Leider hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts diese
Illusionen eines graduellen Abbaus der inneren Gegensätze der kapitalistischen
Produktionsweise keineswegs bestätigt. Seitdem diese Produktionsweise ihre
historische Aufgabe der Schaffung des Weltmarkts und der weltweiten Ausdehnung
der Warenproduktion erfüllt hatte, zeugt eine lange Reihe von Erschütterungen
von der wachsenden Explosivität dieser Gegensätze: zwei Weltkriege, die große
Wirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1932, die Ausdehnung des Faschismus in ganz
Europa, der Verlust eines Drittels der Erde für die kapitalistische
Produktionsweise, eine ununterbrochene Kette von Kolonialkriegen in den letzten
zwanzig Jahren, die fürchterliche Gefahr, die der Wettlauf nach Kernwaffen für
die Zukunft der Menschheit heraufbeschwört, sind nur einige der wichtigsten
Zeugnisse dieser explosiven Gegensätze.
Die aus den Hoffnungen auf einen graduellen, ununterbrochenen
Fortschritt geborenen Gewerkschaftstheorien erwiesen sich als unfähig, die
neuen historischen Aufgaben, mit denen die Arbeiterbewegung in der Epoche des
Kapitalismus konfrontiert wurde, zu erkennen, geschweige denn, sie zu lösen.
Ein Festhalten an nur-gewerkschaftlicher Theorie und Praxis mußte zwangsläufig
zum Schluß führen, daß nur ein kräftiger und gesunder Kapitalismus
Lohnerhöhungen gewähren könne. Darum war man bereit, den Arzt am Krankenbett
des Kapitalismus zu spielen, und statt zu versuchen, diesem Kranken zu seinem
Ende zu verhelfen, beraubte man sich, den Kapitalismus mit allen Mitteln von
seiner Krankheit zu heilen. Das Paradox endete dort, wo man Lohnkürzungen
akzeptierte, um einen "gesunden" Kapitalismus zu erzeugen, d.h., um
spätere Lohnerhöhungen zu erreichen. Eine Gewerkschaftsbewegung, die zu solch
absurden Schlußfolgerungen gelangte, war offenbar in eine Sackgasse geraten.
Jede Institution unterliegt in einer auf verallgemeinerter
Warenproduktion und Arbeitsteilung aufgebauten Gesellschaft der Gefahr der
Verdinglichung und der Verselbständigung, d.h. der Gefahr, die ursprüngliche
Funktion zu verlieren und nur noch der eigenen Selbsterhaltung zu dienen. Diese
Gefahr wird besonders stark, wenn in dieser Institution eine gesellschaftliche
Schicht entsteht, deren materielles Interesse engstens mit der Selbsterhaltung
der betreffenden Institution verbunden ist. Der Prozeß der Verbürokratisierung
der Gewerkschaften, der engstens mit dem Hinabgleiten der Klassenkampftheorie
zur Theorie und Praxis der Klassenzusammenarbeit verbunden ist, erklärt so
mindestens z.T. jenes Paradox, das aber auch eigenständige ideologische Wurzeln
hat, d.h. den inneren Widersprüchen der "reinen" Gewerkschaftstheorie
entspricht. Fing somit die Ideologie der Gewerkschaftsbürokratie an, einen
Funktionswandel der Gewerkschaften zu bestimmen, so wurden allmählich im
Zeitalter des Spätkapitalismus immer stärkere objektive Prozesse sichtbar, die
in dieselbe Richtung drängten.
Der Spätkapitalismus steht seit den vierziger Jahren im
Zeichen der dritten industriellen Revolution, d.h. im Zeichen einer
beschleunigten technologischen Erneuerung. Diese beschleunigte technologische
Erneuerung bedingt eine Verkürzung des Reproduktionszyklus des fixen Kapitals,
der einen wachsenden Zwang in Richtung auf langfristige Investitionsplanung,
genaue Kostenplanung, und deshalb auch genaue Lohnkostenplanung beinhaltet.
Dadurch schrumpft das klassische Tätigkeitsfeld der Gewerkschaften automatisch.
Idealmodell für den "organisierten" Spätkapitalismus ist eine
verallgemeinerte Wirtschafts- und Sozialprogrammation, die es den Großkonzernen
erlaubt, ihre Investitionsprogramme miteinander zu koordinieren, die unter der
Herrschaft des Privateigentums an Produktionsmitteln im Wirtschaftsbereich rein
Indikativ bleiben muß, die aber im Sozialbereich durchaus imperativ
wirken soll. Deshalb überall der Druck zugunsten der "konzertierten
Aktion", der "Einkommenspolitik", der "sozialen
Programmierung". Hinter all diesen Formeln versteckt sich ein einheitlicher
Zweck: Abbau der Tarifautonomie der Gewerkschaften, Verhinderung der Ausnützung
von zeitweilig günstigen Konjunkturlagen auf dem Arbeitsmarkt
(Vollbeschäftigung oder gar akute Knappheit an Arbeitskräften) durch die
Arbeiterschaft im Sinne von bedeutenden Lohnerhöhungen und (unter Bedingung
einer bestimmten Geldpolitik) im Sinne einer bedeutenden Senkung der Mehrwert-
und Profitrate.
