversöhnlichen Kampf anzusagen", so Peter (S. 88).

Der zweite Teil des Bandes gilt der Eingebundenheit der Intellektuellen in ihre Zeit. Die Beiträge dieser Rubrik befassen sich mit den Entwicklungsbedingungen und politischen Rollen ausgewählter Intellektueller bzw. Intellektuellengruppen. Sie zeigen deren Prägungen durch ,,nationalkulturelle Kontexte" (politische Traditionen, akademische Sozialisation), ,,existentielle Erfahrungen" (Krieg, Faschismus, Widerstand, 68er-Bewegung) und durch ,,politikhistorische Konstellationen ihre Epoche" auf (S. 17). Zur Sprache kommen hier unter anderem so unterschiedliche Intellektuelle wie Botho Strauß, Renate Mayntz, Robert Scharpf, Anne Heurgon-Desjardins, Arnold Zweig, Benno Reifenberg, Bernhard Groethuysen, Benedetto Croce, Jorge Semprún und Lucien Lévy-Bruhl.

Der dritte Teil des Sammelbandes behandelt die Rubrik ,,Intellektuelle und Mittler im deutsch-französischen Spannungsfeld". Intellektuelle werden hierbei als vermittelnde zivilgesellschaftliche Akteure im transnationalen Kulturtransfer begriffen. Von diesen Akteuren werden behandelt: Joseph Rovan, Gilbert Ziebura, Raymond Schmittlein, Edmond Vermeil, Eugen Ewig, Theodor Heuss, Jean-Richard Bloch, Klaus Mann, Heinrich Mann und Félix Bertaux, Romain Rolland und Hermann Hesse, Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II. von Preußen; darüber hinaus werden thematisiert: deutsch-französische Jugendliche und das Lektorenprogramm des DAAD. Abgerundet wird die umfangreiche Festschrift mit einer Bibliografie von Hans Manfred Bock.

Den Herausgebern ist mit Der Intellektuelle und der Mandarin ein großer Wurf für die neuere Intellektuellenforschung in Deutschland gelungen, der für die zukünftige wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sozialfigur des Intellektuellen eine unerlässliche Fundgrube darstellt, sowohl was die methodologische als auch inhaltliche Ausrichtung angeht. Kritisch anzumerken ist vielleicht die große Bandbreite und Heterogenität an Beispielen und politischen Kulturen, die im Band zur Sprache kommen. Aber vielleicht ist dies auch gerade seine Stärke.

Stephan Moebius, Freiburg


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