Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Zwei neue Biografien über den Hamburger Reeder Albert Ballin unternehmen den dankenswerten Versuch, eine Deutung dieses zentralen Industriellen im deutschen Kaiserreich vorzulegen. Dieses Unterfangen ist insofern begrüßenswert, als die Forschungslage über Albert Ballin bislang lückenhaft ist. Neben den aus der Perspektive des Zeitzeugen verfassten Schriften von Bernhard Huldermann und Peter Franz Stubmann ist auf die ältere Forschungsarbeit von Lamar Cecil zu verweisen. Eine neuere biografische Gesamtuntersuchung von Renate Hauschild-Thiessen trägt von ihrem Umfang her lediglich den Charakter einer Skizze. [1]
Die Journalistin Susanne Wiborg, die auch eine Arbeit zur Geschichte der Hapag-Lloyd mit verfasst hat, schreibt über Ballin: "Dieser kosmopolitische Deutsche jüdischen Glaubens, der Topmanager, der mit dem Kaiserreich starb, verkörperte wie kaum jemand sonst die Zwiespältigkeit seines Vaterlandes, seiner Gesellschaftsschicht, seiner Epoche: Den steilen, nie für möglich gehaltenen Aufstieg, den blendenden Erfolg, die untergründigen Zweifel und schließlich das schreckliche Ende. Es war eine deutsche, eine jüdische und es war vor allem anderen eine hamburgische Karriere."[2]
Die mit diesem Leitmotiv verknüpften Fragen und die hieraus erwachsenden Chancen, darauf Antworten zu versuchen, erweisen sich im Folgenden als überwiegend ungenutzte Erkenntnismöglichkeiten. Während dem Leser eine Vielzahl psychologisierender Einschätzungen des visionären Unternehmers und Menschen Albert Ballin gegeben werden, die bis zur Beurteilung seiner Handschrift reichen (S. 68), vermisst man an vielen Stellen die Einordnung seines Lebenswerkes in größere Zusammenhänge. Es mag ein Problem der Quellenlage sein, wenn über das Familienleben Ballins wenig auszusagen ist. Dann allerdings sollte dies auch benannt werden.
Auf den latenten Antisemitismus in Hamburg wird verwiesen. Auch Ballins Furcht vor dem Judenhass wird kurz erwähnt. Wenn jedoch der Leser mit dem Zitat des Reeders konfrontiert wird, die Hansestadt bräuchte 10.000 Juden mehr unter ihren Bewohnern, so wartet man vergeblich auf eine Erläuterung dieses durchaus bemerkenswerten Satzes (vgl. S. 67 f., 73 ff., 78). Beschränkt sich Ballins jüdische Identität wirklich nur auf nationale Gesinnung und Angst vor Judenfeindschaft?[3]
Welches Bild von den Aschkenazim besitzt ein Mann, der an der Organisation osteuropäisch-jüdischer Auswanderung maßgeblich beteiligt ist? Wird Ballin stets in seinem Kontakt zu Wilhelm II. geschildert, so erhält man nahezu keinerlei Informationen, dass zeitgleich auch Max Warburg oder Emil Rathenau immediaten Zugang zum deutschen Kaiser haben.[4]
Wie steht Ballin zu ihnen? Weiß man von Max Warburgs Versuchen, sich in der Hamburger Politik zu engagieren, so bleibt die Frage nach vergleichbaren Bemühungen Ballins unbeantwortet. Wiborg erweckt mit ihrer Behauptung Wilhelm II. habe Ballin eindeutig zum Nachfolger des Reichskanzlers Bernhard von Bülow machen wollen, beim Leser Zweifel.[5]
Gerne hätte man besonders an dieser Stelle einen Beleg gehabt. Doch leider verzichtet das Buch gänzlich auf Fußnoten. Für die Vorkriegs- wie für die Kriegszeit wären ausgeprägtere Analysen der politischen Bemühungen Ballins jenseits seiner Vermittlungsbestrebungen gegenüber Großbritannien in den Vorkriegsjahren und zu Kriegsbeginn sowie des Aufbaus der Kriegsernährungswirtschaft wünschenswert gewesen.[6]