Gleichzeitig aber verleiht dieser grundlegende Trend des
Spätkapitalismus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der
Gewerkschaftsbürokratie neue Perspektiven. Es handelt sich jetzt nicht nur
darum, die Organisationsmacht am Verhandlungstisch gegenüber den
Unternehmervertretern zu verwerten. Es handelt sich nun auch darum, in den
zahlreichen Gremien der staatlichen und halbstaatlichen Wirtschaftslenkung die
Lohnabhängigen zu vertreten. In den skandinavischen Ländern, in Belgien und
Holland, in Frankreich und Italien und seit einigen Jahren auch in
Großbritannien hat sich so ein Prozeß der breitesten Integration der
Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staat abgezeichnet, wobei
Gewerkschaftsführer oft mehr Zeit in diesen staatlichen Gremien als in
eigentlichen Gewerkschaftsversammlungen verbringen.
Ideologisch gesehen entspricht diese weitere Integration der
Gewerkschaftsbürokratie in den spätbürgerlichen Staatsapparat derselben
Motivation der Klassenzusammenarbeit und derselben gradualistisdien Illusionen,
wie die vorige Welle der Integrationen. Weil der "soziale Fortschritt"
durch das "wirtschaftliche Wachstum" bestimmt sei, müsse man halt die
Verantwortung für dieses wirtschaftliche Wachstum auf sich nehmen, ohne sich
Gedanken zu machen über die Struktur der bestehenden Produktionsweise, die
durch dieses Wachstum konsolidierten Klassengegensätze und die
Klassenausbeutung usw. usf. Weil die Posten in den Verwaltungsräten der
verstaatlichten Industrien und Konzerne, weil die Posten im Verwaltungsrat der
Zentralbanken, weil die unzähligen Posten in staatlichen Programmierungs- und
Planungsgremien als so viele "Positionen" gesehen werden, von denen
aus man die bürgerliche Wirtschaft "Schritt für Schritt" erobern
könne, wird die "Mitbestimmung und Mitverantwortung" in der
spätkapitalistischen Wirtschaft als eine Etappe zur zukünftigen Sozialisierung
bei manchen nicht völlig dem Zynismus verfallenen Gewerkschaftsführern
rationalisiert. Der Urtyp dieses Verhaltens wurde vom alten französischen
Gewerkschaftsführer Jouhaux geliefert, der nach dem ersten Weltkrieg
freudestrahlend das Dekret, das ihn zum Mitglied des Verwaltungsrats der Banque
de France ernannte, den Gewerkschaftlern vorlegte und ausrief: "Der
erste Nagel im Sarg des Kapitalismus". Der französische Kapitalismus
scheint aber seit fünfzig Jahren diese Nägel sehr gut überstanden zu haben
und ist heute genauso lebendig wie im Jahre 1919...
Die Tendenz zur wachsenden Integration der
Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staatsapparat stößt jedoch auf zwei
grundlegende Widersprüche im Spätkapitalismus:
Einmal benötigen die Großkonzerne und bürgerlichen
Regierungen diese Teilnahme der Gewerkschaftsbürokratie an der Wirtschafts- und
Sozialprogrammierung nur in dem Maße, wie dadurch ein Aufbegehren der
Arbeiterschaft gegen die weiterhin zyklische Entwicklung der kapitalistischen
Produktionsweise (einmal Vollbeschäftigung mit "Maßhalten" in der
Lohnpolitik; daraufhin Rezession mit Erwerbslosigkeit und massierte Angriffe der
Unternehmer gegen den erreichten Lebensstandard und die gegebenen
Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen) erfolgreich abgebaut werden kann. Aber
eine wachsende Identifizierung der Gewerkschaftsführung mit der "staatlich
gelenkten" Lohnpolitik (wie etwa in Holland und Skandinavien während
langer Jahre) oder mit einer "freiwilligen" Einkommenspolitik
(Großbritannien) muß zwangsläufig auf wachsenden Widerstand der
Lohnabhängigen stoßen, auf eine Welle von wilden Streiks, auf eine Aushöhlung
der inneren Beziehungen zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Gewerkschaften.
Dies aber verringert die Nützlichkeit der Gewerkschaftsbürokratie in den Augen
der Großkonzerne. Jene bedürfen nämlich einer die Arbeitermassen tatsächlich
kontrollierende und ihre Kämpfe kanalisierende, nicht aber eine nur nominelle
Gewerkschaftsbürokratie, wie das Beispiel der sog. "vertikalen"
Staatsgewerkschaft in Spanien eindeutig bewiesen hat. Ist die
Gewerkschaftsbürokratie zu einer solchen Kontrolle nicht mehr fähig, so wird
ihre "Desintegration" aus dem bürgerlichen Staatsapparat die
wahrscheinlichere Variante, sei es daß die Großkonzerne selbst die Initiative
dazu nehmen, sei es, daß die Gewerkschaftsführung eine "Wende nach
links" vornimmt, um die Kontrolle über die Arbeiteragitation wieder zu
erlangen.
