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Bertrand Russell                                                            
 (Ausgabe 4/1970)

Während vor 1933 viele seiner Werke nach Deutschland ausstrahlten, nahm das Nachkriegsdeutschland kaum Notiz von ihm. Bei unseren Kathedersoziologen waren Schelsky, Geiger, Freyer Mode, bestenfalls noch Adorno, schließlich Dahrendorf und natürlich alle Amerikaner. Die Kathederphilosophie setzte auf Jaspers und alles, was sich zum beliebten Existenzialismus zählen ließ (was für die Aufrüstung und nicht gegen die Atombombe war), bis schließlich auch Jaspers nichts mehr abgab, und man hier auf Wittgenstein, den völlig unpolitischen, dort auf Teilbard de Chardin, den trotz Dialektik religiösen, einschwenkte. Marx war ohnehin, da am 19. Jahrhundert orientiert, für veraltet erklärt worden, im Gegensatz etwa zu Thomas von Aquin, der zwar im 13. Jahrhundert lehrte, aber im 20. wieder brauchbar schien. Man unterdrückte dynamische Gesellschaftstheorien als angebliche Ideologien, machte sie lächerlich, schwieg sie tot. Dafür griff man auf scholastische Weltinterpretationen vom Feudalismus bis zur Gegenreformation zurück, selbstverständlich auch die Restauration nach 1815, bot alles höchst unterschiedlich als Soziallehren an und glaubte, in solcher Art von „Pluralismus" den „Totalitarismus" bekämpfen zu können.

Russell, der Nichtmarxist und Antileninist, war als humanistische Autorität nur insofern beliebt, als man ihn im Kalten Kriege und für das mystifizierte Abendland einspannen konnte. Robert Ingrim, einer der frühesten und wütendsten Einheizer der Atmosphäre zu Zeiten Adenauers, zitierte in „Von Talleyrand zu Molotow" gern, daß Russell bereits — wie übrigens auch Victor Gollancz — Ende 1945 für Deutsche, denen Unrecht geschah, Partei ergriff, sich gegen willkürliche Annektionen wandte, Vertreibungspraktiken beklagte, völkerrechtliche Gewaltmaßnahmen anprangerte. Aber man las nie bei Ingrim und ähnlichen Leuten, was Russell gegen die Faschisten und die Nazis geschrieben hatte, lange bevor die slawischen Völker unter grauenhaften Opfern und mit letzten Kraftreserven ihre Bedrücker abschüttelten.

Daß er, obwohl sein ganzes Leben dem Antibellizismus und dem Friedenmachen (pacem facere) gewidmet war, nicht einmal im Kapitel Pazifismus des Handwörterbuchs der Sozialwissenschaften, 1960/61, namentlich genannt wurde, spricht über die wissenschaftliche Literatur der letzten zwei deutschen Jahrzehnte ein bezeichnendes Urteil. Die Rechtsbourgeoisie bekämpfte die Proletarier und verriet zugleich die linken Citoyens. Und was den freiheitlichen Sozialismus betrifft — wo gibt es ihn, wo Russell als Narr gilt?

Wie unbekannt Russell nach 1945 in unseren Gewerkschaften blieb, also in den Nachfolgeorganisationen der großen deutschen Arbeiterbewegung, ist daraus erkennbar, daß er in den Gewerkschaftlichen Monatsheften erstmals Ende des 14. Jahrgangs berücksichtigt wurde, in einer kurzen Besprechung des bei Szczesny erschienenen Essay-Bandes „Warum ich kein Christ bin". Annemarie Zimmermann begrüßte diese Veröffentlichung sehr, bedauerte jedoch als Rezensentin das Fehlen einer übersichtlichen Lebensdarstellung Russells. Sichtlich beeindruckt von den Schikanen, denen er 1940 in New York ausgesetzt war, und die im Anhang des Buches geschildert sind, klagte sie, das seien doch „nur zwei Jahre aus seinem über neunzigjährigen Leben", und er wäre „uns dadurch kaum nähergerückt". Leider sei, so hieß es weiter, „die englische Spielart der Aufklärung, die, beginnend mit Locke, in neuerer Zeit Männer wie J. St. Mill, G. B. Shaw und auch Bertrand Russell hervorgebracht hat, wenig bekannt". Wahrhaftig! Aber das betraf weniger die Herausgeber der Monatshefte als vielmehr das gesamte, allmählich deutlicher gewordene Elend unserer letzten unbewältigten Vergangenheit, der Restauration ab 1945.