Ein Gewinn wäre auch die Einordnung der Unternehmensstrategie Ballins in die Konzentrationsbestrebungen der deutschen Industrie seit der Jahrhundertwende gewesen. Welches Verhältnis zur verarbeitenden Industrie sucht Ballin bei seinen Vermittlungsversuchen zwischen Felix Deutsch und Walther Rathenau innerhalb der Konzernführung der AEG 1912 und 1915?[7]
Was für Ambivalenzen bestimmen Ballin bei der zusammen mit der Schwerindustrie vollzogenen Gründung der Deutschen Werft zum Ende des Ersten Weltkrieges? Einerseits werden Rohstoffreserven und Kapitalkraft der Schwerindustrie gesucht. Andererseits befürchtet Ballin mit dem Eintritt von Hugo Stinnes in den Aufsichtsrat der Hapag Ende 1916 einen zu starken Einfluss des Schwerindustriellen auf die Reederei.[8]
Schließlich: So erfrischend sich der gut lesbare Stil der Journalistin zwischen den zahlreichen Texten einer kruden Wissenschaftssprache ausnehmen mag, er sollte nicht allzu sehr in die Umgangssprache abrutschen. Wenn in der Paraphrase einer Äußerung Ballins von "mieser Politik" die Rede ist oder es anderer Stelle heißt: "Ballin hält die gesamte Wilhelmstraße...für ein Reservat unfähiger, adeliger Schwachköpfe...", so kann man das Originalzitat bemühen oder für die eigenen Worte eine andere Ausdrucksform wählen. Trotz vieler offener Fragen sind die Ergebnisse von Susanne Wiborg ein willkommener Baustein zur Erforschung Albert Ballins.
Die Arbeit des Historikers und ehemaligen Redakteurs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Eberhard Straub, die im Siedler-Verlag erschienen ist, zeichnet allerdings ein weitaus differenzierteres Bild Ballins, leider jedoch ebenfalls ohne Anmerkungsapparat. Wenn er schreibt: "Ballin verlor sein Judentum, ohne es möglicherweise je besessen zu haben", so bündelt er in diesem Satz dessen Probleme mit Antisemitismus, Akkulturation, und jüdischer Identität gleichsam aphoristisch.[9]
Der Verfasser analysiert Ballins Sozialposition als Jude und "Neureicher" im Sozialgefüge des hanseatischen Patriziats (S. 137 ff.). Straub vermag Nuancen im gebräuchlichen Bild des weltweit tätigen Reeders Ballin aufzuzeigen, wenn er darauf abhebt, dass dessen Kampf mit der nichtdeutschen Konkurrenz vor dem Hintergrund nationalökonomischer Denkweisen geführt wird (S. 37 ff.). Konzentrationsbestrebungen sollen dabei Reibungsverluste durch internationalen Wettbewerb begrenzen (S. 115, 123 f.). Auch die Probleme der "Randständigkeit" Ballins, der nicht im Zentrum der (Interessen-)Politik in Berlin, sondern in der Hafenmetropole Hamburg seine Aktivitäten entfaltet, werden vom Autor aufgegriffen (S. 45 f., 146, 240 ff.). Diese geographisch bedingten Probleme finden schließlich ihren Ausdruck in der Ernennung Arndt von Holtzendorffs als Interessenwahrer der Hapag in der Reichshauptstadt. Überhaupt gelingt es Straub, das Wirken Ballins mit der Firmengeschichte der Hapag umfassender zu verbinden. Hierbei vermag er auch dessen politische Haltungen, seine nationalliberale Gesinnung, mit der sozialen Gruppenzugehörigkeit als Reeder zu verknüpfen (S. 75 ff.).
Gegenüber osteuropäischen Juden vertritt Ballin das auch für sich selbst propagierte Ideal der Akkulturation (S. 134, 136). Im Kriege nimmt Ballins politisches Interesse zu. Er wird von einem Befürworter des U-Boot Krieges zu dessen Gegner (S. 221 ff.). Sein Widerstand gegen Staatssubventionen wandelt sich in diesen Jahren zur Forderung nach fiskalischer Hilfe für die Reedereien (S. 230, 233). Man hätte sich für diesen Zeitabschnitt, trotz aller gelungenen Darstellung einige zusätzliche Bemerkungen zu den industriellen Aktivitäten Ballins während der Kriegsjahre gewünscht. Vor allem Straubs Werk ist eine weite Verbreitung zu wünschen.
Christian Schölzel, München