Andererseits hat aber auch die Tendenz zur wachsenden
Wirtschaftsprogrammierung und zum "organisierten" Kapitalismus, die
die Integration der Gewerkschaftsbürokratie in den bürgerlichen Staatsapparat
bedingt, eine doppelte und widerspruchsvolle Auswirkung auf die Masse der
Lohnabhängigen. Diese sind ohne Zweifel in größerem Maß als vorher der
mystifizierenden Demagogie der "Betriebsinteressen" und der vom
Bürgertum vorgeheuchelten und nur von Gewerkschaftsseite praktizierten
Klassenzusammenarbeit ausgesetzt. Aber gleichzeitig bedingt die wachsende
öffentliche Debatte über gesamtgesellschaftliche Aggregate wie
Bruttosozialprodukt, Volkseinkommen, Lohnquote, Investitionsquote, Geldvolumen,
Produktivitätssteigerung usw. usf. die wachsende Möglichkeit eines Interesses
fortgeschrittener Arbeiter und Angestellter für gesamtwirtschaftliche und
gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge. Genauso wie die Wirtschaft vor dem
ersten Weltkrieg mit ihrem andauernden Guerillakampf über die Verteilung des
von der Arbeiterschaft neu geschaffenen Wertes zwischen Unternehmern und
Lohnabhängigen zu einer praktischen Schule des Klassenkampfes wurde, sobald der
Arbeiterschaft die inneren Zusammenhänge dieses Kampfes verdeutlicht wurden,
genauso können die heutigen öffentlichen Auseinandersetzungen über Verteilung
des Volkseinkommens und Umfang, Inhalt und Orientierung der Investitionen zu
einer praktischen höheren Schule des Klassenkampfes werden, wenn die
Lohnabhängigen wiederum in breitem Außmaß über die inneren Zusammenhänge
dieser Prozesse mit den der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden
Widersprüchen und über deren Ausbeutungscharakter aufgeklärt werden, und wenn
die Vermittlung dieser Aufklärung über die unmittelbaren Bedürfnisse und
Sorgen der Lohnabhängigen gefunden wird.
Gewiß ist dieses objektive Ergebnis der wachsenden
Verquickung von Großkonzernen, bürgerlichem Staat und staatlicher Wirtschafts-
und Sozialpolitik keineswegs ein automatisches Produkt des
"organisierten" Spätkapitalismus. Eine demokratisch-neoreformistische
Strömung, die sich seit den sog. "Plan-Experimenten" etwa eines Hendrik
De Mars in den dreißiger Jahren in der Gewerkschaftsbewegung verbreitet
hat, versucht den Übergang des Kampfes für Reformen in der
Distributionssphäre zu Kämpfen für Strukturreformen als einen großen
Fortschritt an und für sich darzustellen. Die Erfahrung beweist aber immer
wieder, daß zwischen neokapitalistischen, das System - sehr oft auf Kosten der
Lohnquote! - rationalisierenden und leicht von den Großkonzernen zu
absorbierenden Strukturreformen und solchen, die systemsprengend wirken, weil
sie in die kapitalistische Produktionsweise nicht integriert werden können und
letzten Endes dazu führen, daß der Klassenkampf einer Entscheidungsschlacht
zustrebt, schärfstens unterschieden werden muß. Die ersten führen in ihrer
Logik zu einer weiteren Integration der Gewerkschaftsbürokratie in den
bürgerlichen Staatsapparat, zu einem weiteren Abbau von Kampfwiilen und
Kampferfahrung der Lohnabhängigen. Der Kampf um die zweiten kann dagegen nur
die Gewerkschaftsbewegung radikalisieren und die Masse für weitere und breitere
Kämpfe und wachsendes antikapitalistisches Bewußtsein mobil machen.
Die Möglichkeit, von den neuen Formen des Funktionierens der
kapitalistischen Produktionsweise selbst auszugehen, um die
Gewerkschaftsbewegung und breitere Arbeitermassen auf radikale
antikapitalistische Ziele umzuorientieren, entspricht einer spontanen Tendenz
des elementaren Arbeiterkampfes auf Betriebsebene, wie er sowohl in dem
französisdien Generalstreik vom Mai 1968 und in den großen italienischen
Streiks im Herbst und Winter 1969, wie ansatzweise in den zahlreichen wilden
Streiks vieler westeuropäischer Länder der letzten zwölf Monate zum Ausdruck
kam. Was in diesen größten Streiks, die es bisher in der Geschichte des
Kapitalismus gegeben hat (nahezu 10 Millionen Streikende in Frankreich, nahezu
15 Millionen in Italien) zum erstenmal schlagartig ausgesprochen wurde, das war
eine Herausforderung und eine "Kontestation" nicht nur der
kapitalistischen Einkommensverteilung, sondern der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse selbst. Wie bedeutend auch Lohn- und Arbeitszeitfragen
für diese Streikbewegung waren, so bestand das Neue an diesen riesigen
Arbeitskämpfen in Westeuropa darin, daß die Streikenden, sehr oft spontan,
ohne tiefere theoretische Einsicht und mit unbeholfenen Formulierungen als
Kampfziele nicht nur mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit forderten, sondern die
neuen Formen der Entlohnung (Arbeitsplatzbewertung, measured day work usw.)