Eine Zeitlang nach dem Kriege war daher hierzulande Russell zu mißbrauchen. Seine Verdikte gegen Stalin, die vielen Observer-Artikel bis 1952, sein eintreten für Koestler, Spender, Silone und Richard Wright, als sie sich enttäuscht vom Gotte abwandten, der ihnen zum Götzen wurde, gaben Anlässe, ihn mit dem dubiosen „Kongreß für die Freiheit der Kultur" in Verbindung zu bringen und zu bewegen, gelegentlich m Melvin J. Laskys Berliner Monat Beiträge zu veröffentlichen. Aber dieser groteske Zustand dauerte nur so lange, wie Russell davon überzeugt war, die sowjetische Gefahr sei größer als die amerikanische. Als nach seiner Meinung die Gewichte pari standen, zögerte er keinen Moment, den Glauben aufzugeben, eine Pax americana mit US-AtommonopoI sei das geringere Übel unter den möglichen Herrschaftsverhältnissen aus dem Globus. Rückhaltlos bekannte er sich 1959 zu seinem Irrtum und der damit verbundenen Schwenkung. Er hätte, schrieb er, den einstigen Baruch-Plan zur internationalen friedlichen Verwendung der Atomenergie für weise, hochherzig und realisierbar gehalten. Er kam jedoch zu dem Schluß, daß das Pentagon und die hinter ihm stehenden Kreise seit Korea fatale Strategien pflegten, Dulles eine makabre Politik trieb und durch McCarthy die amerikanische Innenpolitik hysterisch wurde. Ab 1954 begann für Bertrand Russell die größte und gewiß nachhaltigste Phase seines Lebens, der sechzehnjährige „Kreuzzug für den Frieden" konsequent und unbeirrbar bis zum letzten Atemzug.

II

Die Bedeutung seines Werkes als Mathematiker, Philosoph, Pädagoge, Ethiker, Ökonom und Soziologe kann hier nicht im einzelnen gewürdigt werden, dazu mögen sich Fachleute äußern, die frei von Brancheneitelkeit und (im Sinne Schöpfers) von Stallviehgeruch sind. Das gleiche gilt hinsichtlich der Bedeutung Russells als Sexualrechtler, Jugendfachmann, Sozialpsychologe, Sprachforscher und Verfassungstheoretiker.

In großen und namhaften Bibliotheken stellten wir fest, daß der Autor Russell, dessen Werke dankenswerterweise aufbewahrt und registriert waren, kaum verlangt wurde. Standardwerke von ihm, gleich ob streng fachliche oder solche mit universellem Charakter wurden in 10 oder 15 Jahren ein halbes Dutzend Mal enthoben. Seit Beginn der Aldermaston-Märsche und der nachfolgenden Ostermärsche bei uns wußte die vielverlästerte Straße von ihm, vertrauten ihm und seinen Aufrufen Volksmassen, auch wenn die überwiegende Mehrheit nicht einmal die Titel seiner Schuften kannte, so nichtig diese Massenwirkung der Agitatorenpersönlichkeit Russell war - ebenso wichtig erscheint, daß die Creme unserer sogenannten Neuen Linken und all derer, die seit geraumer Zeit wieder Zukunft im Programm haben und nicht nur gequälte Rückschau, daß alle diese endlich Russell lesen. Russell gehört in die Hochschulseminare, zumal in jene, wo man nach fröhlicher Wissenschaft lechzt, weil man den formalen Idiotismus satt hat. Russell gehört in die Arbeiterbildungskurse, damit ein brauchbares, d.h. nicht bigottes ethisches Postulat neben der wirtschaftlichen Forderung steht. Russell könnte auch jenen müde oder noch wilder gewordenen Rebellen, denen Marcuse und Bakunin nicht weiterhalfen, nachdem sie von Habermas und Seifert im Stich gelassen, wohltuende Wechselbäder verschaffen, damit sie anschließend wieder imstande sind, die uralte Streitfrage Spontaneität oder Planung in Ruhe zu erörtern, ohne deshalb auf Taten zu verzichten. Das Lebenswerk des fast hundert Jahre alt Gewordenen wider diejenigen, für die ab vierzig alles doch eigentlich keinen Sinn mehr hat, und es widerlegt die rund Zwanzigjährigen, die da verkünden, hier und jetzt und sonst nie mehr müsse die Entscheidung fallen.

