Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Joachim Bahlcke, Schlesien und die Schlesier, Verlag Langen Müller, München 1996, 358 S., brosch., 34 DM.

Dieses in der „Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat" als siebter Band erschienene Buch bietet eine Analyse der Geschichte und Kultur Schlesiens aus der Feder von fünf jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Den bedeutendsten Beitrag (die Geschichte der Region von den Anfängen bis 1939) liefert Joachim Bahlcke. Joachim Rogall befasst sich mit der Entwicklung von 1939 bis 1995, wobei für die Zeit nach 1945 weitgehend die deutschsprachige Minderheit (Restgruppe) behandelt wird. Eine knappe Studie zur schlesischen Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert bietet der Beitrag von Reinhard Krämer, einen volkskundlichen Überblick die Studie von Brigitte Bönisch-Brednich. Die sehr kurz gehaltenen Beiträge zur schlesischen Literatur von den Anfängen bis 1945 von Matthias Weber und zur Kunst Schlesiens von Andrea Langer beschließen den Band.

In seiner handbuchartigen Gliederung, die Geschichte, Wirtschaft und Kultur gesondert behandelt, unterscheidet sich dieser Band von der fast gleichzeitig erschienenen Geschichte Schlesiens von Norbert Conrads. Anders ist auch, dass die jungen Wissenschaftler/innen keinen persönlichen Bezug zu dieser historischen Landschaft haben, was weitgehend für die ältere Forschergeneration gilt, die sich bisher mit der Geschichte Schlesiens befasste. Apologetische Darstellungen gehören sowohl auf deutscher wie polnischer Seite langsam der Vergangenheit an; schon gar nicht sind sie in diesem Band zu finden. Nationale oder gar nationalistische Deutungen haben kaum zur Erhellung der schlesischen Geschichte beigetragen, die, wie der Beitrag von Joachim Bahlcke zeigt, eher durch territoriale Zerstückelung und den Dualismus zwischen Ständeherrschaft und habsburgischer Königsmacht als durch nationale Gegensätze bestimmt wurde. Nach der Eroberung durch Preußen unter Friedrich II. (1740) begann die Modernisierung des Landes, die Erweiterung Preußens nach Westen im Anschluss an den Wiener Kongress bescherte Schlesien dagegen eine Strukturkrise, in deren Verlauf der Schlesische Weberaufstand von 1844 zu einem Fanal für ganz Deutschland wurde. Gelungen ist in diesem Beitrag die Kombination von Text und Quellen; letztere werden gekonnt in die Analyse einbezogen. Der Verfasser berücksichtigt für die Zeit nach 1740 auch die Geschichte Österreich-Schlesiens, die sonst in historischen Darstellungen meistens vergessen wird.

Zudem findet sich in diesem Band zum ersten Mal in einer Geschichte Schlesiens, eine detaillierte Darstellung der Weimarer und der NS-Periode. Die Grenzziehung in Oberschlesien nach 1921, in anderen Büchern kaum emotionsfrei abgehandelt, ist hier bestechend nüchtern dargestellt. Wirtschaftliche und Großmachtinteressen werden deutlich, dagegen wird die "Geschichte von unten" mit ihren häufig recht verwirrenden Identitäten ausgeblendet. Zur Lösung des Nationalitätenproblems waren die Nationalstaaten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unfähig, die Hypothek blieb stehen. J. Rogall, der die Katastrophe der deutschen Schlesier nach 1945 als verständliche Folge der deutschen Terror- und Vernichtungsaktionen des Zweiten Weltkriegs deutet, analysiert allerdings wenig distanziert die Zusammenfassung der oberschlesischen Industrieregion unter einheitlicher deutscher Verwaltung als "moderne Großraumplanung" (S. 162), was die NS-Vernichtungsstrategie, die diese "Großraumplanung" bestimmte, nicht erfasst. Der Komplex Vertreibung, die Schlesier als Vertriebene im Westen, ihre Betätigung in Politik, Kultur und Wissenschaft werden angemessen dargestellt, ausführlich auch die Rolle der deutschen Minderheit, die nach der Zwangsausweisung 1949 noch 50.000 Mitglieder zählte. Etwas zu kurz kommt in den historischen Beiträgen, vom Weberaufstand 1844 abgesehen, die Sozialgeschichte, die jedoch im Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte stärker berücksichtigt wird. Hier interessieren vor allem das Lohngefälle zwischen den besser bezahlten Kumpeln an der Ruhr und den weniger gut entlohnten in Oberschlesien wie auch die Schwierigkeiten der Gewerkschaften gegen die "gemeinsame Abwehrfront von Staat, Klerus und Unternehmertum" (S. 238f.).

Interessante Einblicke in das Alltagsleben bietet der volkskundliche Überblick, so zur schwierigen Situation der Abhängigkeit im Rahmen der Gutsherrschaft (nicht der "Grundherrschaft" (S: 250), wie die Verfasserin meint). Da Schlesien zu den "wenig erforschten Gebieten der neueren Volkskunde" bzw. zu den "eklatant vernachlässigten" zählt, wie die Verfasserin eingangs feststellt, kann sie zwar nicht auf neuere Forschungsergebnisse zurückgreifen, jedoch das ältere Material unter einer neuen Fragestellung bearbeiten. Grundsätzlich kommt sie zu anderen Ergebnissen als die der schlesischen Volkskunde der 1920er Jahre. Ob ihr Fazit trägt, dass es sich bei der "Bevölkerung Schlesiens aber nicht um ein autonomes Volkstum [handelt], das eigenständige Regeln abseits adeliger und bürgerlicher Vorstellungen aufbaute und tradierte, sondern eher [um] Menschen, deren Lebensbedingungen und Glaubensvorstellungen beständig von der Obrigkeit bevormundet und reglementiert wurden" (S. 272), bezweifle ich. Die Ergebnisse der Protestforschung, die Berichte der Landräte oder die Klagen der Geistlichkeit zeigen hier ein anderes Bild.

Insgesamt ist dies ein objektives Buch, das mit Schlesien eine im neueren historischen Forschungsdiskurs nur wenig beachtete Landschaft stärker in das allgemeine Interesse zu rücken vermag.

Arno Herzig, Hamburg



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