die zur Atomisierung der Arbeiterklasse und zur rationalisierten Kontrolle über
die Arbeitskraft im Betrieb führen, in Frage stellten, die Spanne zwischen den
am schlechtesten und den am besten bezahlten Schichten der Lohnabhängigen
versuchten herabzusetzen, die Arbeitsorganisation im Betrieb angriffen, den
Rhythmus des Fließbandes selbst versuchten zu bestimmen, ja sogar die
innerbetriebliche Arbeitsteilung erschütterten und die Autorität der Meister
und Vorarbeiter, d.h. die ganze hierarchische Struktur des kapitalistischen
Betriebes, anfingen zu untergraben. Man kann alle diese neuartigen Forderungen
nicht besser zusammenfassen als in ihnen die Keimform des unmittelbaren Kampfes
gegen das Recht und die Macht des Kapitals, Arbeit und Maschinen zu
kommandieren, d.h. die Keimform des unmittelbaren Kampfes gegen die
kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst zu erkennen.
Gewiß wäre es verfrüht, die französischen und
italienischen Streiks, d.h. das Klassenbewußtsein von 25 Millionen
westeuropäischer Lohnabhängiger sämtlich auf diesen Nenner zu bringen. Noch
verfehlter wäre es, in jedem "wilden Streik" jedes westeuropäischen
Landes bereits den Ansatz zu einem französischen Mai oder einem italienischen
Herbst, d. h. den Ansatz zu einer solchen wenigstens in Keimform direkten
In-Frage-stellung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu sehen. Noch
nie war das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung und der inneren
Differenzierung der Arbeiterschaft so stark in Westeuropa erkennbar wie heute.
Aber es handelt sich darum, das Neue in diesen Kämpfen rechtzeitig aufzudecken
und zu erkennen, daß es die Tendenz haben wird, sich allmählich auf alle
imperialistischen Länder des Westens, sowie auf Japan, auszudehnen.
Denn diese neuartige Form der Arbeiterkämpfe in den
industrialisierten Ländern ist selbst ein Produkt der dritten industriellen
Revolution, der sich verändernden Formen der kapitalistischen Produktionsweise.
Beschleunigte technologische Erneuerung bedeutet im "organisierten"
Spätkapitalismus beschleunigte Strukturkrisen von Gewerben, Industriezweigen
und Industrierevieren, beschleunigte Disqualifizierung ganzer Berufsgruppen,
beschleunigte Ausbeutung und vor allem ständige Intensivierung des
Arbeitsprozesses, aber gleichzeitig beschleunigtes Wiedereinschleusen geistiger
Arbeit in den Produktionsprozeß, beschleunigte Hebung des durchschnittlichen
Qualifikation- und Wissensniveaus der Produzenten in den technisch führenden
Industriezweigen, beschleunigtes Um-Sich-Greifen der Kontestation der
bürgerlichen Herrschafts- und Entfremdungserscheinungen im Bereich der Hoch-
und Mittelschule, des Kommunikationswesens, der Lebensgemeinschaft und der
Konsumsphäre überhaupt, was unvermeidlich zu einer wachsenden Kontestation
derselben Herrschafts- und Entfremdungsbedingungen in der Produktionssphäre
führen muß.
Die intelligenteren Schichten der Großkonzerne und der
bürgerlichen Klasse sind sich der großen Gefahr, die diese neuen Kampfformen
und Kampfziele der Arbeiterschaft für das Überleben ihrer Klassenherrschaft
mit sich bringen, durchaus bewußt, — leider viel mehr bewußt als die meisten
Gewerkschaftsführer. Darum fällt eine ideologische Kehrtwende dieses
Großbürgertums zeitlich zusammen mit der französischen Mai-Explosion vom
Jahre 1968. De Gaulle lancierte die Lösung der "participation",
die seither eifrigst von britischen Tories, von den verschiedensten
Strömungen des französischen Bürgertums, von den meisten skandinavischen
Kapitalisten (wie auch von den meisten nördlichen Sozialdemokraten), ja sogar
von einem Teil der spanischen Großkonzerne freudig aufgegriffen wurde. Auf
deutsch frei übersetzt heißt "participation"
"Mitbestimmung". Es zeugt für die wohl bekannte politische Unreife
des westdeutschen Bürgertunis, daß eine Formel, die anderswo als der letzte
Schutzwall vor dem Verlust der Unternehmerautorität in Betrieb, Wirtschaft und
Staat erkannt ist, in der BRD noch als eine zu bekämpfende teuflische Gefahr
exorziert wird. Denn um einen solchen Schutzwall handelt es sich zweifelsohne.
Nachdem breitere Teile der westeuropäischen Arbeiterschaft in der Tat bewiesen
haben, daß weder übertarifliche Vorteile auf Betriebsebene, noch wachsende
Integration der Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staatsapparat sie
davon abhalten können, periodisch in großen explosionsartigen Kämpfen den
Fortbestand der kapitalistischen Produktionsweise objektiv in Frage zu stellen,
wollen nun die spätkapitalistischen Großkonzerne Westeuropas ihr historisches
Ziel der letzten Jahrzehnte - systematisches Abwiegeln des proletarischen
Klassenkampfes und systematisches Verschütten des proletarischen
Klassenbewußtseins - auf einem neuen Weg erreichen: dadurch, daß den
Gewerkschaften "Mitbestimmung" an der nationalen Lenkung der
Wirtschaft und Mitverantwortung an der Wirtschaftsleitung auf Betriebsebene
verliehen wird.