III

Mit 23 Jahren kam Russell, gemeinsam mit seiner ersten Frau, einer Quäkerin, nach Deutschland, um hier die berühmte sozialistische Bewegung zu studieren. Er las nicht nur „Das Kapital" und andere Schriften von Marx, sondern besuchte auch, fabischen Gewohnheiten gemäß, Versammlungen, Kundgebungen und Wohnquartiere von Arbeitern und Arbeiterführern. In vielem teilte er nicht die Marxschen Ansichten und Ziele, noch weniger aber die kleinbürgerlich-spießigen Tendenzen innerhalb der SPD. Das Kommunistische Manifest von 1848 beeindruckte ihn sehr, er hielt es für eines der besten Stücke politischer Prosa, die je hervorgebracht wurden und bis dahin für unübertroffen. Nach England zurückgekehrt, lobte er viele Programmpunkte der Sozialdemokraten und die relative Geschlossenheit ihrer Gewerkschaften (im Vergleich zu den Trade Unions erwähnte aber auch „scheußlich muffige" Biertischversammlungen, doktrinäres Sektierertum, Mangel an kulturellen Zielen, Widerspräche zwischen radikalen Parolen und milden Praktiken und last not least die unzulängliche politische Bündnisbereitschaft. Die Gesellschaft der Fabier war über seine Berichte und das Buch „Die deutsche Sozialdemokratie" (1896) keineswegs entzückt, die kritisch-ironischen Funken drohten überzuspringen. Russell, der junge Sozialist, wurde von bärtigen Männern und edel denkenden Damen heftig gerügt.

Wie die Positionen in der Fabier-Gesellschaft damals waren, erwähnt Margret Cole In einem Buche über die Webbs. Beatrice teilte ihre Umgebung in drei Gruppen ein: Die A-Leute wie z.B. Russell, Shaiv und G. D. H. Cole (aristokratisch, anarchisch, artistisch), die B-Leute wie z.B. sie selber, ihr Gatte Sidney und ihre liebsten Freunde (bürgerlich, bürokratisch, benevolent), schließlich Draufgänger wie Keir Hardie und Tom Mann, also Proletarier und Volkstribunen, die sie stets für gefährlich und unangenehm, ja für Querulanten hielt. Russell, der Aristokrat, Wissenschaftler und Künstler, keineswegs Anarchist, schätzte um so mehr die klugen und willensstarken Kräfte aus dem Volke und nur wenig die Tugendtanten, Sozialstatistiker und Bildungseiferer der Bourgeoisie. Auch Shaw, der Autoritäten auf dem Gebiete des Sozialismus abwertete, um sich selber dazu zu machen, scheint er politisch wenig zugetraut zu haben; (Shaw nahm später, anders als Russell, eine zweifelhafte Haltung zum Faschismus ein). Welche Menschen er schätzte, hat Russell einmal in einem Essay beschrieben: Unter den Dichtern Ernst Toller wegen seiner „Fähigkeit , fremdes Leid tief mitzufühlen", unter den Philosophen William James, der bei allem Ruhm natürlich blieb, demokratisch dachte, sich mit den Massen gleichsetzte, aber ein ehrfurchtgebietender Aristokrat des Herzens geblieben sei. Bei Naturwissenschaftlern imponierte ihm die Mischung von scharfem Verstand und kindlicher Einfalt, besonders bei Einstein, der stets uneigennützig gedacht und sich nie nach Vor- oder Nachteilen im sozialen Leben gerichtet habe. Ein herrliches Denkmal setzte er L. D. Morel, der einst als Angestellter einer Reederei in Liverpool von Greueln im Kongo gehört, die Öffentlichkeit alarmiert und darüber Stellung und Lebensunterhalt verloren hatte. Gegen die Proteste und Dementis aller europäischen Regierungen, so schrieb Russell, setzte sich Morel durch und bewirkte Untersuchungen und Reformen.

„Den neuen Ruhm, den er so erworben hatte, opferte er im Kriege dem pazifistischen Gedanken; er wurde... eingekerkert. Er lebte bis kurz nach der Bildung der ersten Labourregierung, aus der Ramsay McDonald ihn ausschloß, in der Hoffnung, dadurch seine eigene pazifistische Vergangenheit zu verschleiern. Solchen Menschen sind selten äußere Erfolge beschieden, aber sie erfüllen alle, die sie kennen, mit Liebe und Bewunderung, und das ist mehr, als jene empfangen, die weniger reinen Herzens sind."