Das Manöver ist so plump, daß es keine Erfolgschancen
hätte, wenn nicht bedeutende Teile der Gewerkschaftsführung selbst in dieser
Frage solche Verwirrung in den Köpfen der Lohnabhängigen gesät hätten, daß
manchem von ihnen das Unternehmermanöver als eine Arbeitererrungenschaft
erscheint. Das Manöver ist plump, denn genauso wie die "konzertierte Aktion",
die "Einkommenspolitik" und die "soziale Programmierung"
versucht es, die unterschiedliche Klassenlage, in der sich Käufer und
Verkäufer der Ware Arbeitskraft in der bürgerlichen Gesellschaft befinden, zu
verschleiern. Da der Arbeiter weder über Reichtum noch über die dem Reichtum
entspringende Wirtschaftsmacht verfügt, kann sein Lohn präzis durch
Unternehmer und Regierung festgesetzt, kann die Lohnsteuer an der Quelle sofort
und total erfaßt, kann - mit Ausnahme der Wirkung der bösen "wilden
Streiks" - auch die gesamtgesellschaftliche Lohnsumme exakt im voraus
festgelegt werden. Aber genauso wie es bisher in der Geschichte noch keiner
bürgerlichen Regierung, auch unter Androhung schwerster Strafen - man denke an
das Naziregime - gelungen ist, Preise und Gewinne einzufrieren, so kann es
keinem "Mitbestimmungsgremium" oder "mitbestimmenden"
Verwaltungsrat gelingen, die Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz und der
Kapitalverwertung auszuschalten, zu verhindern, daß es zu periodischen
Wirtschaftsschwankungen kommt, zu verhindern, daß Unternehmer durch die
Konkurrenz gezwungen werden, periodisch strenge Rationalisierungsmaßnahmen zu
treffen, Entlassungen oder Kurzarbeit einzuführen, den Arbeitsrhythmus zu
steigern, die Ausbeutung der Arbeitskraft zu verstärken usw. usf. Mitbestimmung
und Mitverantwortung, bei gleichzeitigem Beibehalten des Privateigentums und
profitorientierten Wirtschaftsgefüges, bedeutet daher unvermeidlich
Mitbestimmung und Mitverantwortung für diese Blüten kapitalistischer
Produktionsweise.
Arbeiter "Vertreter", die dazu bereit sind, müssen
unweigerlich mit den unmittelbaren Interessen ihrer Mandanten zusammenstoßen,
ja sich in Vertreter der "Betriebs-"(d.h. der Kapital)-Interessen gegen
die Arbeiterschaft verwandeln. Es ist schwer, irgendwo auf diesem Wege
haltzumachen und zu sagen: bis hierhin und nicht weiter. Haben wir nicht bei den
jüngsten "wilden Streiks" der Gewerkschaftsbewegung entstammende
"Arbeitsdirektoren" gesehen, die als echte Unternehmer-Scharfmacher
versuchten, die "aufwieglerischen Elemente" aus den Betrieben zu
entfernen, ja sogar jegliche Konzession an die Streikenden und jegliche
Verhandlung mit ihnen abzulehnen, sogar zu einem Zeitpunkt wo die Unternehmer
selbst bereits eine viel "gemäßigtere" Sprache führten?
Eine sich nicht nur in den bürgerlichen Staatsapparat,
sondern sogar in die tägliche Betriebsführung des Kapitalismus integrierende
Gewerkschaft wäre keine "systemkonforme" Gewerkschaft, sie würde
rasch aufhören, überhaupt noch eine wirkliche Gewerkschaft zu sein. Die
Lohnabhängigen würden keinerlei Grund mehr erkennen, solchen
Arbeitskontrolleuren und Arbeitsdirektoren noch Teile des schwer erarbeiteten
Lohnes in Form von freiwilligen Beiträgen zuzuschanzen. Ein Trend zum
Mitgliederschwund würde in großem Stil einsetzen (man studiere z.B. die
Fluktuation einiger solcher "systemkonformer" Gewerkschaften in den
USA, wie des Bergarbeiterverbandes während der letzten Jahre!). Da die
Unternehmer keinerlei Interesse daran hätten, der Gewerkschaftsbürokratie
finanzielle Schwierigkeiten im Tausch für die enge Zusammenarbeit zu
verursachen, würde man einem System der zwangsmäßigen Erhebungen von
Gewerkschaftsbeiträgen "an der Quelle" durch die Unternehmer selbst,
sozusagen einem System von "Lohnsteuer zweiter Hand" zustreben, wie es
für die spanischen "vertikalen Gewerkschaften" gilt. Am Endpunkt
eines solchen Entartungsprozesses hätte die Gewerkschaftsbürokratie
aufgehört, eine Bürokratie selbständiger Arbeiterorganisationen zu sein. Sie
wäre nur noch ein. besonderer Bestandteil der staatlichen
Verwaltungsbürokratie, die für die spätkapitalistische Gesellschaft die
leider zu unberechenbaren Taten neigende und explosionsanfällige Ware
"Arbeitskraft" zu verwalten hätte, so wie andere Teile dieser
Bürokratie Züge, Autobahnen, Briefmarken, Hochschulen und Panzer verwalten.
Glücklicherweise sind wir noch weit davon entfernt, an
diesem Schlußpunkt des Prozesses angelangt zu sein. Nur die ersten zögernden
Schritte in Richtung auf diese Selbstverleugnung und Selbstaufhebung der freien
Gewerkschaftsbewegung wurden bisher in Westeuropa unternommen. Und alles spricht
dafür, daß die bewußteren, radikaleren und kämpferischen Teile der
westeuropäischen Arbeiterschaft diesen Prozeß rechtzeitig umkehren werden.
Diese Umkehrung ist jedoch auf die Dauer nur möglich, wenn die
Gewerkschaftsbewegung ihre Haltung zum Problem der inneren
Gewerkschaftsdemokratie, zum Problem der neuen, aus der spezifischen Lage des
Spätkapitalismus erwachsenen Aufgaben und zum sozialistischen Endziel der
Arbeiterbewegung gründlich überholt und neugestaltet.
Mit der Zentralisation des Kapitals hat auch eine andauernd
wachsende Zentralisation der Gewerkschaften Schritt gehalten. Es ist dies ein
sehr widerspruchsvoller und zwiespältiger Prozeß. Gewerkschaften sind, anders
als Parteien, keine Organisationen von Gleichgesinnten, keine Verbände die nur
Werktätige vereinigen, die auf einer bestimmen programmatischen Basis stehen
und ein bestimmtes historisches Ziel verwirklichen wollen. Sie sind im Prinzip
Vertreter der unmittelbaren materiellen Interessen all derer, die gezwungen
sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Aber auch der Anschluß an Gewerkschaften
erfordert ein Mindestmaß an elementarem Klassenbewußtsein, das wenigstens in
den größeren Länder des Westens bisher immer nur eine Minderheit von
Lohnabhängigen erreicht hat.
Die Zentralisation der Gewerkschaften erlaubt es deshalb, der
zentralen wirtschaftlichen Macht des Großkapitals mehr Macht entgegenzustellen,
als isolierte Lohnabhängige einer Werkstatt, eines Betriebes, einer Stadt oder
eines Industriereviers normalerweise vorzeigen könnten. Sie ist deshalb eine
notwendige Waffe im Klassenkampf, die vor allem den Schwächeren, den weniger
Organisierten, oder den durch eine besondere Wirtschaftslage zu ungünstigen
Ausgangsbedingungen beim Aushandeln des Arbeitslohns Verurteilten, zugute kommt.
Für eine Aufhebung der gewerkschaftlichen Zentralisation zu agieren, wäre
letzten Endes nur zugunsten der Kapitalistenklasse.
Aber dieselbe Zentralisation, die es den schwächeren
Lohnabhängigen erlaubt, günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen auszuhandeln
als sie selbst erreichen könnten, droht, sich gegen die Kämpferischen und
Radikaleren zu wenden, sobald ein gewerkschaftlicher Apparat bürokratisch
verformt und verselbständigt ist. Sie droht die gesamte Grundlage der
Gewerkschaften zu untergraben, wenn sie zu einer systematischen Passivität der
Gewerkschaftsmitglieder entartet, weil ein immer kleinerer Kreis von
Funktionären die zentralen Entscheidungen trifft - einschließlich der
Kompromisse bei Tarifverhandlungen - ohne eine breite Schicht von Aktivisten in
den Entscheidungsprozeß einzuschalten.
Die übermäßige Zentralisation der gewerkschaftlichen
Entscheidungsgewalt ist um so gefährlicher, als gerade die Weigerung lebendiger
Gewerkschaftsorganisationen, sich der "Einkommenspolitik", der
"sozialen Programmierung" und der "konzertierten Aktion" auf
die Dauer zu fügen, periodisch zu scharfen, von den Unternehmern orchestrierten
Kampagnen gegen die "übermäßige Macht der Gewerkschaften" führt
(wie dies in Großbritannien in den Jahren 1967 und 1968 der Fall war), und
diese solche Kampagnen nur dann erfolgreich überstehen können, wenn sie über
die freiwillige und begeisterte Unterstützung von Tausenden und Abertausenden
von aktiven Mitgliedern verfügen.
Es ist kein Zufall, daß die sonst ach so stark auf
"Demokratie" eingeschworene bürgerliche öffentliche Meinung den
Gewerkschaften noch mehr Zentralisation aufdrängen möchte, indem sie der
Führung vorwirft, sie lasse der "anarchistischen Zügellosigkeit" der
Betriebskader, etwa in Ländern wie Großbritannien und Italien, zuviel
Spielraum. Die Unternehmer möchten gerne, daß die Gewerkschaftsapparate selbst
die, von ihrem Standpunkt aus gesehen, unumgängliche "Säuberung" der
Betriebe durchführen. Wehe der Gewerkschaft, die sich zu diesem Kurs
entschließen würde; ihre gewerkschaftliche Substanz würde schnell schwinden.
Das einzige Mittel, um die Auswüchse der gewerkschaftlichen
Zentralisation zu vermeiden, ist breiteste innergewerkschaftliche Demokratie.