In solchen Sätzen erschließt sich der ganze Russell, der mathematisch so exakte, philosophisch so skeptische, politisch oftmals enttäuschte, aber immer wieder schöpferische und aufrüttelnde Humanist. Nun versteht man, warum er um 1900 mit aller Heftigkeit gegen die imperialistischen Machenschaften in Südafrika, Mittelamerika und Fernost protestierte; warum er 1914/15 angesichts des Zusammenbruches der Arbeiterinternationale, der irren Kriegsbegeisterung in vielen Ländern und der für ihn (und für Lenin, Luxemburg, Pannekoek, Jaures) feststehenden Tatsache, daß sämtliche imperialistischen Staaten gleichermaßen am Massaker schuldig waren, öffentlich verkündete: „Besser vom Kaiser erobert, als dieser Krieg!" Hier war einer, der als roter Nichtchrist das Elend seiner geringsten Brüder zur Maxime seines Verhaltens machte, der wie Bebel lieber eine „Hottentottenwahl" verlor, als den Mordbrennereien der Schutztruppe in Südwest schweigend zuzustimmen und den Kredit des Sozialismus zu verspielen.

Russell zog, wie vor ihm Gladstone, wie später Aneurin Bevan, eine verlorene Wahl verlorenem Vertrauen und unzuverlässiger Anhängerschaft vor. Er, den viele exaltiert nannten, blieb einer der Klarsten zwischen 1914 und 1920.

Wegen Aufrufs zur Kriegsdienstverweigerung verlor er 1916 seine Professur in Cambridge und wurde zum ersten Male verhaftet. Zur gleichen Zeit saßen ungezählte andere aus gleichen Gründen anderswo hinter Gittern, gerieten in Strafbataillone, wurden füsiliert. Als der Krieg vorüber war, mißtraute er Wilsons 14 Punkten ebenso wie den Kriegsproklamationen der Mächte von 1914, auch dem Völkerbund. Er erklärte, die US-Armee könnte in Europa „zweifellos recht brauchbar sein, um Streikende einzuschüchtern, darin hätte sie schon „von zu Hause aus Übung". Das brachte ihm sechs Monate Haft ein — wegen „Beleidigung der britischen Regierung und der verbündeten Streitkräfte". In einem Brief aus dem Brixton-Gefängnis schrieb er 1918:

„Ich möchte in die Welt der Menschen ein kleines bißchen Weisheit zurückbringen. Es gibt davon etwas in der Welt, Heraklit, Spinoza und hier und dort ein Sprichwort. Einiges möchte ich hinzufügen, und wäre es auch nur sehr wenig ..."

Einerseits also das knallharte Urteil über die Rolle imperialistischer Diplomatie und Militärstrategie, andererseits der leise Ton der Menschlichkeit. Die gleichen Zeugnisse haben wir von amerikanischen, westeuropäischen und russischen Kämpfern jener Zeit. Dass Russells Kampf schon damals nicht völlig vergeblich war, steht dokumentarisch fest. Sein Freund John Maynard Keynes tat als Wirtschaftssachverständiger auf der Pariser Friedenskonferenz was er nur konnte, um das Diktat gegenüber dem Deutschen Reich nicht ins Uferlose auswuchern zu lassen. Ein weiterer Freundesdienst: Sir Stanley Unwin, der Verleger im Hause George Allen & Unwin Ltd., London, der Friedenskamerad der Kriegsjahre, brachte Russells Vorträge und Aufsätze unter dem Titel „Principles of Social Reconstruction" (1916) groß heraus. Unwin erweiterte damit Russells mathematischen und philosophischen Ruhm noch um den eines zukunftsweisenden Soziologen. Seine Schrift fand rund um den Globus ein Echo. Im Zweiten Weltkrieg schrieben E. H. Carr, Allan G. B. Fisber und Karl Mannheim nach Russells Vorbild die neueren Werke für das Nachkriegsprogramm.