Dies bedeutet nicht nur die Pflicht, vor jeder bedeutenden Entscheidung die
Mitgliedschaft und das Aktiv weitgehends zu informieren, zu befragen und
beschließen zu lassen, sondern ebenfalls das Recht von Minderheiten, sich
zusammenzuschließen, um auf Gewerkschaftstagen ihre Anstrengungen wenigstens
teilweise ebensogut koordinieren zu können, wie dies der Apparat vermag. Es ist
bezeichnend, daß der gemäßigte Flügel der Gewerkschaften dieses Recht immer
selbstverständlich für sich beansprucht, wenn er sich in einer
Minderheitsposition befindet, oder fürchtet, bald in eine solche Position
verdrängt zu werden, seinerseits aber nicht bereit ist, einer radikalen
Minderheit dasselbe Recht zuzugestehen, sobald seine Kontrolle über die
Organisation wiederum konsolidiert ist. Die Gewerkschaften der Weimarer Republik
in den zwanziger Jahren, wie jene der CSSR in den Jahren 1968 und 1969, legen
davon beredtes Zeugnis ab.
Oft wird solchen Gedankengängen entgegengehalten, daß die
Gewerkschaftsmitglieder selbst letzten Endes schuld sind an der wachsenden Macht
der Apparate, weil sie Versammlungen nicht besuchen, keinerlei Aktivität an den
Tag legen, und oft noch gemäßigter sind als der Apparat. Wir wollen nicht
verhehlen, daß ein Körnchen Wahrheit in diesen Ausführungen steckt - aber nur
ein Körnchen. Denn erstens zeigen Ereignisse immer wieder, daß gelegentlich
große Arbeitermassen dem Gewerkschaftsapparat wie im Jahre 1968 in Frankreich
und im Jahre 1969 in Italien um tausend Meilen voraneilen, anstatt ihm
nachzuhinken. Und zweitens gilt für die gewerkschaftliche Aktivität, was für
das Schwimmen gilt; man kann es nur erlernen, wenn man irgendwann ins Wasser
springt, d.h. zur Praxis übergeht. Diejenigen, die der Arbeitermasse vorwerfen,
sie zeige zuwenig gewerkschaftliche Aktivität, sollten sich die Frage stellen,
was sie denn unternommen haben, um diese Masse zur Seibstinitiative, zur
Selbstaktivität und Selbstentscheidung zu erziehen. Nur eine
Gewerkschaftsstrategie, die systematisch auf eine solche Erziehung in der
täglichen Kampfpraxis ausgerichtet ist, kann eine aufsteigende Linie in der
Gewerkschaftstätigkeit breiter Massen erzeugen. Eine Gewerkschaftsstrategie,
die der Masse der Mitglieder jede Möglichkeit und jedes Gefühl, daß sie
selbst Initiative im Kampf ergreifen kann, nimmt, kann nur eine Kombination
wachsender gewerkschaftlicher Passivität und periodischer Explosionen
außerhalb des Rahmens der Gewerkschaften erzeugen.
Eine auf aktive Initiative der Basis im Klassenkampf
ausgerichtete Gewerkschaftsstrategie ist aber auch die einzige, die den neuen
Aufgaben entspricht, die der Gewerkschaftsbewegung aus der jetzigen
Entwicklungsphase des Kapitalismus erwachsen. Wir sagten bereits, daß sich
immer mehr Arbeiterkämpfe spontan in Richtung auf ein In-Frage-stellen der
kapitalistischen Produktionsverhältnisse bewegen. Die Strategie, die dieser
spontanen Tendenz entspricht, ist jene der Arbeiterproduktionskontrolle. Im
Gegensatz zur "Mitbestimmung" geht die Strategie der
Arbeiterproduktionskontrolle davon aus, daß Tarifautonomie der Gewerkschaften
einerseits und Mitverantwortung für die Profitmaximierung der Betriebe und
Konzerne andererseits, daß Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen
einerseits und das sich den Bewegungsgesetzen der kapitalistischen
Produktionsweise Fügen andererseits, grundlegend unvereinbar sind. Sie fordert
deshalb Kontroll- und Veto-Recht für Lohnabhängige, nicht aber
Mitverantwortung für die Verwaltung kapitalistischer Betriebe und
kapitalistischer Wirtschaft.
"Arbeiterkontrolle im Kapitalismus; Mitbestimmung im
Sozialismus" in diese knappe Formel hat der verstorbene
stellvertretende Generalsekretär des belgischen Gewerkschaftsbundes FGTB Andre
Renard die gewerkschaftliche Doktrin in diesem Sachbereich zusammengefaßt.
Sie scheint uns völlig zuzutreffen.