IV

Zu Beginn der zwanziger Jahre war Russell kein Jüngling mehr, sondern annähernd fünfzig. Aber er machte einen völlig neuen Anfang. Der August 1914 war zum Trauma seines Lebens geworden, so wie der frühe Verlust der Eltern und die puritanische Erziehung danach. Der Erste Weltkrieg hatte ihn seelisch gequält und seinen Kurs als Ethosverkünder ein für allemal bestimmt. Jahrzehntelang, in Rede und Schrift, kam er immer wieder auf 1914/18 zurück. Seitdem waren alle Wissenschaften für ihn nur mehr Hilfsdisziplinen des Pazifismus, sein Gehirn ein Instrumentarium freiheitlicher sozialistischer Humanität, sein Herzschlag ein Seismograph für die Leiden der Völker. Es war selbstverständlich, dass es ihn 1920 nach dem Osten drängte, weil hier auf dramatische Weise Geschichte gemacht wurde. Als Mitglied einer Labourdelegation kam er nach Moskau und war „grenzenlos unglücklich", während seine Begleiter schon beim ersten Anblick roter Fahnen und Sowjetsterne in Sozi-Feiertagsbegeisterung verfielen, die Internationale anstimmten und alles ganz großartig fanden. Russell blieb auf Distanz, nüchtern wägend und wertend. Er beobachtete „alle Merkmale eines kraftvollen Beginnens", zwar „häßlich und brutal, aber voll von aufbauender Energie und voller Glauben". Er billigte den Bolschewiki historische Notwendigkeiten und von außen -bedingte Zwangsumstände zu, hielt aber vieles bei ihnen für zu puritanisch und utilitaristisch; die Gleichgültigkeit des reinen Zweckmäßigkeitsdenkens und des absoluten Zentralismus gegenüber „Liebe und Schönheit und Impulsivität" empfand er erstickend. Lenin, mit dem er 1920 eine lange Unterredung hatte, bezeichnete er später noch wiederholt als zynisch, skrupellos und theoretisch intransigent. Gladstone und Lenin, die er einmal verglich, wagten sich nach seiner Meinung auf Gebiete vor, auf denen sie sich „durch ihre Unwissenheit nur lächerlich machen konnten — Gladstone an die Bibelkritik, Lenin an die Philosophie".

Ob Lenin Schriftliches über Russell hinterließ, wissen wir nicht, ebensowenig, ob ihm seine philosophischen und mathematischen Werke bekannt waren. Vielleicht kannte Russell Lenins Materialismus und Empiriokritizismus, die große Abrechnung mit den Neopositivisten und Denkökonomen (Madi, Avenarius, Poincare), deren ideologischer Einfluß auf die II. Internationale ihn störte, denen aber Russell unbefangener gegenüberstand, weil ihre Fragestellungen auch zum Teil die seinigen waren. Russell, der Fachmann, vergaß in seinem Zorn, daß Lenin in erster Linie Politiker und aktiver Revolutionär war, sich aber daneben so eingehend wie möglich und mit nachweisbarer Gründlichkeit der alten und der neueren Philosophie und Physik widmete (eine für Russell normalerweise lobenswerte Eigenschaft bei Politikern). Proben seines philosophischen Nachlasses, gewisse Exzerpte, Glossen und Marginalien, eine etwa zu einer französischen Arbeit über Hegels Logik (Georges Noel, 1897) lassen sehr wohl erkennen, daß Lenin im Stillen und unbekannterweise viele Zweifel mit anderen Denkern der Jahrhundertwende teilte. Lenin hatte aber 1920 Wichtigeres zu tun, als elementare Unsicherheiten ausgerechnet mit einem britischen Adeligen zu besprechen, der ihm aus seiner Sicht günstigstenfalls als linksliberaler Globetrotter Fragen stellte, gefährlichstenfalls aber auch in Abstimmung mit dem Secret Service und mit Botschafter Bruce Lodz-hart. Insofern ist wenig aussagekräftig was Wladimir Iljitsch und Bertie damals voneinander hielten.

Wolfgang Franke erwähnt in seinem Buch „Chinas kulturelle Revolution — die Bewegung vom 4. Mai 1919" daß die intellektuelle Jugend Chinas während des Ersten Weitkrieges, über den Liberalismus Sun Yat-sens von 1911 hinausschreitend, eifrig Bergson, Dewey, Haeckel, Hitxley, Ibsen, Mill, Nietzsche und Russell diskutierte. Die amerikanische Kulturpropaganda begriff ab 1911, welche Chancen sich in China boten, nachdem Rußlands potemkinscher Nimbus durch die Niederlage gegenüber Japan dahin war. Von 1919 bis 1921 hielt der Philosoph John Dewey eine Reihe von Gastvorlesungen in Peking und anderswo, die auf Jahrzehnte hinaus Wirkung hatten. Deweys Pragmatismus und sein Programm, in kleinsten Nachbarschaften und Berufsgruppen Selbstverwaltung und Interessendemokratie zu entfalten, paßte sich der praktischen chinesischen Denkweise geschickt an und nutzte selbst die konfuzianischen Resteinflüsse noch aus. Ob nun die Regierung Großbritanniens als weitere interessierte Macht in Ostasien ebenfalls einen Kulturbotschafter entsandte oder ob Bertrand Russell aus eigenem Interesse, vielleicht um Dewey entgegenzutreten, gegen den er schon literarisch gestritten, nach China reiste, wissen wir nicht. Fest steht nur, daß Russell nach der Rückkehr aus Sowjetrußland und nach Fertigstellung seines Buches „Praxis und Theorie des Bolschewismus" noch im selben Jahre nach Peking kam und dort bis Ende 1921 als Gastprofessor blieb.

Für die nach Emanzipation, Revolution und Edukation dürstende Jugend Chinas war er genau der Lehrer und Freund, den sie suchte. Fand Dewey, der Amerikaner, Aufmerksamkeit und Widerhall, so Russell, der Engländer, flammende Begeisterung und legendäre Autorität.

„Als er sterbenskrank zu Bett lag, wollten chinesische Gelehrte die letzten Worte des Philosophen hören, und die russische Kolonie schickte Champagner und Schlagsahne ins Krankenhaus: man dürfe Russell nicht sterben lassen, weil er ,so nötig für die Revolution gebraucht wird'. Er starb nicht, sondern bekam Gelegenheit, voreilig auf ihn verfaßte Nachrufe zu lesen und ein Buch über China zu schreiben. „The Problem of China" hat in fast allen Urteilen und Prognosen der Nachprüfung durch die Geschichte standgehalten."

Stern sagt uns nicht, ob die Sekt spendierende und auf Revolution wartende russische Gemeinde damals in Peking aus weißen Emigranten bestand oder aus einer roten Etappenarmee, denn dann hätte man, je nachdem, in Russell höchst unterschiedliche Erwartungen gesetzt.

Russell erkannte 1921, die meisten erst sehr viel später, daß alle Großmächte Asien-Interessen haben, die mit Chinas Agrarreform, Industrialisierung und kultureller Revolution unvereinbar sind. Er verhehlte dabei nie seinen Respekt vor der alten Kultur des Landes und der Weisheit seiner Bauern, Bürger und Gelehrten, von denen viel zu lernen sei. Es gibt Wendungen in einigen Büchern von Russell, die wie hingetuscht sind und die chinesisch schmecken. Lin Yu-tang, der in Amerika „Weisheit des lächelnden Lebens" schrieb, erklärt in einem Kapitel, warum gerade Engländer und Chinesen einander gut verstehen können. Er scheint bei den Verallgemeinerungen Russell zum Modell genommen zu haben, der mit lächelnder Weisheit bestritt, anfangs der sechziger Jahre bei der Himalaja-Krise vermittelt zu haben. Dabei wußte alle Welt, daß er mit Chruschtschow, Nehru und Tschu En-lai gleichermaßen korrespondierte.

VI

Im Jahre 1950 erhielt Russell den Nobelpreis. Nicht den für den Frieden, denn den erhielt Ralph Bunche. Er erhielt ihn gemeinsam mit William Faulkner als Literaturpreis, und das erschien Großbritannien vielleicht etwas zu mager, zumal ihm wenig später der Order of Merit der britischen Krone verliehen wurde, die höchste Auszeichnung des Vereinigten Königreichs. Merry Old England wußte, was es seinem zugleich heitersten und ernstesten Essayisten schuldig war. Denn was ist, im Gegensatz zur modischen Essayistik unserer Feuiiletonisten, der Vorzug des englischen Essays? Worin besteht er? „Vermutlich in einer geglückten Verbindung von Folgerichtigkeit und Phantasie, in dem Vermögen, die Würde des abstrakten Gedankens mit der Grazie einer anschaulichen Metapher zu vereinigen. Hier bewährt sich eine Dualität, die in den Wappentieren des Löwen und des Einhorns ihre Sinnbilder findet. So majestätisch sind auf den britischen Inseln ein Vorgang oder eine Überlegung nie, daß sie sich nicht zuweilen, in bizarrem Rösselsprung, von der Erde zu erheben vermöchten, freilich nur, um alsbald wieder auf den Boden des gesunden Menschenverstandes zurückzukehren ..." (Hilde Spiel).