Arbeiterproduktionskontrolle erfordert aber weitgehende
Initiative auf der Ebene des Konzerns und des Betriebs, ja sogar auf der Ebene
der Werkstatt und jedes Fließbandes. Der Kampf um Arbeiterproduktionskontrolle
schafft Keimformen der Selbstorganisation aller Lohnabhängigen am
Arbeitsplatz, wie dies heute am Beispiel des größten Betriebes Westeuropas,
der Turiner FIAT-Werke, erstmalig seit Jahrzehnten wieder der Fall ist. Einen
solchen Delegierten-Körper in die Gewerkschaftsorganisation reintegrieren und
gar gesetzlich untermauern zu wollen heißt, seine Eigenart völlig zu
verkennen. Es handelt sich vielmehr um eine Erweiterung des Tätigkeitsfeldes
der Werktätigen im Betrieb, die sich nicht mehr auf Tarifverhandlungen
beschränken und durch das Ergebnis dieser Verhandlungen einschränken lassen
wollen. Diese Selbstorganisation der Werktätigen am Arbeitsplatz muß völlige
Autonomie bewahren, um zum Zuge zu kommen; sie ist Keimform eines Systems von
Doppelherrschaft auf Betriebsebene, die ihrerseits nur Keimform einer
Räteordnung sein kann. Darin liegt ihre Besonderheit and ihre Aufgabe. Aber sie
kann und wird auf die Tätigkeit der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb
rückwirken, deren Aktivität stimulieren, und die gewerkschaftliche Demokratie
fördern, solange sie Ausdruck einer wachsenden Anteilnahme der Masse der
Lohnabhängigen an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen bleibt.
In dieselbe Richtung einer geschmeidigeren Artikulation von
Zentralisierung und innergewerkschaftlicher Demokratie drängt auch eine andere
neue Aufgabe, die den Gewerkschaften aus der Entwicklung des Spätkapitalismus
zukommt: jene der stärkeren internationalen Zusammenarbeit und Integration. Im
Zeitalter des multinationalen Konzerns ist dies das einzige Mittel, um der
raschen Auftragsverlegung von Land zu Land, des raschen Gegeneinander-Ausspielens
von Werktätigen mit relativ geringeren gegen Werktätige mit relativ höheren
Löhnen seitens dieser internationalen Konzerne wenigstens teilweise zu
entgehen. Bisher haben die großen Gewerkschaftsapparate in der Frage der
internationalen Aktion völlig versagt. Man wartet immer noch auf den ersten
europäischen Streik, wo es bereits so viele europäische Konzerne gibt. Und
wenn die Arbeiter eines solchen Konzerns in einem Lande streiken, oder die
Streikenden eines Industriezweiges durch rasches Herbeiführen konkurrierender
Ware aus einem Nachbarland in der Wirksamkeit ihres Streiks schwer gestört
werden, dann hat bisher die millionenstarke "offizielle"
Gewerkschaftsbewegung weniger für internationale Solidarität erreicht als
kleine radikale Minderheitsgruppen.
Eine solche internationale Zusammenarbeit und Integration ist
jedoch undenkbar auf der Ebene der organisatorischen Zentralisation: hier muß
gleichzeitig auf Konzern- und Betriebsebene und auf der Ebene von Dachverbänden
gehandelt werden. Und hier hat die Gewerkschaftsbewegung die Pflicht, mit dem
eigenen erzieherischen Beispiel vorangehend zu beweisen, daß die These, es gebe
in der heutigen Welt überhaupt kein Mittel, um durch technischen Fortschritt
bedingte Zentralisierung mit wachsender Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung
aller Menschen zu verknüpfen, nur der bürgerlichen und der bürokratischen
Logik, keineswegs aber der Wirklichkeit entspricht.
Ein konservativer britischer Technokrat, Michael Rose, spricht
die Befürchtung aus, die Verallgemeinerung kybernetischer Lenksysteme in
Wirtschaft und Staat könne zu einer gewaltigen Konzentration an
Entscheidungsgewalt in wenigen Händen führen, gegründet auf das Monopol des
Zugangs zu der so angehäuften Informationsmasse. Mehrere bürgerliche
Nationalökonomen haben den Gedanken geäußert, daß in spätestens fünfzehn
Jahren etwa 200 internationale Großkonzerne die Wirtschaft der "freien
Welt" beherrschen würden. Daß ihnen das Paradox verborgen bleibt, das
darin liegt, eine durch solche Konzentration von Wirtschaftsmacht
gekennzeichnete Welt noch "frei" zu nennen, zeugt nur für die so
typische Problemblindheit dieser bürgerlichen Nationalökonomen.
Eine "freiheitlich-demokratische Ordnung", in der
tatsächlich alle großen strategischen Entscheidungen, die das Wirtschafts- und
Gesellschaftsleben breiter Massen bestimmen, durch diese Massen selbst getroffen
werden, in der sich der Zugang zu allen wichtigen Informations- und
Wissensquellen verallgemeinert, wo also Zentralisierung der Technik mit
weitester Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse verbunden wird, ist nur
möglich aufgrund des Gemeineigentums an Produktionsmitteln und ihrer Verwaltung
durch demokratisch-zentralistische, d.h. geplante Selbstverwaltung von
Produzenten und Konsumenten.
Die Gewerkschaften werden ihre aus der letzten Entwicklung
des Spätkapitalismus entsprungenen Aufgaben nur lösen können, wenn sie sich
wieder voll durch dieses sozialistische Endziel, das noch nie so relevant war
wie heute, in ihrer täglichen Praxis lenken lassen. "Systemkonforme"
Gewerkschaften kann es im Spätkapitalismus nicht geben. "Systemkritische"
Gewerkschaften aber erfordern bewußte Sozialisten an ihrer Spitze.