Die Kunst der Denk-Schrift, bei der der Autor denkt statt nur zu assoziieren, zu rnetaphysein oder gar zu „ahnen" und die den Leser zum Nach-Denken bewegt statt zum Deuteln oder gar zum Kreuzworträtseln, beherrschte Russell virtuos und souverän. Jeder Satz von ihm, jede Zeile, jede beiläufige Wendung bewiesen die Vertrautheit auch in formaler Hinsicht mit der großen Weltliteratur aller Zeiten und aller Zonen. Die Techniken des antiken Dialogs, die realistische Ironie der alten Fabeln, die Kunst der Gleichnisse und der Traktate, des seit Montaigne entwickelten Essays, des Aphorismus in seiner blitzenden Schärfe — und der auf Pascal, Hütten, Erasmus und Voltaire zurückführbaren Streit- und Enthüllungsschrift waren ihm wie kaum einem zweiten geläufig. Das schloß die Neigung zur gelegentlichen meditativen und intuitiven, er selber sagte „intellektuellen Phantasie" nicht aus. Sein Roß erhob sich oftmals beflügelt in den Äther, wenn er die Möglichkeiten humaner Wissenschaft und der aufs Erdenparadies hin orientierten Beseitigung gesellschaftlicher übel projizierte. Auch die Urgründe und die Welt der Mütter, die Raubaffenabstammung des bomo erectus waren ihm ständig bewußt, die Relikte aus grauen Vorzeiten, die Renommier-, Ramponier- und Duellierlust des bomo sapiens, dessen Sapientia er weidlich mißtraute, weil er seine Rückfallbereitschaft in den Blutkultus kannte, zumal und auch noch im Atomzeitalter. Die einzige Möglichkeit, mit Würde und ohne Angst fortzuschreiten sah er im vernunftgemäßen Progreß, sah er im rationalism.

VII

Im Hinblick auf ihre historische Rolle lassen sich Erasmus von Rotterdam (1466— 1536) und Bertrand Russell miteinander vergleichen. Beide standen auf der Höhe des Wissens ihrer Zeit, verfügten in souveräner Weise, auch in Randgebieten und Alltagsfragen, über die schriftlich tradierten Erfahrungen und Berichte verflossener Zeiten, wußten aber auch die Weisheiten und Sehnsüchte der Völker ihres Gesidltskreises wahrzunehmen und zu würdigen.

Beide waren glänzende, treffsichere Stilisten, in strengen Abhandlungen, in köstlichen Satiren und in der Unmenge ihrer Briefe. Suchte der eine (wie Spinoza, wie Fausius] nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, so der andere (wie Marx., wie Freud) danach, was das Leben und die menschliche Gesellschaft essentiell bewegt. Männer solchen Formats leben in vielen Dimensionen: in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; in höchsten Abstraktionen und in feinsten Sinneswahrnehmungen; in der nobelsten Elite sowohl als auch in den vielfältigen Erscheinungsformen der sogenannten breiten Masse. Sie antizipieren Zukünftiges, vermitteln den Lauten und Groben überhaupt erst den Stoff, um Reformation, Sozialismus oder Pazifismus begreifen und machen zu können, werden aber schnell von diesen mißdeutet, beargwöhnt, bekämpft, als Reaktionäre gebrandmarkt. Sie sind unentwegt bemüht, vom Oberkommenen Gutes zu bewahren, über Sekten und Flügel hinweg zu versöhnen, zwischen gewaltbereiten Feinden zu vermitteln und nach einem modus vivendi im dringendsten Sinne des Wortes zu suchen, werden jedoch dafür zu Utopisten und Weltverbesserern gestempelt, als angebliche Außenseiter, Vernunfthyänen und Fortschirittsgläubige belächelt, als Sendboten Satans beschimpft, als Dunkelmänner, Drahtzieher und Verführer der Jugend.

Der klassischen deutschen Arbeiterbewegung waren die Wechselwirkungen zwischen Geist und Tat, Persönlichkeit und Gesellschaft, Kriegwollen und Friedenschafien noch geläufig, denn auf manchem schlichten Küchentisch wurden vor fünfzig Jahren die nicht nur Ökonomistischen Bände der roten „Internationalen Bibliothek« gelesen, unter denen Kautskys „Thomas More und seine Utopie" einen bedeutsamen Rang und Massenwirkung hatte. Man lese darin den herrlichen Brief von Erasmus an Hütten, in dem er über Thomas More berichtet, seine Bedeutung herausstellt und in Beziehung zu persönlichsten Eigenarten bringt. Vieles davon träfe auch auf Bertrand Russell zu. Denn es gibt einen Humanismus, der über alle Horizonte, Zeitschwellen, Produktionsverhältnisse und Evolutionssprünge hinweg inhaltliche Ähnlichkeit und formale Kontinuität aufweist. Wir sollten daher nicht den Mut sinken lassen.

 

Bibliographie der wichtigsten Arbeiten Russells

  • German social democracy, 1896, 1965.

  • A critical exposition of the philosophy of Leibniz, 1900, 1937, frz. 1908.

  • The principles of mathematics, 1903, 1937, 1948.

  • Principia mathematica (mit A. N. Whltehead), 3 Bände 1910 bis 1913, neu 1925, deutscher Auszug: Einführung in die mathematische Logik, 1932.

  • Our knowledge of the external world, 1914, deutsch 1926.

  • Principles of social reconstruction, 1916, deutsch 1921.

  • Roads to freedom, 1918, deutsch 1922.

  • Mysticism ad logic and other essays. 1918, neu nach 1945, deutsch 1952: Mystizismus und Logik.

  • Introduction to mathematical philosophy, 1919 (im Gefängnis 1918 geschrieben), deutsch 1953: Einführung in die mathematische Philosophie (Obers. E. Gumbel).

  • The practice and theory of bolshevism, 1920, neu 1954.

  • The analysis of mind, 1921, deutsch 1927.

  • The problem of China (angeblich in China 1921 geschrieben) 1922, deutsch 1925.

  • The ABC of atoms, 1923, deutsch 1925.

  • ABC of relativity, deutsch: Das ABC der Relativität, 1928.

  • The prospects of industrial civilisation, 1923, deutsch 1928.

  • Icarus or the future of science, 1924, deutsch 1926.

  • What I believe, 1925.

  • Das Problem der Philosophie, 1926 und 1950 (The problem of philosophy, Repr. 1957).

  • On education especially in early childhood, 1926, deutsch: Erziehung vornehmlich in frühester Kindheit, 1948.

  • The analysis of matter, 1927, neu 1954, deutsch 1929.

  • An outline of philosophy, 1927, deutsch: Mensch und Welt, Grundriß einer Philosophie, 1930. Sceptical essays, 1928, deutsch: Wissen und Wahn, skeptische Essays (Übers. Karl Wolfskehl) 1930. Marriage and morals, 1929, deutsch: Ehe und Moral, 1930, 1951. The conquest of happiness, 1930, deutsch: Das Glück dieser Welt, 1951, Teils. 1955.

  • The scientific outlook, 1931, deutsch: Das naturwissenschaftliche Zeitalter, 1953; auszugsweise:

  • Forschung und Wirtschaft, Partner im Fortschritt, 1962. Freedom and organization 1814—1914, 1934, deutsch: Freiheit und Organisation 1814—1914.

  • Power, a new social analysis, 1938 (April 1937 abgeschlossen), deutsch: Macht, eine sozialkritische Studie, 1947 (Obers. Stephan Hermlin).

  • Inquiry into meaning and truth, 1940.

  • Physics and experience, 1945, deutsch: Physik und Erfahrung, 1948.

  • A history of western philosophy and its connection with political and social circumstances from the earliest times to the present day, 1946, deutsch: Philosophie des Abendlands, ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung, 1950.

  • Human knowledge, its scope and limits, 1948, deutsch: Das menschliche Wissen, 1952.

  • The impact of science on society, deutsch: Wissenschaft wandelt das Leben, 1953.

  • Unpopulär essays, 1950, deutsch: Unpopuläre Betrachtungen, 1951.

  • Macht und Persönlichkeit, 1950 und 1967 (Anthority and the individual, with a terminal essay:
    philosophy and politics, Repr. 1960). Satan in the suburbs, 1952, deutsch: Satan in den Vorstädten, 1953.

  • Human society in ethics and politics, 1954, deutsch: Dennoch siegt die Vernunft — der Mensch

  • im Kampf um sein Glück, 1956. Logic and knowledge, essays 1901—1950, 1956, New York 1968.

  • Why I am not a Christian and other essays on religion and related subjects, New York 1956, deutsch: Warum ich kein Christ bin, 1963. Portraits from memory and other essays, 1956. My philosophical development, 1959.

  • Wisdom of the west, a historical survey of western philosophy in its social and political setting, 1959, deutsch: Denker des Abendlandes, 1962.

  • Common sense and nuclear warfare, 1959, deutsch: Vernunft und Atomkrieg, 1959.

  • Political ideals, 1963.

  • The autobiography of Bertrand Russell, Bd. l, 1967.

  • Plädoyer für einen Kriegsverbrecherprozeß, Manifeste zum Vietnamkrieg, 2. Aufl. 1968.

 

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